Spannendes Medienprojekt in der Deutschschweiz

Constantin Seibt will mit einem neuen Digitalmagazin nicht weniger als eine Rebellion im Journalismus anzetteln – gegen die Verlage, die sich immer mehr von der Publizistik verabschieden. Im Mai wird sich zeigen, ob die große Vision Wirklichkeit werden kann. seemoz hat schon Mal darüber berichtet. Hier nun Neuigkeiten zur aktuellen Lage dieses interessanten Projekts in der Deutschschweiz.

Die Zukunft des Journalismus soll in einem früheren Puff geboren werden. Constantin Seibt muss selbst grinsen, als er das erzählt. Aber genau das ist der Plan. Dort wo einst erst die Artisten des Circus Knie wohnten und später Nutten und Freier, nun ja, verkehrten, soll der Journalismus seine Würde zurückbekommen.„Keine schlechte Umgebung für publizistische Pläne“ findet Seibt.

Der 50-Jährige ist einer der profiliertesten Autoren der Schweiz. Bis zum vergangenen Oktober war er Reporter beim Zürcher „Tagesanzeiger“. 2007 war er in der Schweiz „Journalist des Jahres“, 2012 „Reporter des Jahres“, 2013 „Kolumnist des Jahres“ und 2016 dann nochmal „Reporter des Jahres“. Wohl auch wegen solcher Titel waren die Reaktionen auf sein neues Projekt so gewaltig. Als er im Oktober 2016 gemeinsam mit seinem Journalistenkollegen Christof Moser ankündigte, seinen gut dotierten Job beim „Tagesanzeiger“ aufzugeben für ein neues Journalisten-Start-up, verursachte das ein Beben in der Schweizer Medienwelt, das auch in Deutschland deutlich zu spüren war.

Zwei angesehene Journalisten, die sichere Jobs für ein riskantes Vorhaben aufgaben – das war per se interessant. Und das obwohl die beiden am Anfang nur eine sehr spartanische Internetseite, einen kryptischen Namen („Project R“, R wie Rebellion) und ein paar markige Worte vorweisen konnten: „Die Verlage investieren Ideen, Geld und Leidenschaft nicht mehr in den Journalismus, sondern in den Aufbau von Internet-Handelshäusern. Deshalb müssen andere Wege für den Journalismus gefunden werden. Wir glauben, dass auch im Journalismus die Zeit für eine kleine Rebellion gekommen ist. Und arbeiten daran, sie zu machen“, hieß es damals.

Seither sind fast fünf Monate vergangen, das Ziel ist nach wie vor das Gleiche: Make Journalismus great again. Wir treffen Constantin Seibt an einem kalten Morgen in einem Kaffeehaus in der Zürcher Bahnhofsgegend. Seibt trägt graues Haar, einen schwarzen Pullover mit Reißverschluss am Kragen und Jeans. Klassischer Reporterlook. Die Arbeit in den vergangenen Wochen ist intensiver geworden, allmählich wird es ernst für das Projekt. „Wir müssen jetzt beweisen, dass wir den Mund nicht zu voll genommen haben“, sagt er. Wenn er sich über etwas amüsiert, dann gehen seine Mundwinkel hoch und seine eigentlich seriös-sonore Stimme bekommt etwas knödelig, kermithaftiges. Das also ist der Mann, der den Journalismus retten will.

Den definitiven Artikel schreiben

Angefangen hat alles vor mehr als fünf Jahren. Seibt saß an seinem Schreibtisch in der Redaktion und hatte das ungute Gefühl, das in seinem Verlag (Tamedia, zweitgrößter Verlag der Schweiz) etwas kippt: „Es ging immer mehr in Richtung Internet-Handelshaus und da war mir klar, dass alles Klagen, Fluchen, Ärgern darüber sinnlos ist – wenn mein Verlag in eine andere Richtung gehen will als ich, dann muss ich etwas verändern“, erinnert sich der Journalist. Mehr als drei Jahre lang hat er dann gemeinsam im Geheimen mit Christof Moser an dem Konzept gefeilt. Jetzt ist das Baby gewachsen. Es soll ein Digitalmagazin mit Erklär- und recherchiertem Debattenjournalismus werden. Thematisch unterwegs in der Grauzone zwischen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur. Der publizistische Ansatz dabei: „Wir wollen nicht den ersten Artikel zu einem Thema schreiben, sondern möglichst den Definitiven“, findet Constantin Seibt.

