Migros, das bedingt demokratische Imperium
Vor über neunzig Jahren gründete der Schweizer Gottlieb Duttweiler einen Lebensmittelladen, der den Zwischenhandel umging. Das Rezept ging auf, die Gewinne fließen bis heute. Der Schweizer Einzelhandelskonzern Migros hat über die Grenzen des Landes hinaus einen untadeligen Ruf. Aber wo ist die Idee geblieben? Vor allem aus linken Kreisen wird immer wieder Kritik am größten Schweizer Genossenschaftsbund laut.
Der Schweizer Einzelhandelskonzern Migros hat über die Grenzen des Landes hinaus einen untadeligen Ruf. Er dient nicht privaten Profitinteressen, besteht aus zehn regionalen Genossenschaften, die rund 2,16 Millionen VerbraucherInnen gehören (also einem Viertel der Schweizer Bevölkerung), verwendet einen Teil der Überschüsse für kulturelle und gemeinnützige Zwecke und hat schon früh auf Waren aus integrierter oder ökologischer Produktion gesetzt. Es gibt also nicht arg viel zu meckern über den Konzern, der 2013 die deutsche Einzelhandelskette Tegut übernahm und seit einigen Jahren Produkte der deutschen Bio-Lebensmittelkette Alnatura im Sortiment führt. Oder doch? Vor allem aus linken Kreisen wird immer öfter Kritik am größten Schweizer Genossenschaftsbund laut.
Aber der Reihe nach. Im Jahre 1925 kam Gottlieb Duttweiler auf die Idee, im Kanton Zürich Lebensmittel unter Umgehung des Zwischenhandels – und damit zu günstigeren Preisen – zu verkaufen. Geringe Kosten, kleine Margen, dafür große Mengen: So in etwa lautete Duttweilers Konzept, das zwischen Großhandel („en-gros“) und Einzelhandel („en-detail“) angesiedelt war (daher der Name Migros). Zunächst ließ er die Ware von Lastwagen herunter verkaufen, die übers Land fuhren, setzte schon bald auf Eigenproduktionen und musste – als er seine „fahrenden Läden“ in Filialen umwandeln wollte – heftige Kämpfe führen: Zeitweise verboten ihm die Behörden auf Druck des etablierten Einzelhandels Niederlassungen.
Eine eigene Partei
Daraufhin gründete Duttweiler eine eigene Partei, den sozialliberalen „Landesring der Unabhängigen“, der bis 1999 bestand. Sein Konzept erwies sich schnell als überaus erfolgreich; das Ladenverbot wurde bald aufgehoben.
1935 folgte die Gründung eines eigenen Reisebüros (Hotelplan), 1941 übertrug er die Eigentumsrechte in Form einer Genossenschaft auf seine KundInnen (der Beitritt ist kostenlos), 1942 entstand eine eigene Zeitung (heute die auflagenstärkste Publikation der Schweiz), 1944 wurde mit den Migros-Klubschulen die grösste (private) Volkshochschule des Landes aus der Taufe gehoben, danach folgten Restaurants, Selbstbedienungsläden, der Verlag Ex Libris (der ursprünglich anspruchsvolle Literatur zu günstigen Preisen anbot), eine Tankstellenkette.
Ein eigenes Universum
Wachstum um fast jeden Preis – nichts schien den Genossenschaftsbund stoppen zu können. Erste Versuche einer Expansion ins Ausland (Österreich, Türkei, auch Läden im süddeutschen Raum) scheiterten zwar. Inzwischen jedoch stellt Migros (Umsatz 2015: 27,4 Milliarden Franken) ein eigenes Universum dar, zu dem neben Ländereien und zahlreichen Industriegebieten auch Fitnessläden, eine eigene Sportartikelkette, Gastrobetriebe, ein Thinktank (das Gottlieb-Duttweiler-Institut) und eine der größten Banken des Landes gehören. Es gibt kaum einen Geschäftszweig, in dem Migros nicht aktiv wäre – sogar eine eigene Reederei unterhielt das Unternehmen. Auch einen Billigdiscounter legte sich die Genossenschaft zu – 1997 übernahm sie die drittgrößte Einzelhandelskette Denner, in deren Geschäften (anders als in den rund 660 Migrosfilialen) auch Alkohol und Tabak angeboten wird.
Bei all dem aber blieben die ursprünglichen Ziele allmählich auf der Strecke: Ein Wirtschaften, bei dem die sozialen Bedürfnisse der ärmeren Bevölkerungsschichten im Mittelpunkt stehen – und die interne Demokratie. Der erste Bruch kam Anfang der 1980er Jahre, nachdem die damalige Migros-Führung Hans A. Pestalozzi, den Leiter der Gottlieb-Duttweiler-Instituts, gefeuert hatte. Pestalozzi, der schon früh nachhaltige Produktions-und Vertriebsformen forderte und den besinnungslosen Wachstumswahn kritisierte, gründete daraufhin die Bewegung M-Frühling.
Eigenwillige Lohnstruktur
Deren Versuche, die Geschäftspolitik über eine freie und demokratische Wahl der Konzernleitung zu ändern, scheiterte jedoch – unter anderem an den bürokratischen Hindernissen, die ihr in den Weg gelegt wurden. Einen neuen Anlauf nahm die 2004 gebildete Initiative Initiative Sorgim („Migros“ rückwärts gelesen), die ebenfalls eine Demokratisierung anstrebt, damit die Genossenschaft „nicht nur den Komsumenten gehört, sondern auch von ihnen gelenkt wird“. Bisher vergebens.
Und die rund 100.000 Beschäftigten? Die meisten von ihnen werden eher karg entlohnt. Sie verdienen, so die Gewerkschaft unia, je nach Ausbildung zwischen 3800 und 4200 Franken im Monat; der Mindestlohn liegt dabei noch unter dem der deutschen Discounter Lidl und Aldi in der Schweiz. Nach Angaben von unia gewährt Migros seit Jahren zudem nur individuelle Lohnerhöhungen und ist von Lohngleichheit noch weit entfernt.
Auch wenn die zehn Regionalgenossenschaften (ihr Reingewinn lag im vergangenen Jahr bei knapp 800 Millionen Franken) auch auf Druck von M-Frühling und Sorgim vermehrt auf Öko-Produkte setzen und mit dem sogenannten Kulturprozent einen stattlichen Beitrag zur Förderung kultureller Einrichtungen und Projekte leisten: In ihrem Geschäftsgebahren (Arbeitsbedingungen inklusive) unterscheidet sich Migros kaum von renditegetriebenen Firmen.
pw (Dieser Artikel erschien zuerst in der Monatszeitung OXI)