Lesungen in historischen Häusern von Tägerwilen bis Steckborn
Das Literaturwochenende am Untersee feiert ein kleines Jubiläum: Das Fest der Bücher und Begegnungen findet am zweiten Septemberwochenende 2012 bereits zum fünften Mal statt. Wieder sind Autoren, Schauspieler und Journalisten in den Wohnstuben historischer Häuser von Tägerwilen bis Steckborn zu erleben. Es wird fünf Lesungen geben, die jeweils etwa eine Stunde dauern. Die Anfangszeiten sind so gestaffelt, dass alle Veranstaltungen besucht werden können: Am 8. und 9. September
Frida Kahlo, die weltweit bekannte deutsch-mexikanische Malerin, hat das letzte vor ihrem Tod entstandene Gemälde „Viva la Vida“ – es lebe das Leben“ betitelt. Es zeigt pralle rotfleischige Wassermelonen vor einem blauen Himmel. Trotz schwerster Schicksalsschläge entdeckte die faszinierende Künstlerin malend ihre eigene Welt. Erst vor kurzem wurde das Tagebuch ihrer letzten Lebensjahre publiziert. Leopold Huber, Gründer des See-Burgtheaters Kreuzlingen, verfasste aus diesem Stoff ein Ein-Frau-Stück, das im Sommer im See-Park aufgeführt wurde. Astrid Keller, Schauspielerin, Regisseurin und Co-Leiterin des See-Burgtheaters, wird am Samstag ab 17 Uhr im Foyer des romantischen Turmhofs in Steckborn lesen. In „Frida – Viva la Vida“ wird deutlich: Die Sprache der Malerin ist so lebendig wie ihre Bilder.
Am Samstagabend um 20 Uhr entführt der Schauspieler Hans Helmut Straub seine Zuhörer in die Welt des Theaters. Straub war bis 2006 Ensemblemitglied am Stadttheater Konstanz. Er liest im „Haus zum Gries“ in Berlingen aus „Höchste Zeit“ (1987), dem überbordenden Shakespeare-Roman des niederländischen Schriftstellers Harry Mulisch: Ein alternder Shakespeare-Darsteller kann zwischen dem realen Leben und der Fiktion von Wirklichkeit auf der Bühne nicht mehr klar unterscheiden. Unter deutscher Besatzung war er Truppenbetreuer. Nun holt ihn seine Vergangenheit ein. 1961 war Mulisch als Berichterstatter beim Eichmann-Prozess in Jerusalem zugelassen. Daraus entstand seine preisgekrönte Reportage „Strafsache 40/61“. Seit 1962 war er mit Hannah Arendt befreundet, die er beim Prozess kennen gelernt hatte. Danach schrieb er noch zwei weltweit beachtete Romane „Das Attentat“ (1982) und „Die Entdeckung des Himmels“ (1992) sowie zahlreiche Kurzgeschichten und Theaterstücke. Als Harry Mulisch im Oktober 2010 starb, ist er von der FAZ als „Weltweiser“ bezeichnet worden.
Zur Matinée, sonntags um 11 Uhr, liest die im Thurgau lebende Autorin Andrea Gerster im „Altes Debrunner-Haus“ in Ermatingen aus ihrem Romanprojekt „Ganz oben“. Für dieses Projekt erhielt sie 2011 den Förderbeitrag Literatur Kanton Thurgau sowie den Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia. „Ganz oben“ erscheint im Frühjahr 2013 im Lenos Verlag, Basel: Olivier Kamm, ein beruflicher Senkrechtstarter, findet sich plötzlich in einem geschlossenen Raum wieder und glaubt, er sitze in einer Gefängniszelle. Sein bisheriges Leben wird in einzelnen Episoden aufgerollt. Die Grenzen zwischen wahr und falsch verschieben sich, die Geschichte wird zunehmend kafkaesk. Die vielfach preisgekrönte Autorin lebt und arbeitet in der Schweiz, derzeit erscheinen von ihr ein bis zwei Bücher pro Jahr. Im März 2013 kommt Andrea Gersters erstes Theaterstück „Der Zwerg in mir“ in der Kellerbühne St. Gallen zur Uraufführung.
