Aus der Werkstatt der Reaktion (Teil 2)

Welchen Anteil hatte die Weimarer Republik selbst an ihrem Untergang? Welche Rolle spielte die Unterschätzung des fortwirkenden Militarismus preußischer Herkunft und des Bestrebens, die deutsche Großmachtrolle zurückzugewinnen? Wie verhielten sich die Sachwalter des gedruckten Wortes dazu – die Buchhändler und deren Standesorganisation? Ein überaus dunkles Kapitel, in das der Historiker Helmut Donat Licht bringt.

Stammbuch der Reaktion

Im Börsenblatt mehrten sich nationalistisch und alldeutsch inspirierte Literaturprodukte. Dazu gehörte unter anderem die Reklame für das Buch Germania – ein Frühlingstraum. Eine Rezension aus der Deutschen Zeitung diente offenbar dazu, dem Machwerk eine besondere Weihe zu verleihen: „Fürwahr“, hieß es in dem vom Börsenblatt wiedergegebenen Zitat, „es muss Frühling gewesen sein, als es verfasst; so schön kann man nur im Frühling schreiben, so frühlingswund und ahnungsfroh … Und dann erleben wir einen Freiheitskampf, so lebendig und begeisternd wie damals, als wir hinauszogen. Eichenlaub am Helm und Röslein an der Brust, und vergessen ist alles andere, ist Schmach und Verrat. Glücklich, wer so träumen kann. Der deutschen Studentenschaft ist’s Werk gewidmet. – Wolle Gott und unsere Jugend, dass der Traum wahr wird!“

Chauvinistischer Schmonzes – auf dem Niveau von Hedwig Courths-Maler, der damals beliebtesten deutschen Romanschriftstellerin, angesiedelt und der reaktionär-militaristisch verseuchten deutschen Studentenschaft und Jugend ins Stammbuch geschrieben! In Erinnerung an das „Augusterlebnis von 1914“ und, wie gehabt, erneut mit einem deutschnational gesinnten Christengott im Rücken!

In einem anderen Inserat, vom Börsenblatt in seiner Ausgabe vom 6. September 1920 publiziert, heißt es: „Soeben erschienen! Deutschlands Wiederaufrichtung 1925 und ein neues Königtum? Neueste Vorhersagen eines westfälischen Spökenkiekers (Geistersehers): Das interessanteste Buch seit 1914. Friedliche Wiederaufrichtung Deutschlands – Königreich Lothringen. – Englisch-amerikanischer Krieg gegen Japan – Der Papst König von Italien!!!“ Weissagungen mit dem Ziel, Deutschlands Größe wiederherzustellen in einem neuen Königreich mit den früheren „Reichslanden Elsass-Lothringen“. Wie das alles friedlich vonstatten gehen soll, bleibt das Geheimnis des Autors und „Spökenkiekers“. Wie blödsinnig auch immer es erscheinen mag – Hauptsache: „Deutschland erwacht wieder!“

Ebenfalls auf revanchistischem Gleis bewegt sich das Weihnachtsbuch 1920 mit dem Titel Im Felde unbesiegt. Es propagiert, „dem deutschen Volke wieder Vertrauen zu sich selbst zu geben“. Schriftsteller und „30 treffliche Mitkämpfer“ sind in ihm mit Beiträgen versammelt, „an ihrer Spitze Hindenburg und Ludendorff“. Auch hier das Bestreben, „ein Volksbuch zu schaffen“. Im Vordergrund steht die Zukunftsperspektive: „Wenn wir erst wieder von dem Glauben an die eigene unverwüstliche Kraft durchdrungen sind, werden wir uns als Nation durchsetzen.“ So der Wortlaut des Inserats des nationalistisch-völkischen und während des Weltkrieges für maßlose deutsche Annexionen engagierten Münchner Verlags J. F. Lehmann, vom Börsenblatt am 6. Oktober 1920 in seiner Ausgabe Nr. 226 veröffentlicht. Statt Selbstkritik nimmt – wie bei allen nach 1918 erschienenen kriegsverherrlichenden und für neue Kriege plädierenden Schriften – auch hier die Mystifikation des bankrotten Regimes einen besonderen Platz ein. Die schimmernde Wehr, an der man sich einst orientiert und aufgerichtet hat, will man zu früherer Stärke zurückführen und in neuen Glanz tauchen. In diesem Weltbild haben der Pazifismus oder Gedanken an Völkerverständigung weiterhin keinen Platz; wer sich aber erlaubt, solchen Ideen das Wort zu reden, der muss damit rechnen, als „Landesverräter“ an den Pranger gestellt und bekämpft zu werden. Dazu gehört es, von dem „Glauben an die eigene unverwüstliche Kraft“ weiter durchdrungen zu sein. Von einem Neuanfang oder einer Umkehr des Denkens ist nichts zu spüren.

