Was hat St.Gallen mit dem Sklavenhandel zu tun?

seemoz-SklavenEine Diskussionsrunde brachte Erstaunliches zu Tage: Auch in St. Gallen verdiente man vor 200 Jahren direkt oder indirekt am Sklavenhandel. Und steinerne Zeugen belegen noch heute, dass die Schweiz mehr mit dem blutigen Geschäft zu tun hatte, als manchem lieb ist: „ Auf den Spuren des Sklavenhandels in St.Gallen“ 

Das Klassenzimmer im Schulhaus Kirchgasse ist bestens gefüllt: Die von der Stiftung „cooperaxion“ veranstaltete Diskussionsrunde mit Hans Fässler (Historiker und Kabarettist), Urs A. Müller-Lhotska (Wirtschaftshistoriker) und Rainer Schweizer (Professor für Rechtswissenschaft) zu den Spuren der Sklaverei in St.Gallen stößt auf erstaunliches Interesse. Ein Besucher raunt: „Man würde nicht denken, dass die Auswüchse des Sklavenhandels bis nach St.Gallen reichten.“ Dass die wirtschaftlichen Verstrickungen von Imperialismus, Kolonialismus und Menschenhandel bis ins Innere der Schweiz reichten und Regionen wie das Glarnerland oder die Ostschweiz involviert waren, ist spätestens seit Fässlers Publikation «Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei» einer interessierten Öffentlichkeit bekannt.

Kohle ohne Kolonien

Obschon die Schweiz weder Kolonien noch Seeflotte besaß, waren auch helvetische Bürger und Akteure in den transatlantischen Menschenhandel verstrickt, waren die daraus resultierenden Profite vielseitig. Hans Fässler macht gleich zu Beginn der Veranstaltung klar: „Menschen, die in der damaligen Eidgenossenschaft lebten, waren auf unterschiedliche Weise involviert: Durch Finanzierung von Sklaverei-Schiffen (wie beispielsweise die Basler Familie Burckhardt), durch Handel, etwa mit Textilien, durch den Besitz von Plantagen (samt Sklaven) oder als Soldaten im Dienste von Kolonialmächten, die an der Niederschlagung von Sklavenaufständen beteiligt waren.“

Die Handelsstadt St.Gallen unterhielt dank der seit dem 13. Jahrhundert ansässigen Leinwandindustrie früh ökonomische Beziehungen in ganz Europa und darüber hinaus. Textilkaufleute der Stadt und Umgebung wie die Zyli, Zollikofer, Zellweger, u.a., beteiligten sich seit dem 18. Jahrhundert im internationalen Geschäft mit überseeischen Destinationen. Inwiefern sie dabei auch am sogenannten Dreieckshandel mit Sklaven beteiligt waren, darüber sind sich die Historiker uneinig.

Ein St. Galler Bürger, der Handelsmann Jakob Laurenz Gsell, der 1836 mit 20 Jahren nach Rio de Janeiro ging, war einer von ihnen. In Rio war er zunächst für ein deutsches und später französisches Kaufmannshaus tätig, bevor er 1844 zusammen mit dem St. Galler Jakob Friedrich Billwiller eine eigene Handelsfirma namens „Billwiller, Gsell & Co.“ gründete, die Stoffe im- und Kaffee exportierte. Gsell selber besaß während seines sechzehnjährigen Aufenthaltes in Rio die drei Haussklaven Antonio, Joaquin und Thomaz. Das geht aus seinen über 100 Briefen hervor, die er an seine Mutter in der Ostschweizer Heimat schickte.

Auswanderung aus wirtschaftlicher Not

Der Historiker Urs A. Müller-Lhotska zeichnet in seinem Buch über Jakob Laurenz Gsell ausführlich dessen globale Geschäftstätigkeiten nach. Dabei stützt er sich auf die von der Familie Gsell transkribierten Briefe, welche heute im St.Galler Staatsarchiv einsehbar sind. Müller betont in der Diskussionsrunde die Motivation der Schweizer, die damals in der Fremde ihr (finanzielles) Glück suchten: „Man muss verstehen, warum die Leute damals ausgewandert sind. Das war aus reiner Not – hier hatten sie keinerlei wirtschaftlichen Möglichkeiten“. Ein Argument, welches heute im Zusammenhang mit Migranten und Migrantinnen, die aus wirtschaftlichen Gründen aus ehemaligen Kolonialstaaten Richtung Europa strömen, gesellschaftlich kaum mehr akzeptiert ist.

„Die Sklaverei gibt es schon so lange, wie es die Menschheit gibt“, meint Müller-Lhotska; der einzige Unterschied bestehe darin, welche Institutionen jeweils an der Macht seien. Deshalb mache es auch wenig Sinn, einzelne Personen herauszupicken und an den Pranger zu stellen. Letztlich ist es Zufall, von welchen Akteuren überhaupt Informationen über Geschäftsbeziehungen und kulturelle Gegebenheiten überliefert sind: Gsells Briefe blieben erhalten; während andere in den Sklavenhandel verstrickte Schweizer keine Spuren hinterließen und somit aussagekräftige Zeugnisse fehlen.

„Wir müssen über Sklaverei reden“

Weshalb es heute unabdingbar ist, den Spuren zu folgen und sich mit dem Unrecht der Vergangenheit auseinanderzusetzen, macht Strafrechtsprofessor Rainer Schweizer klar: „Wir müssen über Sklaverei reden, um uns bewusst zu machen, was heute geschieht“. Der jüngst erschienene Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation IAO (einer Sonderorganisation der vereinten Nationen) kommt zum Schluss, dass heute weltweit über 21 Millionen Männer, Frauen und Kinder zu Zwangsarbeit, Schuldknechtschaft oder Arbeit in sklavereiähnlichen Bedingungen gezwungen werden. „Wir haben ein andauerndes Problem mit Zwangsarbeit. Es braucht große Anstrengungen, um dies zu ändern. Dazu gehört auch Auseinandersetzung mit Vergangenheit.“

So ist auch der zweite Teil der Veranstaltung am Nachmittag, ein Stadtspaziergang mit Hans Fässler, mehr Erinnerungsarbeit denn minutiöse Spurensuche. An drei Schauplätzen zeigt der St.Galler Historiker auf, wie die Ereignisse in der Zeit der Sklaverei und der Apartheid bis hierher reichen. Am Beispiel der heutigen Dürrenmattstrasse im Lachen-Quartier, welche vor ihrer Umbenennung dem Vordenker der Apartheid, Paul Krüger, huldigte, legt Fässler unterschiedliche Umgangsweisen mit vergangenem Unrecht dar.

Auf der Kreuzbleiche erinnert Fässler, umgeben von fussballspielenden Jugendlichen, an die Ostschweizer Textilindustrie, die mit dem Aufkommen der Baumwolle indirekt von Sklavenarbeit auf Plantagen profitierte. Dabei kommt der engagierte St.Galler auf die Diskussion rund um die Aufarbeitung und Wiedergutmachung von Sklaverei und Sklavenhandel zu sprechen. In einem Vorstoss der SP-Politikerin Claudia Friedl wird eine Stellungnahme des Bundesrats verlangt, in welcher Weise dieser gewillt sei, sich dem Thema anzunehmen und konkrete Schritte einzuleiten. Hans Fässler betont, ihm gehe es dabei nicht um konkrete Geldbeträge, sondern primär um den Prozess der Aufarbeitung. Beim Autobahnanschluss Kreuzbleiche erinnern zum Schluss Reste der Einfriedung an die Villa von Jakob Gsell.

Autorin: Katharina Flieger/www.saiten.ch