Mit dem Fahrrad auf der Flucht vor der Wehrmacht

Fünf Jahre dauerte Hilar Hubers abenteuerliche Flucht vor den Nazis. Unter anderem versteckte er sich in der Ostschweiz, im Allgäu und rund um den Bodensee. Seine Desertation, seine Fluchtwege, seine Ausbrüche bieten Stoff für mehrere Bücher und Filme. Wobei seine Vorliebe zum Velo eine besondere Rolle spielte. Doch Gerechtigkeit – da wird aus dem Abenteuer politischer Wahn – fand er zeit seines Lebens nie.

Lange waren sie vergessen und verfemt: die Deserteure der Wehrmacht. Sie galten als Feiglinge, Verräter und als «Kameradenschweine». Dabei hatten sie es nur abgelehnt, in Hitlers Mordmaschinerie mitzumachen. Sie entzogen sich durch Flucht und befanden sich also moralisch im Recht. Aber eben juristisch nicht: Fahnenflüchtige wurden von der deutschen NS-Militärjustiz hart bestraft. Es gab insgesamt 30 000 Todesurteile, davon wurden 23 000 vollstreckt.

„Die Gründe, in die Verfolgungsmaschinerie zu geraten, waren vielfältig“, sagt der Historiker Werner Bundschuh aus Dornbirn. Die Delikte lauteten auf «Fernbleiben von der Truppe» und «Wehrkraftzersetzung» bis zu Selbstverstümmelung. Wer nicht zum Tod verurteilt wurde, kam in ein Soldaten-KZ, wurde geschlagen und geschunden. Dies widerfuhr auch dem jungen Hilar Huber aus Höchst (auf unserem Foto hinter vor einem geliebten Velo). 1920 in einer armen Landarbeiterfamilie mit neun Kindern geboren, musste er früh lernen, sich durchzusetzen. Das sollte ihm später zugutekommen. Wie viele in den 1930er-Jahren war er arbeitslos und lebte von Gelegenheitsjobs. 1941 erhielt er das Aufgebot in die Wehrmacht Hitlers, der 1938 Österreich ans Dritte Reich angeschlossen hatte.

Eine unglaubliche Fluchtgeschichte

Huber kam nach Griechenland, das gerade von den Nazis besetzt wurde. Weite Teile Europa standen damals unter brauner Herrschaft. Am 21. Mai 1941 sollte Huber mit einem Kommando Pferde von griechischen Bauern requirieren. Das war gefährlich, denn die Bauern wussten sich zu wehren. Schon manche Soldaten waren von solchen Aufträgen nicht mehr zurückgekehrt. Huber beschließt abzuhauen. Eine unglaubliche Fluchtgeschichte beginnt.

Der erst 26-Jährige entwickelt dabei wahre Survival-Qualitäten. Zu Fuß folgt er den Eisenbahnschienen nordwärts und gelangt in die Stadt Larisa. Dort kauft er einen Anzug und möbelt sich auf. Nachts marschiert er weiter und gelangt ins mazedonische Skopje, wo er ein Fahrrad ersteht. Damit fährt er 2000 Kilometer weit unbehelligt durch Serbien, Kroatien und Slowenien bis ins österreichische Villach. Er steigt in den Zug und trifft Ende Juni 1941 wieder zuhause in Höchst ein. Vor einem einheimischen Gericht werde er besser wegkommen, glaubt er. Ein Irrtum: Er wird ins Gefangenenhaus Bregenz gesteckt, und ein Militärrichter aus Innsbruck reist zur Vernehmung an. Da dämmert es ihm, dass ihn die Militärjustiz hart anpacken wird.