Als kennzeichnend für die Stimmung im Lande mag ein Vorfall in Berlin 1922 gelten. Die Komische Oper kündigte ihre Große Revue mit einem Plakat an den Anschlagsäulen an. Es zeigte drei Soldaten, einen Deutschen, einen Engländer und einen Franzosen, die sich die Hand reichen. Das war den bürgerlichen Parteien schon zu viel, und so forderten sie in der Stadtverordnetenversammlung den Magistrat auf, dafür Sorge zu tragen, dass das Plakat sofort wieder verschwinde. Man mag einwenden, das sei ein Einzelfall gewesen – aber war das wirklich weit entfernt von den Devisen „Viel Feind’, viel Ehr’!“ oder „Mit Gott für König und Vaterland!“?

Vor diesem Hintergrund wird die Haltung des Börsenblatts mehr als offenkundig: G. F. Nicolais Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Hohenzollernregimes sowie mit dem nach 1918 fortwuchernden Militarismus gilt der Redaktion als deutschfeindlich, während der grobe Unfug irregeleiteter Monarchisten und Revanchisten, die sich und die Welt mit erneuter deutscher Größe beglücken wollen, als zukunftsweisend gepriesen wird und keinen Anstoß erregt.

Was Nicolai bewegte, trieb auch andere um, etwa Kurt Tucholsky, der in seiner Besprechung von Erich Kuttners Versen verdeutlichte, worauf es ankomme: „Auf die Erinnerung, die nie vergehen soll.“ Und der bereits zitierte Buchhändler urteilte – ganz im Sinne Tucholskys – im Oktober 1920: „Der preußische Militarismus war gleich nach der Revolution – wenn auch in etwas veränderter Gestalt – wieder Trumpf und ist es bis heute! Verschließen wir doch nicht die Augen vor dieser Tatsache! Wie lange das so weitergeht – wer kann das wissen?“ Eine Frage, die angesichts des bis heute geleugneten, verharmlosten oder einfach unterschlagenen Anteils des preußisch-neudeutschen Militarismus an den Grausamkeiten und Brutalitäten des Dritten Reiches nichts an Aktualität eingebüßt hat!

Der nach 1945 vielbeschworene „Auszug des Geistes“ begann in Deutschland nicht mit 1933, sondern nahm – wie der „Fall Nicolai“ und andere belegen – bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik seinen Anfang. Dem deutschen Buchhandel, dem Börsenblatt sowie dem Verband des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels kommt dabei eine bislang kaum thematisierte Mitverantwortung zu.

Die Ablehnung des Inserates von Georg Friedrich Nicolais Schrift Sechs Tatsachen als Grundlage zur Beurteilung der heutigen Machtpolitik (1919) war begleitet von einer Hetze der Alldeutschen Blätter gegen den Freien Verlag und Hugo Ball, seinen literarischen Leiter. Nicht besser erging es einem weiteren bedeutenden Kritiker der kaiserlichen Kriegsverursachung und -politik, der ebenfalls 1919 ins Fadenkreuz der Zentralstelle des deutschen Buchhandels geriet. Es handelt sich um Richard Grelling, wie Nicolai eine herausragende Persönlichkeit im Kampf gegen das nationalistisch-militaristische Deutschland vor und während des Ersten Weltkrieges sowie in den Jahren danach. Grelling ist seit 1915 bis zu seinem Tode im Jahre 1929 der deutschland- und weltweit beste Kenner der Julikrise und Kriegsschuldfrage 1914 gewesen.