Am Sonntagnachmittag um 17 Uhr lohnt es sich, ins Schlösschen Breitenstein nach Ermatingen zu kommen; Der inzwischen auch in Deutschland bekannte Autor Peter Stamm (s. Foto) liest aus seinem Erzählband „Seerücken“ (2011). Sein Schreibstil ist alles andere als gefühlig, sondern schlicht, karg und lakonisch verknappend. Als Autor hat er das Seziermesser stets in der Hand. Er schält den Kern der Dinge heraus, auch wenn es weh tut. Beim Schreiben seines Romans „Sieben Jahre“ habe er sich die Frage gestellt: „Jemand liebt mich, den ich nicht liebe… was passiert da?“ – Aufsehen erregte er mit seinem ersten Roman „Agnes“, der ab 2014 in Deutschland zur Pflichtlektüre aller AbiturientInnen im Fach Deutsch zählen wird. Er beginnt mit dem kurzen Satz: „Agnes ist tot“ und thematisiert Alltagsnöte in großstädtischer Umgebung: Einsamkeit, Beziehungsunfähigkeit und Entfremdung. Im Dezember wird Peter Stamm für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk mit dem Bodensee-Literaturpreis der Stadt Überlingen ausgezeichnet, der vor ihm Martin Walser, Golo Mann, Christian Uetz u.a. verliehen wurde. Stamm lebt in Winterthur im Thurgau. Nach einer Lehre als Buchhalter studierte er einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie. Seit 1990 ist er als freier Autor und Journalist tätig.
Die letzte Lesung des diesjährigen Literaturwochenendes am Untersee findet um 20 Uhr in der „Rosenau“ in Tägerwilen statt. Heiko Strech, Germanist, Dozent für Sprachausbildung und Journalist, zuhause in Berlin und Safenwil, und Marius Leutenegger, vielbeschäftigter Journalist und Theaterautor, der in Zürich lebt, haben sich der Conrad-Novelle angenommen. Immer wieder wird die weltbekannte Erzählung „Herz der Finsternis“ (1899) von Joseph Conrad neu interpretiert. Strech und Leutenegger dialogisierten den symbolreichen Text zum Zweipersonenstück. Der Autor Joseph Conrad verschlüsselte seine eigene Fahrt 1890 mit der „Nellie“, einem kleinen Themse-Segelschiff, mit dem er auf dem Fluss Kongo tief in das Herz Afrikas hinein fuhr, um Elfenbein zu importieren. Dort im Dschungel begegnete er dem Bösen und dem Wahnsinn in der düsteren Hochzeit des Imperialismus. Der Film „Aguirre, der Zorn Gottes“ von Werner Herzog mit Klaus Kinski in der Hauptrolle aus dem Jahr 1972 ist zu großen Teilen von Conrads Buch inspiriert.
Im kleinen Kreis in den Wohnstuben privater Familien kann der Besucher am Ende der Veranstaltung mit den KünstlerInnen bei einem Glas Wein ganz ungezwungen ins Gespräch kommen. Mit dieser Idee, Literatur ganz nah an den Leser zu bringen, haben Margit und Jens A. Koemeda vor fünf Jahren dieses wunderbare Projekt ins Leben gerufen – der Erfolg spricht für sich, 2011 waren einige Lesungen schon nach wenigen Tagen ausverkauft.
Autorin: Roswitha Bosch
Orte und GastgeberInnen:
„Turmhof-Foyer“
Seestraße 84, 8266 Steckborn
Telefon 071 660 07 33
„Haus zum Griess“
Rosalba Nussio, Seestraße 104, 8267 Berlingen
Telefon 052 770 27 07
„Altes Debrunner-Haus“
Barbara und Felix Müller, Hauptstraße 92, 8272 Ermatingen
Telefon 071 664 17 14
„Breitenstein“
Margit und A. Jens Koemeda, Fruthwilerstrasse 70, 8272 Ermatingen
Telefon 071 664 11 10
„Rosenau“
Hannelore Hangarter, Gottlieberstrasse 15, 8274 Tägerwilen
Telefon: 071 669 15 06
Detailliertes Programm und Kartenbestellungen: Bis Freitag, 07.09., 20 Uhr bei: heidi@walkhoff.ch oder +41(0)71 672 26 70 (Mo-Fr 10-12, 16-18 Uhr). Ab Freitag, 07.09., 20 Uhr: bei den Gastgebern. Eintritt: Fr. 20/€ 15; Studenten: Fr. 15/€ 12 (inkl. Apéro), Ermäßigung für fünf Lesungen: Fr. 20
Liebe Freunde,
Winterthur liegt im Kanton Zürich, nicht im Thurgau.