Das Konzept basiert auf seiner Analyse des gegenwärtigen Journalismus. „Der liberale Aufklärungsjournalismus funktioniert nicht mehr, weil ihm die Grundlagen entzogen wurden: gemeinsame Werte und die stille Übereinkunft, dass es eine Wirklichkeit gibt, in der man zwar verschiedener Meinung sein kann, aber es war eben doch eine Wirklichkeit. In heutigen Debatten gibt es aber oft mindestens zwei Wirklichkeiten“, sagt Seibt. Das Herstellen von Gemeinsamkeit in der Gesellschaft werde so schwieriger. Auch das Aufdecken von Skandalen habe heute kaum noch Wirkung. „Das kann man an Donald Trump sehen. Der trägt seine Skandale und Fiesheiten wie eine Ware vor sich her – als Zeichen für seine Macht und Ausdruck davon, dass er sich das leisten kann.“ Schlechte Informationen, ist Constantin Seibt überzeugt, führen zu schlechten Entscheidungen. „Davon profitieren am Ende nur die Rechtspopulisten“, sagt er. Die Mannschaft, die das verhindern will, ist in den letzten Monaten gewachsen: Neben den beiden Journalisten Seibt und Moser sind inzwischen auch sechs weitere Experten aus Wirtschaft, IT und der Start-up- Branche an Bord.

Crowdfunding soll 500 000 Franken bringen

Das Ziel für das Projekt ist der 1. Januar 2018. Wenn alles glatt läuft, soll das Baby, das noch keinen öffentlichen Namen hat, dann an den Start gehen. Davor steht aber noch eine große Hürde – ein Crowdfunding für die Anschubfinanzierung. „Für uns ist das auch ein Markttest: Gibt es überhaupt eine Nachfrage nach unserem Produkt? Wir wollen kein Magazin machen, das keiner lesen will“, sagt Seibt. Ende April soll die einmonatige Spendensammlung beginnen. Damit die Hürde übersprungen wird, müssen die potenziellen Leser 750.000 Franken zuschießen. Gelingt dies, bekommen die Existenzgründer weiteres Geld von Investoren. Jeder gespendete Franken löse mehr als vier weitere von Geldgebern aus, das sei fest vereinbart, erklärt Seibt. Wer diese Investoren sind, sagt er nicht. Nur so viel: „Es sind hauptsächlich Leute, die am Journalismus als Wachhund der Demokratie interessiert sind.“

Spült das Crowdfunding genügend Geld in die Kassen des Projektes, soll im Sommer der Aufbau der Redaktion beginnen. Zehn bis 15 Leute stark soll die Mannschaft sein, „aber nicht alle in Vollzeit“, wie Seibt einräumt. Das konkrete redaktionelle Konzept soll erst gemeinsam mit dem Team erarbeitet werden. Aber der Rahmen steht fest: „Wir wollen die großen Geschichten erzählen und das auf einer Breitleinwand“, sagt er. Kein Klein-Klein, sondern die großen Themen unserer Zeit sollen verhandelt werden: Digitalisierung, Robotisierung, Finanzsystem, so was. Und das alles natürlich multimedial. Die Redaktion soll aber nicht nur im Netz bleiben, sondern auch physischen Kontakt zu den Lesern suchen – über Salons, Veranstaltung von Filmreihen und einmal im Monat soll die Redaktion mit den Lesern trinken. Damit das ganze Geschäft auch über die Anschubfinanzierung hinaus läuft, brauchen sie nach ihrem Businessplan im ersten Jahr 3000 Abonnenten und im fünften Jahr 22.000.