Friedensworte

Richard Grelling

1853 in Berlin geboren, hing er den Idealen des demokratischen Bürgertums an. Zunächst trat er als Autor sozialer Dramen und Mitbegründer der Literarischen Gesellschaft der Hauptstadt hervor. Am Gelingen der Gründung der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG) 1892 hatte er neben Bertha von Suttner und Alfred Hermann Fried wesentlichen Anteil. Als Vizepräsident der DFG warnte er in seiner vielbeachteten Schrift Quousque tandem! Ein Friedenswort (1894) vor den Folgen ständiger Rüstung und forderte deren allgemeinen Stopp; zugleich warb er für eine internationale Schiedsgerichtsbarkeit. Vor der Jahrhundertwende gab er seine politisch-publizistische Tätigkeit auf. Um 1903 erwarb er ein Landgut bei Florenz.

Aus der Idylle eines abgeschiedenen Daseins im Juli/August 1914 aufgeschreckt, erkannte Grelling, dass das Kaiserreich keinen Verteidigungs-, sondern einen Eroberungskrieg führte. Von August bis Oktober 1914 in Berlin, entschloss er sich, gedrängt von führenden Sozialdemokraten wie Eduard Bernstein, Hugo Haase und Karl Kautsky, seine persönliche Freiheit im Ausland zu nutzen, um dem deutschen Volk die Verantwortung des Führungspersonals der Reichsleitung für den Weltkrieg zu enthüllen. Seine Anfang 1915 in der Schweiz publizierte Anklageschrift J’accuse! (Ich klage an!), rasch in zahlreiche Sprachen übersetzt, wurde ein Welterfolg. Mit seinem Werk prägte er im und nach dem Ersten Weltkrieg die Haltung großer Teile der Friedensbewegung und ihr nahestehende linksoppositionelle Kreise. Im Kaiserreich verboten die Militär- und Zensurbehörden das Buch; Grelling sah sich „als bezahlter Soldschreiber des Feindbundes“ diffamiert. Tatsache war jedoch, dass er für einen Großteil der Druck- und Herstellungskosten seines J’accuse! selbst aufkommen musste. Im Mai 1918 klagte ihn der Oberreichsanwalt in Abwesenheit wegen versuchten „Landesverrats“ an. Seit 1915 war er in der Schweiz als Vertreter der deutschen Emigranten tätig und klagte in der Freien Zeitung die deutsche und österreichische Schuld am Weltkrieg weiterhin als Verbrechen an. Als Grelling im November 1918, inzwischen Mitglied der USPD, Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann seine Dienste anbot, ließen diese ihn ins Leere laufen. Auch der Parlamentarische Untersuchungsausschuss, zur Prüfung der Kriegsschuld eingesetzt, lehnte den Verfasser des Buches J’accuse! und weiterer Publikationen als Sachverständigen ab. Rudolf Breitscheid, ebenfalls ein Gegner der Kriegspolitik und 1918/19 preußischer Innenminister, stellte dazu fest: „So bleibt auch hier nichts anderes als die Furcht vor einem Mann, der die wilhelminische Regierung belasten könnte, und diese Belastung wünschen die Männer an der Spitze der Republik und wünschen die Vertreter der in der Nationalversammlung maßgebenden Parteien nicht, weil sie den Nachweis ihrer eigenen Mitschuld vermeiden möchten.“

In der Weimarer Republik boykottiert, fand Grelling für große Werke keinen Verleger. So veröffentlichte er zwei seiner Manuskripte in Paris, gefördert von der angesehenen Société de l’histoire de la guerre (La Campagne innocentiste en Allemagne, 1925, und Comment la Wilhelmstraße écrivait l’histoire pendant la guerre, 1928). Die NS-Propaganda warf ihm Fälschungen von „talmudischer Gerissenheit“ vor. Um so eindringlicher warnte er vor der weitverbreiteten Unschuldspropaganda: Der preußisch-deutschen Machtpolitik vor 1914 verbunden, bewirke sie faktisch den Untergang der Republik und stelle sie die tiefere Ursache für einen erneut von Deutschland entfachten Weltkrieg dar. In Videant consules … oder die Gefahren der Unschuldskampagne (1926) forderte er, dieser Entwicklung Einhalt zu gebieten.