Hilar Huber bricht aus. Er schwingt sich über die Gefängnismauer, am Stacheldraht vorbei, ein «unglaublich kühner Akt», wie der Historiker Meinrad Pichler urteilt, der Hubers Odyssee rekonstruiert hat. Ein Großaufgebot an Polizisten sucht ihn vergeblich. Huber stiehlt ein Fahrrad,

fährt nach Gaissau, durchschwimmt den Alten Rhein und landet unerkannt in Rheineck. Sein Ziel ist Wittenbach: Dort lebt ein Onkel, dessen Freude über sein Erscheinen sich allerdings in Grenzen hält. Denn er hat Ärger mit der Schweizer Fremdenpolizei, weil sein Sohn als «Standortführer der St.Galler Hitlerjugend» aufgeflogen ist. Der Onkel befürchtet weiteres Ungemach, wenn er den Flüchtling bei sich aufnimmt. Es dauert dennoch zwei Wochen, bis Hilar Huber wieder im Gefängnis landet, diesmal in St.Gallen.

Er wird von der Heerespolizei intensiv verhört. Diese interessiert sich vor allem für die Aufstellung der Wehrmacht in Vorarlberg. Man erhofft sich von Deserteuren wertvolle Informationen über Truppenbewegungen. Huber darf als Militärflüchtling in der Haft arbeiten und erntet dabei gute Noten. Als Belohnung erhält er Ausgang und wird ins freiere Interniertenlager Murimoos im Kanton Aargau versetzt. Dort muss er Torf stechen, lernt aber auch eine Westschweizerin aus La Chaux-de-Fonds kennen, die in ihm den Geschmack de Freiheit hoch steigen lässt. Im November 1942 beschließt er, erneut zu fliehen, wieder mit dem Velo.

Schweizer Polizei hilft der Gestapo

In nur zwei Tagen durchquert er nachts bei Nebel und Kälte die ganze Schweiz und landet im Rheintal. Zwei Wochen irrt er hier umher und hält sich durch Diebstähle und Einbrüche über Wasser, bis er ins elterliche Höchst zurückkehrt. Ein Hinweis der Schweizer Polizei an die Gestapo in Bregenz führt dazu, dass Hilar Hubers Elternhaus umstellt wird. Bei der Razzia wird der Flüchtige unter einem Bett im Dachboden entdeckt. Ein Gericht in Innsbruck verurteilt Huber im März 1943 zum Tod wegen Fahnenflucht. Nun sieht es wirklich düster für ihn aus.

Doch Huber hat Glück: Hitler braucht Soldaten, und so wird die Todesstrafe in eine 15jährige Gefängnisstrafe verwandelt. Die Option ist, dass er später an die Front kommt, als «Kanonenfutter». Er wird 1000 Kilometer weit nach Norddeutschland ins Emsland verfrachtet, wo er in eines der berüchtigten «Soldaten-KZ» im Moor bei Meppen kommt. Huber wird ein «Moorsoldat», wie es im berühmten Lied über KZ-Häftlinge heißt, das später von Hanns Eisler vertont und vom Sänger Ernst Busch berühmt gemacht wurde.

Schon am dritten Tag ist er aber wieder auf der Flucht, dank einer selbst gefertigten Leiter. Nach bewährtem Muster klaut er ein Velo, beschafft sich Zivilkleider und fährt südwärts nach Bayern. Im Zug gerät er einer Streife in die Hände und wird ins Abteil gesperrt, während andere Fahrgäste kontrolliert werden. Schon bald klettert er durchs Fenster, springt aus dem fahrenden Zug und bleibt bewusstlos liegen. Erst am Morgen erwacht er und schleppt sich Richtung Kempten im Allgäu. Pech, dass ihm plötzlich ein Landpolizist in die Quere kommt. Huber entreißt ihm tollkühn die Dienstwaffe, bemächtigt sich des Velos und macht sich auf und davon.

Übers Lechtal gelangt er nun in den Brengenzerwald, wo er sich im Heustock eines Bauern verbirgt, den er kennt, da dieser einmal ein Mitgefangener war. Der Landwirt saß wegen illegalem Käseverkauf ein. Er flieht weiter über die Berge nach Götzis, wo er sich bei einem anderen Landwirt endlich waschen und verpflegen kann. Huber denkt an die Schweiz, dort will er wieder hin. Von einem Bruder, der als Hilfsgrenzwächter arbeitet, erfährt er Nützliches über die Kontrollgänge, so dass ihm unbemerkt der Übertritt nach Kriessern gelingt. Einige Zeit lang versteckt er sich in einer Hütte und lebt von Einschleichdiebstählen.