Über die Struktur ihres Geschäftsmodells haben die Macher lange nachgedacht. Entstanden ist dabei ein duales System. Es gibt eine Genossenschaft, die sich um Veranstaltungen, Technik, Ausbildung und all das kümmert, was die Institution ist. Fest geschriebenes 100-Jahres-Ziel dieser Genossenschaft ist die „Bewahrung und Stärkung der Presse als Wachhund der Demokratie“. Abgekoppelt von der Genossenschaft ist das eigentliche Magazin. Dies wird als Aktiengemeinschaft (AG) geführt. Die Genossenschaft investiert einen fixen Anteil im Jahr in die AG. In dieser AG sind Mitarbeiter, größere Investoren und die Genossenschaft vertreten. Die Verteilung ist fein austariert, die Genossenschaft erhält etwas über 40 Prozent, die Mitarbeiter etwas unter 40 Prozent und die Investoren rund 20 Prozent. „Mit diesem Modell ist garantiert, dass ein Gleichgewicht zwischen Publikum, Mitarbeitenden und Investorinnen besteht – mindestens zwei von drei Parteien müssen hinter Entschlüssen stehen“, erklärt Seibt das Konstrukt.

Der Verlegerverband ist skeptisch

Unterhält man sich länger mit Constantin Seibt, kann man vor allem zwei Dinge bemerken. Erstens: Der Mann hat schon so viele Interviews zu seinem Projekt gegeben, dass er sich längst einen Korb von Satzbausteinen und Formulierungen zurecht gelegt hat, die er regelmäßig wiederholt. Zweitens: Er scheut auch keine Kampfansagen. Den „Tagesanzeiger“, seine frühere Wirkungsstätte, bezeichnet er aufgrund der Umsatzentwicklung als „Totenschiff“, er selbst wolle mit seiner „Guerillatruppe besseren Journalismus bieten als die stehenden Heere der jetzigen Publizistik“ und „Project R“ soll eine „Arche Noah für den Journalismus“ werden.

Wer so spricht, erntet natürlich auch Widerspruch. Zum Beispiel von Andreas Häuptli. Als Geschäftsführer der Schweizer Medien, dem Verband der privaten Schweizer Medienunternehmen, ist er so etwas wie der natürliche Feind von Seibts Projekt. „Der Vorwurf von Seibt und Moser, dass sich die Schweizer Medienhäuser vom publizistischen Geschäft verabschieden, gilt nicht. Dies zeigt die große Medienvielfalt in allen Landesteilen der Schweiz. Die Schweiz verfügt im internationalen Vergleich über eine überaus facettenreiche Medienlandschaft – ob gedruckt oder elektronisch wozu ich auch die digitalen Kanäle zähle. Und sie ist auch nicht fundamental gefährdet“, sagt er auf Nachfrage. Insgesamt bezeichnet er die Initiative zwar als interessant, glaubt aber nicht an einen wirtschaftlichen Erfolg: „Obwohl ich die Planung nicht kenne, bin ich skeptisch, was die Kommerzialisierung angeht. Eine Anschubfinanzierung mag über ein Crowdfunding funktionieren. Für die Sicherung des Tagesgeschäftes taugt sie aber kaum. Bei dieser Methode profitiert man in erster Linie von der Sympathie für das Projekt. Professionelle Investoren findet man nur mit einem fundierten und realistischen Geschäftsmodell“, so Häuptli.

Hoffnung auf den Zeitgeist

Constantin Seibt kennt diese Kritikpunkte. Er weiß selbst am besten, dass sie zu wirtschaftlichem Erfolg verdammt sind, wenn sie das System verändern wollen. Nur ein lebensfähiges Projekt kann Nachahmer ermutigen und so nachhaltig den Journalismus verändern. „Die Hoffnungen und Erwartungen sind groß. Wir dürfen es einfach nicht vermasseln“, sagt der Journalist.

Die gute Nachricht für Seibt und seine Mannschaft ist – der Zeitgeist könnte ihnen in die Hände spielen. Seit Brexit und Trump ist die Nachfrage nach professionellem, anspruchsvollem Journalismus so groß wie lange nicht mehr. Und was, wenn es doch nicht klappt? „Dann müssen wir entehrt das Land verlassen, in die Provinz ziehen und in die Werbung gehen“, findet Seibt. Immerhin haben sie es dann versucht.

Michael Lünstroth

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