Deutlich erkannte auch der Publizist und Pazifist Hellmut von Gerlach, wie sich vor allem auf dem Boden des Kampfes gegen die angebliche „Kriegsschuldlüge“ der völkische und faschistische Ungeist ausbreitete. Scharfsinnig schrieb er in dem Artikel Grelling und Hitler im September 1932 in Friedrich Wilhelms Foersters Halbmonatsschrift Die Zeit: „Nie wäre Hitler der Machtfaktor geworden, der er heute ist, wenn die Republik 1918 den Schnitt mit der Vergangenheit vollzogen hätte (…). Die deutschen republikanischen Machthaber aber zogen nicht den Strich zwischen sich und den Verantwortlichen von 1914, wohl aber zwischen sich und den paar Deutschen, die seit 1914 im Kampf gegen die kaiserliche Kriegspolitik standen. Statt die Wahrheit über die Ursachen des Kriegsausbruchs in den breitesten Schichten des Volkes zu verbreiten, ließen sie die Unschuldskampagne der Nationalisten die Massen vergiften. Sie säten nicht die Wahrheit. Darum konnte Hitler die Früchte der Unwahrheit ernten.“ Nach der NS-Machtergreifung landeten J’accuse! und Grellings Werke auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung.

Der lange Arm der Reaktion

Am 30. September 1919 teilte die Redaktion des Börsenblattes dem Berliner Verlag Neues Vaterland mit, das Inserat zu dem Buch J’accuse! nicht „veröffentlichen zu können, da es sich um ein verbotenes Werk handelt. Das Buch wird ferner als schwere Schädigung des deutschen Ansehens betrachtet, und (so) bedauern wir auch aus diesem Grunde, von einer Veröffentlichung Abstand nehmen zu müssen.“ Die Entscheidung des Börsenblattes war ein erneuter Schlag ins Gesicht aller kriegsoppositioneller Deutscher. Ihrem Bemühen, das deutsche Volk über die Schuld der verantwortlichen Politiker und Militärs am und im Weltkrieg aufzuklären, schob das Blatt einen Riegel vor. Doch verstand sich die Börsenblatt-Redaktion nicht einfach nur als eigenständige politische Zensurinstanz. Vielmehr stützte sie sich bei ihrer Entscheidung auf die Zustimmung, so ihre Erklärung, „übergeordneter Stellen“ in Berlin.

Bereits im Januar 1919 sah sich der Leipziger Vertreter des Berner Freien Verlags infolge eines amtlichen Zirkulars genötigt, bei der Deutschen Botschaft in Bern Protest einzulegen, ohne dass dabei etwas herauskam. Nun, so mutmaßte die Freie Presse, verstehe sich die Redaktion des Buchhändler-Börsenblattes „wohl ebenfalls nicht ohne höhere Ermutigung“ als Zensurstelle, indem es „ganz im Sinne der Monarchisten, für die sich ja durch die Revolution nichts geändert hat, ein Buch für ‚verboten’ und für ‚eine schwere Schädigung des deutschen Ansehens im Auslande’“ erkläre. Vielmehr sei das Gegenteil der Fall. Denn die tatsächliche Wirkung von Grellings J’accuse! bestehe darin, „durch Verbreitung der Wahrheit über die Urheberschaft an der Weltkatastrophe sehr erheblich zur Ehrenrettung des deutschen Volkes beigetragen zu haben. So ist noch heute die Mentalität der offiziellen Vertretung des Buchhandels beschaffen, oder darf man vielmehr sagen: So stark ist der Wink militärischer Stellen in der angeblichen Revolutionsregierung? (…) Ein neues Zeichen aber auch, wie weit der Arm der preußischen Reaktion reicht!“

Text und Bildmaterial: Helmut Donat
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf: www.jungewelt.de

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