Hinter Gittern in St. Gallen

Nun hat sich Hilar Huber in den Kopf gesetzt, es werde ihm in England besser ergehen. Er will irgendwie aufs Schiff. Zu Fuß geht’s nun nach Buchs und übers Toggenburg nach Wil und von dort mit der Bahn nach Winterthur. In einem Gasthaus wird er verhaftet. Die Polizei bringt ihn zurück ins Rheintal. Im Juni 1943 wird er vom Bezirksgericht in Altstätten wegen mehrfachen Diebstahls und Übertretung fremdenpolizeilicher Vorschriften zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt. Zum Glück für ihn wird er nicht an Deutschland ausgeliefert. Das Reichskriminalpolizeiamt in Berlin hatte seine Überstellung verlangt.

Huber verbringt freilich nur wenige Monate hinter Gittern. Im Januar 1944 bricht er aus der Strafanstalt St.Jakob in St.Gallen – sie wurde später geschleift – aus und flüchtet Richtung Süden. Er will diesmal nach Italien, doch Glarner Landjäger machen ihm einen Strich durch die Rechnung.

Vom Bezirksgericht Gossau erhält er eine weitere achtmonatige Gefängnisstrafe aufgebrummt. Das Kriegsende vom Mai 1945 bringt dann auch für Hilar Huber die Zäsur: Das Dritte Reich ist untergegangen, die Alliierten haben gesiegt, und die Schweiz hat kein Interesse, fremde Delinquenten durchzufüttern. Man lässt ihn einfach laufen.

So steht Hilar Huber wieder auf der Brücke zwischen St.Margrethen und Höchst und strebt nach Hause. Bald findet er eine Stelle auf dem Bau und heiratet. Die Schatten der Vergangenheit ereilen ihn ein Jahr später, als sein Bruder als Grenzschmuggler in Verdacht gerät und sich die Frepo seiner als illegalen Grenzgänger und Kleindelinquenten erinnert. Das bleibt jedoch ohne Konsequenzen, denn Huber kann nichts nachgewiesen werden. Umgekehrt halten sich die Behörden an ihm schadlos, als er 1963 um eine Arbeitsbewilligung in der Schweiz nachsucht. Diese wird abgelehnt. Hubers Umtriebe während des Kriegs sind noch nicht vergessen.

Behörden vergessen nicht

Es scheint, als ob Hilar Huber die hinter ihm liegenden Jahre der Flucht, der Bedrohung und der Gefängnisse für den Rest seines Lebens erst verdauen musste. Er will nichts als seine Ruhe und führt eine einfache, unauffällige und auch eigenwillige Existenz bis zu seinem Tod im Jahr 2001. Zuletzt lebte er einsam in einer Hütte im Lustenauer Ried.

Meinrad Pichler ist fasziniert von diesem Menschen und seinem mit der europäischen Geschichte eng verwobenen Schicksal. Er schreibt: «Hilar Huber hat fünf Jahre seines jungen Lebens auf der Flucht und in Gefängnissen verbracht, ist immer dann verschwunden, wenn seine lebhafte Vorahnung es ihm geraten hat; er hat Gefängnismauern und Stacheldrahtzäune überwunden, hat seine Häscher raffiniert abgehängt, um ihnen kurz darauf wieder unbedacht in die Hände zu fallen; er hat auf seinen Fluchten mehrere tausend Kilometer zu Fußs, auf entwendeten Fahrrädern und in Zügen zurückgelegt und ist meist am angesteuerten Ziel angekommen, obwohl er nie eine Landkarte und überhaupt keine Reiseerfahrung hatte.»

