Gegen die Abschottungspolitik der Schweiz

20120706-212414.jpgDie Erinnerung an ihr humanitäres Engagement ist heute wichtiger denn je: Vor 40 Jahren starb die als «Flüchtlingsmutter» bekannte Gertrud Kurz. Zeit ihres Lebens (1890-1972) kämpfte sie, emotional und politisch, für eine globale Gerechtigkeit. Auch heute ist der Boden, auf dem Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit gedeihen, immer noch fruchtbar in der Schweiz. Ein Gedenken an Gertrud Kurz kann deshalb nicht ohne kritischen Bezug zur aktuellen Asylpolitik bleiben.

Jürg Meyer ist langjähriges Mitglied des Stiftungsrates der Stiftung Gertrud Kurz in Bern. Diese kümmert sich nicht nur um die Erinnerung an eine der bekanntesten humanitären Helferinnen der Schweiz. Sie unterstützt auch aktuelle Projekte im Bereich der Flüchtlingshilfe. «Zum Beispiel die
Integration von Sans-Papiers», sagt Jürg Meyer. Die Befähigung, sich in eine gesellschaftliche Ordnung einfügen zu können und sich darin zurecht zu finden, sei auch für solche Menschen wichtig, die nicht hier bleiben könnten.

Meyer spricht von einer Eskalation in der Flüchtlingspolitik und spielt damit auf die jüngsten Verschärfungen des Asylrechts durch die eidgenössischen Räte an. «Die Schweiz braucht heute mehr denn je die Erinnerung an Gertrud Kurz», ist er überzeugt. Ist denn die Erinnerung an die
bekannte «Flüchtingsmutter» verblasst? «Nein», meint Meyer, in breiten Kreisen sei ihr Name und ihr Engagement während und nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt. Was er aber bemängelt, ist die Reduktion der historischen Figur auf den Aspekt der emotionalen Hilfe. «Die politische
Dimension ihres Handelns wird vernachlässigt, der Bezug zur Gegenwart unterbleibt.»

Gertrud Kurz hätte heute wohl nicht anders gehandelt als damals und gegen die inhumane Politik rebelliert. Kurz wuchs als Tochter eines Fabrikanten und Oberrichters in bürgerlichen Verhältnissen im Appenzeller Vorderland auf – einer Gegend, die mit dem Judenretter Carl Lutz aus Walzenhausen und dem «Armeniervater» Jakob Künzler aus Hundwil in gewisser Hinsicht als das genealogische Zentrum der humanitären Hilfe in der Schweiz gelten darf.

Ihr päteres Wohnhaus am Sandrain in Bern war offen für Menschen am Rand der Gesellschaft. Sie machte in der «Kreuzritter»-Friedensbewegung mit, und als der Faschismus in den 1930er-Jahren immer größere Fluchtströme erzeugte, fand sie ihr Hauptbetätigungsfeld in der Betreuung
von Flüchtlingen und Asylsuchenden. Damit stand sie quer zur offiziellen Abschottungspolitik der
Schweiz, die wie heute von der Rechten betrieben wurde. Mit ihren impulsiven Direktinterventionen bei der Fremdenpolizei zugunsten von einzelnen Flüchtlingen machte sie sich in der Bürokratie nicht beliebt.

Doch sie respektierte den bürgerlichen Konsens und vermied die Konfrontation mit den Behörden. Sie setzte auf individuelles Mitgefühl und Menschlichkeit, was ihr bald große Anerkennung in breiten Kreisen einbrachte. Kurz pflegte Kontakte zu religiös Engagierten wie Pfarrer Paul Vogt oder dem Theologen Karl Barth, die ebenfalls im Dissens zur offiziellen Politik standen. Das Netzwerk, das sie aufbaute, legte den Grundstein für ihr eigenes Hilfswerk, den Christlichen Friedensdienst (cfd), der 1947 gegründet wurde und noch heute existiert.

Legendär wurde ihr Besuch bei Bundesrat Eduard von Steiger im Jahr 1942 nach der totalen Grenzschließung. Sie erreichte dabei eine vorübergehende Lockerung der inhumanen Rückweisungspraxis vor allem gegenüber jüdischen Flüchtlingen. In zahlreichen Vorträgen berichtete sie über die Judenverfolgung in Europa und forderte eine weniger restriktive Flüchtlingspolitik. Nach dem Krieg engagierte sich Kurz in der Friedens- und Entwicklungsbewegung. In den 60er-Jahren setzte sie sich für algerische Flüchtlinge ein.

Im konsequenten Einsatz für die Ausgegrenzten, die unsichtbar Gebliebenen und die Menschen ohne Stimme liegt die Aktualität von Gertrud Kurz begründet. Kurz habe zeit ihres Lebens für eine Vision einer globalen Gerechtigkeit gekämpft, halten Neela Chatterjee und Rohit Jain, die beiden
Co-PräsidentInnen der Stiftung, in den jüngsten Mitteilungen fest. Und sie verweisen darauf, dass sich im Grund nicht viel geändert hat: «Die Abwehr des Anderen ist fundamental in unserem nationalstaatlichen Denken angelegt. Dies ist der Boden, auf dem Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit überhaupt gedeihen können.» In einer Welt von transnationaler Mobilität müssten neue Vorstellungen davon entwickelt werden, wie Bewegungsfreiheit, politische Rechte
und Staatsbürgerschaften außerhalb nationalstaatlicher Kategorien gestaltet und organisiert werden können.

Gertrud Kurz erhielt für ihr humanitäres Engagement 1956 das Ehrenzeichen des deutschen Roten Kreuzes. Vier Jahre später verlieh ihr die Universität Zürich den Ehrendoktor in Theologie. 1965 wurde sie auch mit der Albert-Schweitzer-Medaille ausgezeichnet. Ein Gedenken an Gertrud Kurz kann nicht ohne kritischen Bezug zur aktuellen Asylpolitik bleiben. Ist es deshalb so still um «Mutter Kurz», wie sie einst von ihren Schützlingen genannt wurde?

Autor: Ralph Hug, WOZ und Pressebüro St.Gallen