Kreuzlingen sucht den Superstar

Nein, Dieter Bohlen wird nicht in Kreuzlingen aufschlagen, um den besten, schönsten, schrägsten Vogel zu wählen. Hier geht es um die Wahl des Stadtoberhauptes, des Stadtpräsidenten – das eidgenössische Gegenstück zum deutschen Oberbürgermeister. Am 26. November sind die Kreuzlinger WählerInnen aufgefordert, den/die NachfolgerIn des überraschend aus dem Amt geschiedenen Andreas Netzle (parteilos) zu wählen.

Wahlen in Kreuzlingen haben besondere Gesetze. Das fängt schon damit an, dass die Mehrheit der Kreuzlinger keine Schweizer und damit nicht wahlberechtigt sind. Von knapp 21 000 Einwohnern dürfen nur rund 8450 wählen. Davon werden wohl im günstigsten Fall höchstens 55 Prozent von ihrem Wahlrecht auch Gebrauch machen. Dann legen noch etliche davon leere oder ungültige Wahlzettel in die Urne – und am Schluss reichen 2500 Stimmen locker, um Stadtpräsident zu werden.

Als Netzle, damals noch Chefredakteur der „Thurgauer Zeitung“ und ohne jede Erfahrung in einem politischen Amt, vor zehn Jahren gewählt wurde, reichten ihm im 1. Wahlgang 2151 Stimmen. Der Kandidat auf Rang 2 kam nur noch auf rund 550 Stimmen. Womit der erwartete zweite Wahlgang ausfiel. Dass Netzle glorreich gewählt wurde, war auch eine Folge davon, dass sich die Kreuzlinger Parteien gegenseitig nicht die Butter aufs Brot gönnen und keine strategischen Partnerschaften eingingen.

Sechs wollen

Die zahlenmäßige Ausgangslage war damals wie heute: Sechs Kandidierende woll(t)en den Posten des Stadtoberhauptes. Damals wie heute traten/treten Sozialdemokraten (SP), Christdemokraten (CVP) und Freisinnige (FDP) mit je einem offiziellen Kandidaten an (Die FDP hatte 2007 noch einen „wilden“ FDP-Kandidaten zu verkraften). 2017 heißen diese offiziell nominierten Kandidierenden Edith Wohlfender, Ernst Zülle und Alexander Salzmann.

War damals Netzle der nicht chancenlose Parteilose, so ist es dieses Mal der Stadtschreiber Thomas Niederberger. („Stadtschreiber“ ist der Titel des Chefs der städtischen Verwaltung). Ebenfalls parteilos ist Jörg Stehrenberger, der etwa gleich viele Wahlchancen haben dürfte wie vor zehn Jahren Gaby Coray (damals bekannt dafür, für jeden freien Posten zu kandidieren): keine. Neu ist dieses Jahr, dass die SVP mit dem ehemaligen Stadtrat (Exekutive) David Blatter nach dem Posten des Stadtpräsidenten greift.

Viele Wähler, eher bescheidene Chancen

Wählerstärkste Partei bei den letzten Gemeinderatswahlen (Legislative/Parlament) war die SP, gefolgt von FDP, SVP, CVP, EVP (Evangelische Volkspartei) und Freier Liste – der Kreuzlinger Variante der Grünen – und einem Vertreter der Liste Rägeboge. Obwohl die SP die stärkste Partei ist, sind die Wahlchancen von Edith Wohlfender, Geschäftsführerin des Berufsverbandes der Pflegefachfrauen und -männer TG/SG/AR/AI, gering, dass sie Stadtoberhaupt wird. Auch wenn eine Stadtpräsidentin im Thurgau eine Premiere wäre, wird man so etwas nicht, wenn man keine Stimmen aus dem bürgerlichen Lager bekommt. Das Wählerpotential nur aus dem eigenen Lager reicht nicht.

Viele Stimmen aus dem, was in der Schweiz „bürgerliche Parteien“ heißt, also vor allem CVP, FDP und EVP, kann Edith Wohlfender aber nicht erwarten, da zwei dieser Parteien mit eigenen Kandidaten antreten. Kommt hinzu, dass CVP-Kandidat und Bau-Stadtrat Ernst Zülle als Gewerkschaftssekretär den christlichsozialen Flügel seiner Partei abdeckt und auch für „bürgerlichere“ Sozialdemokraten und Grüne wählbar ist.

