„Schöne Aussichten für Kreuzlingen“?
Weil man sich nicht mit fremden Federn schmücken soll, hat unsere Autorin die Überschrift hier in Anführungszeichen gesetzt. Sie zitiert nämlich den Titel der neuen und vielfach angepriesenen Imagebroschüre unserer Nachbarstadt Kreuzlingen. Das Fragezeichen wiederum steht dafür, dass man sich nach Betrachten des bunten Heftes der „schönen Aussichten“ für Kreuzlingen nicht so sicher ist.
Zuallererst überkommt einen Mitleid mit dem unbekannten Fotografen. Leidet der/die Ärmste an einem konzentrischen Gesichtsfeldausfall – was auf einen beginnenden Grünen Star hinweisen könnte und keinesfalls auf die leichte Schulter genommen werden sollte? Dann aber beschleicht einen der Verdacht, er/sie könnte sich der seltsamen Meinung hingegeben haben, Bilder, auf denen nur ein kleines Feld scharf zu erkennen ist, seien gut fürs Kreuzlinger Image. Oder auch nur schick in einer Imagebroschüre. Nein, möchte man ihm sagen, sind sie nicht. Zumal dann nicht, wenn es keinen Zusammenhang zwischen dem Begleittext und dem deutlich zu erkennenden Bildteil gibt. Kurz, es ist eine irritierende Marotte. Oder ist es ein Ausdruck des städtischen Tunnelblicks?
Die Freiheit des PR-Menschen
Der erschafft nämlich im Bestreben, „Goldstaub über die Stadt zu streuen“ (wie das ein seemoz-Redakteur so schön sagte), ganz neue „alternative Tatsachen“. Da liegt die Kreuzlinger Partnerstadt Wolfach plötzlich innerhalb eines 50-Kilometer-Radiuses. Auch bei größter Kreativität ist das nicht zu schaffen. Nicht mal ein Vogel schafft’s unter 100 Kilometer. Aber okay, das ist vermutlich die Freiheit des PR-Menschen bei seinem Versuch, die Attraktivität Kreuzlingens zu steigern.
Es gibt ja in Kreuzlingen böse Zungen, die jeweils behaupten, das Attraktivste an Kreuzlingen sei Konstanz. Dass das aber ausgerechnet in einer Imagebroschüre für Kreuzlingen auch noch unterstrichen wird, hätte man ja nicht gedacht. Da werden die Uni Konstanz, die Fachhochschule Konstanz, die Einwohnerzahl… man ahnt es. bemüht, um die Vielfalt der eigenen Bildungseinrichtungen noch ein bisschen zu vergrößern oder um das Gewicht der Agglomeration zu erhöhen. Wobei dann aber noch zusätzliche Bewohner – vermutlich von Ermatingen bis Güttingen und Hegne – dazu gezählt werden, um auf 120 000 zu kommen.
Das Kreuz mit den Zahlen
Überhaupt – diese Zahlen. Mal „leben gleich viele Schweizer wie Menschen aus anderen Ländern“ in Kreuzlingen, dann wieder „hat über die Hälfte keinen Schweizer Pass“. Nein, es leben eben nicht „gleich viele“ in Kreuzlingen, sondern mehr Ausländer als Schweizer – genau genommen sind die Schweizer mit 46 Prozent in der Minderheit. Und entgegen aller Unken, die immer den Weltuntergang durch Multikulti beschwören, ist Kreuzlingen friedlich, tolerant und offen. Hätte in der Imagebroschüre ruhig stolz erwähnt werden dürfen.
Dann gibt’s laut Broschüre in Kreuzlingen „neun bewohnte Herrschaftshäuser“. Welche da wären? Genannt wird nur die Seeburg. Nun ist das nachvollziehbar, weil solche Auflistungen für neu Zugezogene oder Interessenten weder wichtig noch bekannt sind. Nur – warum dann die Zahl überhaupt nennen? Oder die „1000 Arbeitgeber mit 10 000 Beschäftigten“, die es laut Broschüre in Kreuzlingen gibt. Kurzes Rechenexempel: Panzerfahrzeugbauer Mowag, Alu-Verpackungsfirma Amcor, Fotofirma Ifolor, Chocolat Bernrain, Herrenmode-Produzent Strellson, Shampoo-Fabrikant Rausch und die Stadtverwaltung zusammen dürften etwa 1740 Arbeitsplätze/Stellen aufweisen. Bleiben 993 Arbeitgeber mit ca. 8260 Stellen. Da müssen ein paar davon unter null Beschäftigte haben. Briefkastenfirmen oder zuviel PR-Phantasie?
Alles schön bunt hier
Neben den (weitgehend) unscharfen Bildern, hat es eine spezielle Aussage auf mein persönliches Siegertreppchen der sinnlosen Werbung geschafft: „Bekannte Persönlichkeiten haben in der Psychiatrischen Klinik Bellevue gelebt, gelehrt, geheilt. Seit dem Jahr 1980 ist die Klinik Vergangenheit.“ Mal abgesehen davon, dass weder berühmte Patienten – vom Tänzer Vaslav Nijinsky über den Maler Ernst Ludwig Kirchner bis zu Alice von Battenberg, Mutter Prinz Philips von GB – noch bekannte „Heiler“ genannt werden, bleibt auch ungesagt, warum die Klinik „Vergangenheit“ ist: Weil kein Binswanger mehr die Klinik führen wollte und es den Kreuzlingern zu teuer war, die Klinikgebäude samt Park zu kaufen. Weshalb heute dort eine Vielzahl 08/15-Wohnblocks steht. Aber ansonsten wäre der Spruch natürlich ausbaufähig. Was stand nicht schon alles in dieser Stadt, das es heute nicht mehr gibt – beispielsweise drei Kinos. Und was könnte man nicht noch alles aus Konstanz miteinbeziehen….
Aber genug der Mäkelei: Wirklich sehr gelungen sind die Panorama-Aufnahmen, die vom östlichen Kreuzlinger Stadtrand bis zum Konstanzer Münster reichen. Wobei…die zahlreich eingetragenen Hinweise auf „places of interest“ sind „speziell“. Die Wollschweininsel und die Kunstgrenze (despektierlich das Denkmal des unbekannten Eisenbiegers) – okay. Aber das „Gardencity“-Hochhaus direkt an der Bahnlinie? Weder architektonisch bemerkenswert noch das einzige Hochhaus in Kreuzlingen. Oder auf dem einen Panoramabild der Hinweis auf den Hafenbahnhof, der auf dem Bild nicht sichtbar und für Nicht-Kreuzlinger auch mit diesem Hinweis nicht auffindbar bleibt. Sieht sehr nach „schau mal, was wir alles haben“ aus. Aber schön bunt ist das alles – Nina Hagen („alles so schön bunt hier“) hätte ihre Freude daran.
Lieselotte Schiesser