„Über den Wolken – Anleitungen zum Abheben“
So der Titel einer bemerkenswerten Ausstellung, die kommenden Sonntag im Kunstmuseum Thurgau auf dem Gelände der Kartause Ittingen eröffnet wird. Es geht um den Traum vom Fliegen, der sich seit Jahrhunderten durch die Menschheitsgeschichte zieht. Auch mehrere Werke des oberschwäbischen Flugpioniers und Erfinders Gustav Mesmer, der zeitlebens davon träumte, mit einem seiner Flugfahrräder zu fliegen, werden gezeigt. Hier geht es zur Pressemitteilung.
Die besten Strategien zur Überwindung der Erdenschwere scheinen momentan geistiger Art zu sein. In der Ausstellung „Über den Wolken – Anleitungen zum Abheben“ im Kunstmuseum Thurgau ist der Traum vom Fliegen annähernd so schön wie seine Erfüllung. Denn das Fliegen und die Kunst stehen für die Loslösung vom irdischen Hier und Jetzt und die Erkundung neuer Sphären. Sie bieten Raum für das, was größer ist als der Alltag, die eigene Wahrnehmung und unsere Gegenwart. Kunst beflügelt – wie die Werke aus der Sammlung und zahlreiche Leihgaben zeigen. Ein Höhepunkt sind dabei die fantastischen Flug-Velos des Tüftlers Gustav Mesmer.
Wind Nordost, Startbahn null-drei … So begann im Jahr 1974 Reinhard Mey seine Hymne an die Freiheit. Glücklicherweise ist das Flugzeug nur eines von vielen Mitteln zum Abheben. Bereits in frühen Kulturen versuchten die Menschen, den Flug der Insekten und Vögel zu imitieren und übertrugen ihn in Form von Ritualen und magischen Darstellungen auf den menschlichen Körper. Doch Überirdisches anzustreben war und ist riskant, wie schon die Hybris des Ikarus zeigte. In der Renaissance hatten solche Pläne wieder Hochkonjunktur und Universalkünstler nicht nur im übertragenen Sinn höhere Sphären im Kopf. Obwohl sich ihre Höhenflüge hauptsächlich am Reißbrett ereigneten, wurden sie zu Fixsternen für Generationen von Bastelnden, Träumerinnen und Tüftlern. Ein solcher war auch Gustav Mesmer (1903-1994). In der Psychiatrie experimentierte er mit Schwingen, Schirmen und Sprungschuhen aus einfachsten Materialien, um seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen: Er wollte mit dem Velo fliegen, die dunklen Wolken erklimmen.
Mesmers Jahrzehnte währende Transformationsversuche sind von einer Experimentierlust durchdrungen, wie sie auch in Roman Signers (*1938) poetischen Materialkonstellationen und -kollisionen beständig ausbalanciert, losgelöst oder entzündet wird. Auf diese Weise wurde in den 1970er-Jahren ein neuer Skulpturenbegriff ans Firmament der Kunst katapultiert. Mit lakonischem Witz, Raketen, Luftballons und Hubschrauber nahm Roman Signer 1985 in seinen „Aktionen“ auch den Luftraum über der Kartause Ittingen ein.
Erst von oben erschließt sich die Architektur der Klosteranlage, die eigens auf das asketische Dasein von Einsiedlermönchen zugeschnitten war, wie die von der Konzeptkünstlerin Daniela Keiser (*1963) gesammelten Luftaufnahmen zeigen. Jahrhundertelang war für Gläubige der Himmel moralische Instanz, Ziel und Zweck des irdischen Daseins. Alle Ängste, alle Sorgen, sagt man, blieben darunter verborgen …
Gustav Mesmer, Roman Signer und Daniela Keiser sind drei Beispiele, wie das Thema Fliegen und die Ausstellung „Über den Wolken – Anleitungen zum Abheben“ im Kunstmuseum Thurgau selbst Vergangenheit und Gegenwart, „Außenseiter“ und zeitgenössische Konzeptkunst zu verbinden vermag.