Ein „Kontrolleur“, ein noch Parteiloser und ein Möchtegern-Rückkehrer

FDP-Kandidat Alexander Salzmann, Revisor bei einer Versicherung, ist Kreuzlinger Zeit seines Lebens. Aber es gibt „Ur-Kreuzlinger“, die nicht vergessen wollen, dass er als Deutscher auf die Welt kam und erst 2009 „richtiger“ Schweizer wurde. Zudem hat er einen Ruf als „ewiger Kontrolleur“ – man könnte auch sagen: Besserwisser. Auch wenn er als Schwerpunkt die Wirtschaftsförderung nennt, haben sich Gewerbe- und Arbeitgeberverband Kreuzlingen nicht für ihn, sondern für Stadtschreiber Thomas Niederberger ausgesprochen.

Dieser – ein Verwaltungsmann seit Beginn seiner beruflichen Laufbahn – tritt zwar als Parteiloser an, will aber nach der Wahl entweder der CVP oder der FDP beitreten. Welcher genau, lässt er offen. Wer ihn also wählt, erfährt erst hinterher, ob er sich nun für einen CVP- oder FDP-Mann entschieden hat. Klar, vor der Wahl wäre er ja von diesen Parteien nicht als Kandidat nominiert worden, weil sie bereits eigene Kandidaten hatten. Man macht sich ja nicht innerhalb der eigenen Partei Konkurrenz.

In die städtische Exekutive zurück will SVP-Mann David Blatter, derzeit Gemeindeschreiber in Langrickenbach. Er war 2007 als erster SVP-Vertreter in den Stadtrat gewählt worden. 2014 verzichtete er auf eine erneute Kandidatur und wollte in die Privatwirtschaft. Es wurde dann aber die Langrickenbacher Verwaltung. 2015 kandidierte er erfolglos als Kreuzlinger Schulpräsident und 2016 war er der erfolglose Wunschkandidat konservativer Katholiken für die Verwaltung der katholischen Kirchgemeinde. Nun probiert er’s mit dem Stadtpräsidium. Das wird allerdings schwierig, weil er das gleiche Problem haben wird, wie Edith Wohlfender: Das Stimmenreservoir der eigenen Partei ist zu klein, um über 50 Prozent der Stimmen zu erreichen und andere Parteien werden der SVP nicht als Stimmlieferanten dienen wollen.

Leserbriefe und Knüppel

Der Wahlkampf kommt so langsam in die Gänge. Nicht nur veröffentlichen die Lokalblätter Kandidaten-Portraits und am 31. Oktober ist ein Podiumsgespräch mit allen Kandidierenden angesetzt, die Kandidierenden mischen sich auch unters „Volk“, wann es eben geht. Salzmann hat zudem eine gut orchestrierte Leserbriefschreiber-Gruppe hinter sich und im Gemeinderat beginnt man dem politischen Gegner Knüppel zwischen die Beine zu werfen. So muss Baustadtrat und CVP-Kandidat Zülle vorläufig auf eine gewünschte zusätzliche Stabsstelle in der Bauverwaltung verzichten. Gleichzeitig verzichtete die FDP – ganz untypisch – dieses Jahr, trotz sehr guter Finanzaussichten der Stadt, auf ihre Standardforderung nach einer Steuersenkung.

Viele Kreuzlinger wünschen sich nicht nur einen fachlich kompetenten Stadtpräsidenten, sondern auch einen, der auf die Menschen zugehen und Allianzen schmieden kann. Netzle galt in dieser Hinsicht als etwas hölzern. Schon 2008 spottete eine Theatergruppe, Netzle glaube wohl, E-Mails könnten persönliche Gespräche ersetzen. Trotzdem verblüffte er alle, als er im Frühsommer Knall auf Fall seinen Wechsel zur Bau-Generalunternehmung HRS bekannt gab. Dort ist er jetzt PR-Chef und darf versuchen, beispielsweise den Arbonern den Bau von zwei 40 Meter hohen Hochhäusern direkt am Seeufer schmackhaft zu machen.

Im Hinblick auf die Nachfolge-KandidatInnen sollte man aber nicht vergessen, dass es sich auch finanziell lohnt, Stadtpräsident zu werden. Bisher schlug das Stadtpräsidentengehalt mit etwa 235.000 Franken jährlich zu Buche.

Lieselotte Schiesser