Hilar Huber aus Höchst war nur einer von vielen Deserteuren, die aus Hitlers brauner Armee flohen und die später als «Verräter» galten und diskriminiert wurden, als ob sie etwas Falsches getan hätten. Sie waren Opfer eines doppelten Mythos: zum einen der angeblich «sauberen» Wehrmacht und zum anderen des Landes Österreich als angeblich erstem Opfer der Hitler-Aggression. Die viel diskutierte Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialfoschung entmythisierte 1995 das Bild einer deutschen Armee, die im Gegensatz zu Waffen-SS und anderen Nazi-Verbänden keine Kriegsverbrechen begangen habe. Die kritische Forschung wies das Gegenteil nach, so dass die Desertion aus der Wehrmacht plötzlich eine ganz andere moralische Qualität erhielt. Und dass Österreich von Hitler überfallen und unterjocht worden sei, straften schon früher die Bilder vom umjubelten Empfang Hitlers in Wien und den progromartigen Ausschreitungen der einheimischen Bevölkerung gegen Juden Lügen.

Dennoch ließ die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure – ähnlich wie diejenige der Fluchthelfer im Zweiten Weltkrieg oder der antifaschistischen Spanienkämpfer in der Schweiz – lange auf sich warten. Das Komitee «Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz» stand in den 1990er-Jahren am Anfang der Neubewertung. Dann folgten Forschungsprojekte und schließlich ein Anerkennungsgesetz, das der österreichische Nationalrat im Jahr 2005 verabschiedete.

Rehabilitierung dauerte Jahrzehnte

Den Durchbruch brachte die Ausstellung «Was damals Recht war… Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht» im Jahr 2009, welche die Rehabilitierung dieser Nazi-Justizopfer nahe legte. Im Oktober desselben Jahres verabschiedete eine Mehrheit von SPÖ, ÖVP und Grünen das «Aufhebungs- und Rehabilitierungsgesetz», das die endgültige rechtliche Anerkennung und die Aufhebung der Urteile brachte. Diese Schau war letzten Herbst samt einer Vortragsreihe auch im Vorarlberg zu sehen. Kritischen Historikern wie Meinrad Pichler, Werner Bundschuh und vielen anderen, die sich schon in den 1980er-Jahren in der Johann August Malin-Gesellschaft zusammen schlossen, ist es zu verdanken, dass dank kontinuierlicher Aufklärungsarbeit ein Umdenken und damit ein geschichtspolitischer Fortschritt erzielt wurde.

Bundschuh sagt: «Die Befassung mit Opfern der Wehrmachtsjustiz bedeutet eine erinnerungspolitische Wende: hin zu konkreten Menschen, die im Krieg nicht einfach „dienten“, sondern sich aus unterschiedlichen Motiven widersetzten.» Für Bundschuh ist die Aufarbeitung dieser Vergangenheit ein «ebenso überfälliger wie notwendiger und schwieriger Prozess». Er sieht Parallelen mit der aktuellen Debatte über das Euthanasieprogramm der Nazis, dem auch Vorarlberger Täter zudienten und über das lange Zeit geschwiegen wurde. Es sei wichtig, dass die «Deserteure», die sich Hitlers Vernichtungsfeldzug verweigerten, in das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft Eingang finden.

In ganz Österreich gibt es viele Denkmäler für die «Gefallenen fürs Vaterland» in den beiden Weltkriegen. Aber es gibt nirgends ein Denkmal für die mehreren zehntausend Opfer der Nazi-Militärjustiz. Jetzt, 75 Jahre danach, sind Bestrebungen im Gang, in Wien ein solches Denkmal zu errichten.

Autor: Ralph Hug

Literatur und zusätzliche informationen: Meinrad Pichler, Quergänge. Vorarlberger Geschichte in Lebensläufen. Hohenems 2007. Da machen wir nicht mehr mit. Österreichische Soldaten und Zivilisten vor Gerichten der Wehrmacht, Mandelbaum-Verlag 2010. www.erinnern.at