Glaubenssache

seemoz-TransithölleNicht erschrecken – hier geht’s nicht um Religion. Hier geht’s nur um eine einzige Glaubensfrage: Glaubt man, dass auf Dauer zwei zweispurige Tunnels jeweils nur auf einer Spur befahren werden. Auch, wenn sich vor den Tunnels der Ferienverkehr kilometerweit zurück staut? Darauf lässt sich die Schweizer Diskussion um den Bau eines zweiten Gotthard-Straßentunnels reduzieren.

Natürlich geht es bei der Volksabstimmung am 28. Februar in der Schweiz offiziell nicht um religiöse Befindlichkeiten, sondern um die Lösung des Problems, wie man den Verkehr bewältigt, wenn in etwa zehn Jahren der 1980 in Betrieb genommene Gotthardstraßentunnel saniert werden muss. Dass der Tunnel bis dahin in die Jahre gekommen ist und einer Erneuerung bedarf, ist unstrittig.

Sperren und verladen oder Neubau?

Die Frage ist nur: Wie soll das geschehen? Indem man den Tunnel für etwa zwei bis drei Jahre sperrt und den Verkehr so lange über die Passstraße leitet und den Großteil der Autos auf Züge verlädt und so durch einen der beiden Bahntunnel durch den Berg bringt? Oder indem man zuvor einen zweiten Tunnel baut und während der Sperrung des sanierungsbedürftigen Tunnels den Verkehr durch den neuen leitet?

Und falls man sich für diese Neubau-Lösung entscheidet: Was passiert, wenn der alte Tunnel wieder offen ist? Hat dann der Verkehr künftig freie Fahrt durch zwei Tunnels? Stopp! Was viele Touristen und noch mehr Transportunternehmen in Freudentaumel versetzen würde, geht eigentlich gar nicht. Denn da gibt es in der Schweizer Verfassung die verpflichtende Vorschrift, dass die Kapazität des Gotthardtunnels nicht erhöht werden darf. Dieser „Alpenschutzartikel“ wurde auf Grund einer Volksinitiative eingefügt und soll verhindern, dass die Alpen zubetoniert werden.

Der Scheich von Katar

Deshalb versprechen Bundesregierung und Bundesparlament, dass nach der Wiedereröffnung des alten Tunnels in beiden Tunneln nur je eine Fahrspur für den Verkehr geöffnet werde. Und hier stellt sich eben die Frage: Glaubt man, dass das als Dauerlösung erhalten bleibt – auch wenn es per Gesetz festgeschrieben würde – oder glaubt man’s nicht?

Der ehemalige Schweizer Verkehrsminister Moritz Leuenberger (SP) glaubt es nicht. In einem Interview mit dem Zürcher „Tagesanzeiger“ antwortete er auf die Frage, ob er es für möglich halte, dass der Bundesrat (Regierung) per Verordnung alle vier Spuren frei gäbe: „Nehmen wir mal an, es hat 20 Kilometer Stau, und der Scheich von Katar sitzt im hintersten Wagen. Und dann heißt es, der muss aus medizinischen Gründen so schnell wie möglich durch den Tunnel. Da ist die zweite Spur dann auf einmal schnell freigegeben.“ Leuenberger spielt damit darauf an, dass kürzlich das Nachtlandeverbot in Zürich genau wegen dieses Scheichs mit derselben Begründung aufgehoben wurde.

Nach Leuenbergers Meinung verstößt der Bau gegen die Verfassung, weil auf Dauer nicht sichergestellt wäre, dass die Verkehrskapazitäten nicht erhöht würden. Fast 87 Prozent der Leser des „Tagesanzeigers“ glaubten den Beteuerungen des Bundesrates auch nicht.

Tessin dafür, Uri dagegen

Die Zweifel nähren dabei auch die Unterstützer des Tunnelneubaus. Dazu gehört vor allem die Lastwagenlobby. Die aber will natürlich nicht auf Dauer weiterhin an verkehrsreichen Tagen nur per „Tropfenzähler“ durch die Tunnel fahren dürfen. Das wollen auch die Tessiner nicht, die Angst haben, jahrelang vom Rest der Schweiz abgekoppelt zu werden, wenn der Straßentunnel wegen der Sanierung geschlossen wird. Dagegen will der Kanton am Nordportal des Tunnels, nämlich Uri, nichts von einer weiteren Röhre durch den Berg wissen. Die Urner haben ein solches Vorhaben schon mehrmals abgelehnt.

Die Urner sitzen so langsam auch vor einem Gotthard, der immer mehr einem Emmentaler Käse ähnelt: nur echt mit großen Löchern. Derzeit sind es schon drei: der Gotthard-Scheiteltunnel der Bahn von 1882, der 1980 eröffnete Straßentunnel und der neue Bahntunnel am Fuß des Berges, der im Sommer 2016 eröffnet wird. Genau die beiden Bahntunnel kommen von Seiten der Gegner des Tunnelneubaus ins Spiel. Sie würden es vorziehen, die Autos auf Züge zu verladen und sie so durch einen der beiden Bahntunnel zu befördern.

Kosten nicht ausschlaggebend

Eine solche Lösung würde samt Sanierung des alten Straßentunnels laut bundesrätlicher Botschaft 1,2 bis 2 Milliarden Franken kosten – je nach Ausgestaltung des Bahntransports samt zugehöriger Warteräume (vor allem für Lastwagen). Den Bau eines zweiten Tunnels samt Sanierung des alten, veranschlagt die Regierung mit 2,8 Milliarden Franken.

Das Geld spielt aber in der Diskussion bisher keine Rolle – zentral ist die Frage des Alpenschutzes bzw. des Verkehrsaufkommens. Dabei spielt die weit verbreitete Ablehnung der EU den Alpenschützern in die Hände. Viele SchweizerInnen vertreten die Meinung, der Gotthard-Tunnel diene vor allem dem Lastwagentransitverkehr aus dem Norden der EU nach Italien – und dieser Verkehr überrolle die Schweiz und würde noch mehr zunehmen, gäbe es einen zweiten Tunnel.

Lieselotte Schiesser