Katastrophale Flüchtlingspolitik

Ein junger Eritreer wird trotz bester Integrationsaussichten ausgewiesen und muss wahrscheinlich bald die Schweiz verlassen. Wohin dann? Er hat drei Möglichkeiten, aber keine davon wird dazu beitragen, ihm ein halbwegs menschenwürdiges Leben zu garantieren. Der Schriftsteller Jochen Kelter ist sein Pate. Hier sein Bericht zur Lage, in der sich der Geflüchtete derzeit befindet.

B.’s Asylantrag war im März 2017 von den Schweizer Behörden abgelehnt worden. In Panik tauchte der junge Eritreer darauf nach Deutschland ab. Es gelang uns, der Thurgauer Flüchtlingshilfe, ihn per Bus aus Norddeutschland und unbemerkt über die Grenze zurück zu lotsen. Der Anwalt des HEKS (Hilfswerk der Evangelischen Kirche der Schweiz) legte beim zuständigen Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen Berufung ein. Ende November, ein Jahr und acht Monate später, traf die endgültige Ablehnung ein. B. hat nun drei gleich abschreckende Möglichkeiten: die Rückkehr nach Eritrea, das erneute Untertauchen im Ausland und die „Nothilfe“.

Erstere kommt für ihn nicht in Frage: Keiner weiß, was passieren wird, wenn er eritreischen Boden betritt. Die Schweiz unterhält dort noch nicht mal eine diplomatische Vertretung. Wer eine monatelange gefährliche Reise durch Äthiopien, den Sudan, Libyen und ganz Italien, nachdem er in Mittelmeer aus Seenot gerettet wurde, bis nach Chiasso hinter sich hat, will nicht zurückkehren. Dazu mag kommen, dass er als Gescheiterter in sein Dorf zurückkäme, wo die Familie und Verwandte viel Geld für die Reise zusammengeklaubt haben.

Die zweite ist nicht besser: Im Ausland landet er auf der Straße, unter Dealern oder wird von der Polizei aufgegriffen und zurückgeschafft. Die Nothilfe bedeutet, auf unbestimmte Zeit in einer kantonalen Massenunterkunft ohne Sozial- , nur noch mit Sachhilfe (Nahrung, Kleidung) zu landen. Dort könnte er immerhin nach fünf Jahren ununterbrochenem Aufenthalt in der Schweiz ein neues Bleibegesuch stellen. Wenn er aus dem Ausland zurückgebracht würde, wäre auch diese unsichere Möglichkeit dahin.

B. ist im Sommer 2015 als Minderjähriger im Empfangszentrum des Bundes in Kreuzlingen angekommen und hatte dort, weil er minderjährig war, sehr schnell sein erstes Interview. Das zweite folgte sehr viel später in Bern. In den ersten beiden Jahren hatte er in seiner Gemeinde zweimal wöchentlich eine Stunde Deutschunterricht, und bei uns im Lokal der AGAThu (Arbeitsgruppe für Asylsuchende Thurgau) an einem Abend in der Woche eineinhalb Stunden. Er konnte zu wenig Deutsch für Arbeitseinsätze oder eine Schnupperlehre. Also machte er sich neben dem Fußballspielen in seiner Wohngemeinde Salenstein am Untersee nützlich, etwa beim Schultheater.

In der Flüchtlingshilfe bin ich seit Winter 2017 sein Pate und habe allmählich sein Vertrauen gewonnen – er ist ein Bub aus einem Dorf im Hochland. Wir haben über sein Land, seine Familie und die Schweiz gesprochen. Geflohen sei er, weil ihn die Polizei auf dem Heimweg von seinem Schulort in sein Heimatdorf abgegriffen habe. Sie glaubte, er wolle sich ins nicht weite entfernte Äthiopien absetzen und verhaftete ihn. Gegen Kaution und das schriftliche Versprechen, sich in den nächsten sechs Monaten nicht vom Fleck zu rühren, kam er frei, wartete die Frist ab und floh.

Im Sommer 2017 begannen die kantonalen Integrationskurse. Der junge Mann blühte auf, er ging an vier Tagen pro Woche in die Schule, zuerst in Weinfelden, seither in Arbon. Bereits im Winter stieg er in den Integrationskurs zwei auf, der dritte mit Schwerpunkt Berufsvorbereitung würde im Februar nächsten Jahres beginnen. Er absolvierte Praktika, Schnupperlehren in einer Schreinerei und einem Metallbaubetrieb, im Herbst einen Ernteeinsatz auf dem Seerücken. Er bekam für seinen Arbeitseinsatz, seine Pünktlichkeit, Freundlichkeit und Zurückhaltung immer nur gute bis beste Beurteilungen und Testate. Zuletzt hatte er für das kommende Jahr eine Lehrstelle in Aussicht.

Und nun findet dieser nach zähem Anfang, an dem er nicht schuld ist, erfolgreiche Integrationsweg also ein abruptes Ende. B. wird Anfang Januar einundzwanzig Jahre alt. Er wird dreieinhalb der entscheidenden Jahre seines Lebens verloren haben. Weil die Justiz sich keinen Deut um seinen Integrationsweg in der Schweiz kümmert. Weil die Politik ihr vorgegeben hat, dafür zu sorgen, dass möglichst viele der viel zu vielen Eritreer die Schweiz verlassen sollen (ja, es gibt sicher solche, die hier ein besseres Leben ohne eigenes Zutun und von der Sozialhilfe erwarten).

Ohne auf den einzelnen Menschen zu schauen, obwohl doch genau das in der UNO-Menschenrechtserklärung von 1948 und anderen hehren internationalen Manifesten und Konventionen gefordert wird. Sein eritreischer Freund Jonas hatte vielleicht das Glück, ein wenig früher in die Schweiz zu kommen. Er hat einen ähnlichen Weg gemacht und ist anerkannter Flüchtling. B. vielleicht das Pech, dass sein Fall zu spät auf dem Pult irgendeines Richters landete. Das ist pure Willkür. Die Zivilgesellschaft, wir alle und die Thurgauer Behörden sind aufgerufen, sich diesem Willkürurteil nicht zu beugen, sondern dafür zu sorgen, dass B. in diesem Land bleiben darf. Alles andere wäre ein politischer ebenso wie ein Justizskandal. Sein Aufenthalt in seiner Wohngemeinde endet am 3. Januar 2019. Noch hat sich B. nicht für eine seiner drei schlechten Zukunftsperspektiven entschieden. Noch bleibt ein wenig Zeit. Wir werden alles tun, um ihn schulisch und materiell zu unterstützen, sollte er sich für den noch besten der schlechten Wege in die Zukunft, die Nothilfe, entscheiden.

Jochen Kelter