Auch wenn der göttliche Himmel weitestgehend ausgedient zu haben scheint – für die Kunst hat der Himmel nichts von seiner Magie verloren: Er steht für die Suche nach Spiritualität, Visionen und Gegenentwürfe und beflügelt die Vorstellungskraft noch immer. Vorstellungen vom Abheben bieten der Kunst bis heute traumhaft schöne wie tragische Motive und verleihen der Fantasie immer neuen Auftrieb.
In der Ausstellung nimmt der Traum vom Fliegen auf ganz unterschiedliche Weise Gestalt an: Engel, Vögel und Gleitschirmfliegerinnen, zaudernde Turmspringer und Sehnsuchtsgeschichten vom Loslassen, Anlaufnehmen und Entschweben werden zu Starthilfen für metaphorisches Abheben, philosophische Gedankenflüge oder kleine Alltagsfluchten. Manchmal ist der Traum vom Fliegen annähernd so schön wie seine Erfüllung – der Himmel kann warten.
Schließlich sind Vorstellungen vom Absprung und der Schwerelosigkeit für die Kunst nicht zuletzt so interessant, weil sie selbst für die Loslösung vom irdischen Hier und Jetzt und die Erkundung neuer Sphären steht. Sie bietet unendlich viel Raum für das, was größer ist als der Alltag, die eigene Wahrnehmung und unsere Gegenwart. Im Idealfall werden dabei – beim Fliegen und in der Kunst – Strukturen im großen Ganzen sichtbar. Und dann würde was uns groß und wichtig erscheint, plötzlich nichtig und klein.
Mit Werken von Joëlle Allet, François Burland, Andrea G. Corciulo, Helen Dahm, Danielson/Van Aertryck, Christoph Draeger, Othmar Eder, Gabriela Gerber & Lukas Bardill, Daniela Keiser, Marc Latzel, Gustav Mesmer, Rahel Müller, Ursula Palla, Oliver Pietsch, Margrit Roesch, Paul Schlotterbeck, Roman Signer, Bernard Tagwerker, Cécile Wick, Cristina Witzig u.a.
Die Vernissage findet am Sonntag, 9. Mai 2021 in drei Etappen statt. Jeweils um 11.30, 14 und 16 Uhr bietet die Kuratorin Stefanie Hoch eine Einführung an. Für jeden Zeitpunkt ist eine verbindliche Anmeldung erforderlich. Per Mail an sekretarit.kunstmuseum@tg.ch oder per Telefon 0041 58 345 10 60.
Die Sicherheit der Besucherinnen und Besucher ist dank eines Schutzkonzeptes und der weitläufigen Anlage und Räumlichkeiten gewährleistet. Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie alle Gäste sind angehalten, sich an die behördlichen Auflagen zu halten.
Die Ausstellung dauert bis zum 19. September 2021 und wird von einem Veranstaltungsprogramm begleitet. Informationen zu Führungen und anderen Vermittlungsangeboten finden sich – sobald bekannt – auf der Homepage www.kunstmuseum.ch.
Zur Ausstellung entsteht ein Vermittlungsheft, das in der Ausstellung ausliegt.
PM/hr (Bild: Stefan Hartmaier)
Kartause Ittingen – Kunst und Geschichte erleben
Das Ittinger Museum und das Kunstmuseum Thurgau bilden den Kern des Seminar- und Kulturzentrums Kartause Ittingen. Im idyllisch gelegenen ehemaligen Kloster bei Frauenfeld lebten während Jahrhunderten Mönchsgemeinschaften. 1977 wurde die weitläufige Anlage durch die eigens gegründete privatrechtliche Stiftung Kartause Ittingen erworben, restauriert und mit der Unterstützung von Partnern einer neuen Nutzung zugeführt. Das Betriebskonzept orientiert sich an den klösterlichen Werten Gastfreundschaft, Spiritualität, Selbstversorgung, Fürsorge und Kultur. Weitere Informationen finden Sie unter www.kunstmuseum.ch.
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Beitrag bei seemoz im Oktober 2010: „Er hatte ein fliegend‘ Herz“
Die Mesmer Stiftung: www.gustavmesmer.de