Ocean Vuong, fake America great again und die Schweiz

Die NZZ veröffentlichte Anfang November ein Interview mit einem Senkrechtstarter der US-Literatur, in dem es – unvermeidlich – wieder mal auch um US-Präsident Trump und seine Anhängerschaft ging. Unseren in der Schweiz lebenden Autor Jochen Kelter hat die Lektüre des Gesprächs zu Überlegungen über manipulierende Wahlkämpfe und die Mißachtung des Mehrheitswillens inspiriert, die das US-Wahlrecht möglich macht. Obgleich in der Eidgenossenschaft das Mehrheitswahlrecht nicht gilt, sieht Kelter auch in seiner Wahlheimat Handlungsbedarf.

Ocean Vuong ist ein junger amerikanischer Autor mit vietnamesischen Wurzeln, für dessen lange und schwierige Reise in die neue Heimat sein exotischer Vorname steht. Mit seinem Erstlingsroman „On Earth We’re Briefly Gorgeous“, einem sprachlich ziemlich anspruchsvollen Bericht über seinen Werdegang als asiatischer Homosexueller in den USA, ist er dort schlagartig bekannt geworden. Und auch auf Deutsch liegt „Auf Erden sind wir kurz grandios“ bereits vor. In einem kürzlichen Gespräch mit der Neue Zürcher Zeitung (NZZ) berichtet er über sein Leben in der buchstäblich Neuen Welt. Er fragt sich in Bezug auf Donald Trumps Motto, wann Amerika jemals „großartig“ gewesen sei. Das sei Nostalgie, die aber habe nicht mit Erinnerung, sondern mit Wunschdenken zu tun. Trump selbst bezeichnet er als Prototyp des weißen Mannes, ein Produkt des „Reality-TV“ und des Tribalismus, der alles in Frage stelle, außer sich selbst.

Bei den Wahlen 2016 hat er die Stimmen weißer Männer (aber wohl auch Frauen) vor allem aus der Unterschicht bekommen, die mit dem Zerrbild einer „toxischen Maskulinität“ aufgewachsen sind, sich hierarchisch und „unter einem Banner“ versammeln. Aber die Mehrheit der Amerikaner und Amerikanerinnen hat ihn keineswegs ins Amt gewählt. Hinter seinem Sieg stecken vielmehr die ausgeklügelten und abgefeimten Methoden der Firma Cambridge Analytica, die ihre Hand auch bei der Brexit-Abstimmung in Großbritannien im Spiel hatte. Sie kaufte und sammelte Millionen von meist digitalen Daten von US-Bürgern, aus denen sie erstaunlich genaue Einzelprofile erstellte. So bekam dann jemand genau zu der Zeit, in der er normalerweise sein Handy konsultiert, eine SMS des Inhalts „Hillary Clinton will dir deine Waffe wegnehmen“. Diese Nachrichten waren nicht zurückzuverfolgen, weil sie bereits Stunden später wie von Geisterhand wieder gelöscht wurden. Solche dank Digitalisierung möglichen Methoden gehören natürlich verboten, weil sie aus einer Masse gleicher WählerInnen lauter einzelne „Kunden“ mit persönlichen Vorlieben und Ressentiments machen.

Cambridge Analytica legte den Wahlkampfschwerpunkt auch nicht gleichmäßig auf alle, geschweige die traditionell demokratischen Staaten, sondern auf ganz wenige „Swing States“. Das Kalkül: Wenn Trump einige dieser Staaten dank des Mehrheitswahlrechts („Winner takes it all“) und der Methoden seiner Wahlkampffirma gewänne, könne ihm der Rest der Wählerschaft egal sein. Die Rechnung ging auf. Trump gewann in den drei umkämpften Staaten Ohio, Michigan und Pennsylvania mit insgesamt 77.000 Stimmen vor Clinton, die aber landesweit gut 3 Millionen Stimmen mehr erhielt als er. Der Titel der französischen arte-TV-Dokumentation „Fake America great again“ brachte es vor einiger Zeit auf den Punkt. Aber solche Beiträge zu fortgeschrittener Sendezeit erreichen nur eine Minderheit der Zuschauer.

Nun gibt es das Mehrheitswahlrecht anders als in angelsächsischen Ländern in der Schweiz glücklicherweise nicht. Trotzdem bestünde auch hier Handlungsbedarf, soll die repräsentative Demokratie auf Dauer nicht surreal werden. Seltsam genug, dass es bei den eidgenössischen Wahlen im vergangenen Oktober keine kritischen Stimmen dazu gegeben hat. Niemand wagt sich offenbar an die heilige Kuh des Wahlrechts für die zweite Kammer, den Ständerat. So erhalten die 40.000 Glarner mit zwei Sitzen in der kleinen Kammer genauso viele wie der Kanton Zürich mit 1,5 Millionen Einwohnern. Mit anderen Worten : 20.000 Glarner haben politisch ebenso viel Gewicht wie 750.000 Zürcher. Eine Absurdität.

Jochen Kelter

Bild: Ocean Vuong bei einer Lesung 2016 (Foto: Slowking4 [GFDL 1.2], via Wikimedia Commons).