Wenn das Chaos in der Schweiz ausbricht

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Eine riesige dunkle Wolke ballt sich über der Schweiz zusammen, und plötzlich sind es flüchtende Schweizer, die vor verriegelten Grenzen stehen. Der Film «Heimatland» zeigt eine Zukunftsvision, die jetzt gerade unheimliche Bezüge zur Realität hat: Plünderungen in Zürich. Bewaffnete Bürgerwehren im Schwyzer Hinterland. Schlägereien um WC-Papier in der Migros.

Leute, die sich in ihren Häusern oder in Luftschutzbunkern verschanzen. Noch ein letztes Mal fressen, saufen, ficken!  Und das alles nur wegen einer großen, dunklen Wolke. Mit dieser Wolke, die sich über der Schweiz zusammenbraut, beginnt der Episodenfilm Heimatland. Woher die Wolke kommt, ist unklar. Schnell wird aber klar, dass sie sich mit biblischer Gewalt über dem Land entladen und wohl massivste Verwüstung hinterlassen wird. Und, erstaunlich, dass sie nur über der Schweiz hängt. An den Grenzen zu den Nachbarländern macht die Todeswolke plötzlich Halt.

In neun Erzählsträngen, die sich laufend abwechseln, wird gezeigt, wie sich die Schweizer Bevölkerung angesichts der drohenden Katastrophe verhält. Sagen wir es mal so: Wirklich cool bleibt niemand.

Junge Männer mit geladenen Gewehren

Da sind etwa die Bewohner eines Dorfes im Kanton Schwyz: Von einem Hetzprediger namens Gwerder (im Titelbild) lässt sich eine Handvoll junger Männer dazu anstacheln, die Sturmgewehre aus den Kellern zu holen und die Hauptstrasse zu bewachen. „Wenn der Sturm losbricht, werden sie kommen, die fremden Fötzel“ belfert Gwerder den Männern in der Beiz zu. „Aber nicht um uns zu helfen, sondern um uns noch das Letzte wegzunehmen“. Junge, gelangweilte Männer mit geladenen Gewehren in einer Extremsituation: Das kommt meistens nicht gut. Tut es auch im Film nicht, so viel sei hier verraten.

Oder da ist der Verwaltungsrat einer großen Versicherung: „Wenn dieser Sturm übers Land gezogen ist, sind wir pleite. Unsere Aktiva reichen bei weitem nicht, um solche Schäden zu zahlen“, warnt einer aus dem Gremium. Was tun? Statt zu entscheiden, hetzen die Bosse eine Sekretärin quer durchs das Unternehmen, um den Meteorologen aufzutreiben, der Rat weiß. Doch der hat sich offenbar verkrochen, ist nicht auffindbar.

Oder da ist der Manager einer Migros-Filiale, der austickt, nachdem die Kunden seinen Laden gestürmt haben: Einen Mann, der den Laden erst verlassen will, wenn er eine Flasche Wasser bekommt, kickt der Filialleiter mit voller Wucht ins Gesicht.

Zehn Regisseure für einen Film

Es ist ein düsterer Film geworden – und das liegt nicht nur an der dunklen Wolke, die sich vor die Sonne schiebt. „Am Anfang stand die Idee, ein Unbehagen auszudrücken, das uns angesichts der politischen und gesellschaftlichen Situation in der Schweiz erfasst hatte“, sagt Stephan Eichenberger, Produzent des Films. Die Wolke sei ein Sinnbild dafür.

Außergewöhnlich ist, dass an Heimatland zehn Regisseurinnen und Regisseure – alle zwischen 30 und 40 Jahre alt – mitgearbeitet haben. „Anfangs hatten wir 23 Episoden von verschiedenen Regisseuren auf dem Tisch, davon haben wir dann neun ausgewählt“, sagt Eichenberger. Zehn Regisseure, das bedeutet auch zehn Perspektiven auf die Schweiz. „Die unterschiedlichsten Gesichter unseres Landes sollten nebeneinander gestellt werden und so eine Vielschichtigkeit ergeben, die erahnen lässt, was uns alle verbindet“, sagt Michael Krummenacher, einer der beteiligten Regisseure und Mitinitiant des Filmprojekts.

Von der Realität eingeholt

Dieses Spiegelbild, das im Film von den Schweizerinnen und Schweizern (übrigens praktisch alle von Laiendarstellern gespielt) entsteht, ist nicht schmeichelhaft: Jeder schaut nur auf sich und lässt sich von der Angst auch zu Gemeinheiten hinreißen. Andere, etwa eine alleinstehende Frau in einem Wohnblock, scheinen dem Ende gelassen entgegen zu sehen, ja sich fast darauf zu freuen.

Einen Coup landen die Filmemacher mit dem Kurzauftritt des Genfer Soziologen und unermüdlichen Schweiz-Kritikers Jean Ziegler. Die Schweiz werde nun gerichtet für Verfehlungen der vergangenen Jahrzehnte und des Zweiten Weltkrieges, sagt dieser gegenüber Fernsehjournalisten.

Schließlich bricht die Flüchtlingswelle los, und hier wird der Film endgültig beklemmend: Da stehen plötzlich Schweizer Frauen und Männer mit Kleinkindern auf dem Arm und einem Sack voller Kleider vor verschlossenen Grenzen in Diepoldsau – eine genaue Spiegelung der Nachrichtenbilder von Flüchtlingen, die uns derzeit täglich erreichen. „Während der Arbeit wurden wir immer wieder von der Realität eingeholt“, sagt Eichenberger zum scheinbar perfekten Timing des Films. Ein anderer solcher Einschnitt sei etwa die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative im Februar 2014 gewesen.

Für Heimatland, der bereits am Filmfestival Locarno für Aufsehen gesorgt hat, kommen solche Zufälle des Zeitgeschehens natürlich wie gerufen: Der Anspruch des Teams hinter dem Film sei es, eine Diskussion anzuzetteln, sagt Eichenberger. „Je größer unser Publikum ist, desto eher passiert das auch.“ Eine erste Auszeichnung für den Film gab es bereits: Heimatland hat kürzlich den Berner Filmpreis in der Kategorie ‚Bester Spielfilm‘ erhalten.

Premiere am 11. November um 20 Uhr im Kino St. Gallen in Anwesenheit der Regisseure Lisa Blatter, Jan Gassmann und Michael Krummenacher.

Urs-Peter Zwingli (Dieser Text erschien zuerst auf www.saiten.ch.)