Engagiert und widerspenstig: Wer wars? (68)

Die humanitär Enttäuschte

Sie besaß eine solide Ausbildung als Krankenschwester und wollte mitanpacken – deshalb hatte sie sich ja auch für einen Freiwilligeneinsatz in Südfrankreich gemeldet. Dass sie hier nun aber aus dem Stand die Leitung eines Kinderheims übernehmen sollte, jagte der Dreißigjährigen einen ziemlichen Schrecken ein. Der Zentralsekretär der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft für kriegsgeschädigte Kinder (SAK), Rodolfo Olgiati, hatte sich zuvor jedoch erkundigt über die 1911 in Glarus geborene Kondukteurstochter. Sie beherrschte drei Sprachen, hatte medizinischen Sachverstand und verfügte über Auslandserfahrung (unter anderem war sie zwei Jahre bei Albert Schweitzer in Gabun gewesen).

Und so schickte man sie 1941 in die SAK-Kinderkolonie La Hille bei Toulouse. In dem alten Schloss, in dem es keinen Strom und keine Heizung gab, lebten rund hundert jüdische Flüchtlingskinder aus Deutschland, Österreich und Polen, die sie nun zu verpflegen, zu kleiden und zu schützen hatte.

Als im August 1942 Nazi-Deutschland die Deportation der im Süden Frankreichs lebenden JüdInnen über sechzehn Jahre anordnete, schaffte sie es, die bereits in ein Sammellager verschleppten 45 Jugendlichen nach La Hille zurückzubringen. Ihre verzweifelten Appelle, die gefährdeten Schützlinge in die Schweiz zu holen, liefen jedoch ins Leere: Die SAK, inzwischen dem Schweizerischen Roten Kreuz SRK angegliedert und damit dem Militär unterstellt, war von der rigiden Flüchtlingspolitik des Bundesrats abhängig – und dort meinte man, angesichts der „Überbevölkerung“ ein „Judenproblem“ in der Schweiz verhindern und die Grenzen schließen zu müssen. Legale Rettungsmöglichkeiten gab es nun keine mehr. Die Heimleiterin stattete die Kinder und Jugendlichen mit Geld aus und ließ  sie von FluchthelferInnen über die Grenze in die Schweiz schleusen. Als eine dieser Aktionen aufflog, verlor sie, längst desillusioniert von der humanitären Schweiz, ihren Job.

Danach war sie noch eine Zeit lang in der Flüchtlingshilfe tätig, unter anderem als stellvertretende Leiterin des Zentrums Henri Dunant in Genf. Dann aber zog sie mit einer Freundin nach Dänemark und betrieb dort einen Bauernhof.

Wer war die von Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrte und 1996 in Glarus verstorbene Krankenschwester, die ihre Fluchthilfe nicht als Akt des Widerstands, sondern als reine Verzweiflungstat wertete?

Text und Bildcollage: Brigitte Matern

Die Auflösung erscheint am nächsten Dienstag.