Carl von Ossietzky – Verfassungstreuer Landesverräter
Vor 90 Jahren, am 23. November 1931, wurde Carl von Ossietzky (1889–1938) von einer republikfeindlichen Justiz wegen angeblicher Verbreitung militärischer Geheimnisse zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Wir erinnern an ihn mit einem Text des Historikers Helmut Donat zur Aktualität eines Rüstungskritikers und Friedensnobelpreisträgers
Es ist merkwürdig still geworden um Carl von Ossietzky. Die Erinnerung an ihn droht zu verblassen. Seine Kritik an einer deutschen Außenpolitik, die sich auf gewaltorientierte Maßnahmen stützt, ist unerwünscht. Sie gehört inzwischen zu dem Tabu einer neuen deutschen Europa- und Weltpolitik, die sich in erster Linie nicht daran orientiert, zivile Projekte zu unterstützen, sondern auf waffengestützte Methoden zurückgreift. Auch in innenpolitischer Hinsicht dürfte es sich als schwerer Fehler erweisen, Ossietzky erneut „links“ liegenzulassen oder gar als „Störenfried“ abzutun. Von einer sozial gerechten Republik, für die er nicht zuletzt im Interesse der „kleinen Leute“ gestritten hat, sind wir weit entfernt – es herrscht Lehrer- und Wohnungsmangel, die Mieten steigen ins Unermessliche, die Alters- und Krankenpflege liegen im argen, Kindergartenplätze fehlen en masse, Schulen, Straßen und Brücken verrotten, viele Schwimmbäder werden geschlossen.
Ossietzky hat einst vor den für eine Demokratie verheerenden politischen Folgen einer solchen Misere gewarnt. Er wurde nie müde, deutlich zu machen, in welchem Ausmaß sich die Weimarer Republik von dem Anspruch entfernte, den vielen verarmten, deklassierten, arbeitslosen, ins Abseits gestellten Menschen zu helfen – und statt dessen mehr Geld für die Rüstung, für eine trügerische und gefährliche Wehrhaftmachung ausgab, ehemals regierenden Fürsten, darunter den Hohenzollern, staatlichen Besitz als privates Eigentum zusprach, die ostelbischen Großgrundbesitzer mit einem grandiosen Subventionsprogramm sanierte und überhaupt die Reichen bevorteilte. Hinzu kamen – wie heute in der Coronakrise – politische Entscheidungen ohne Weitsicht und Entschlusskraft, ein viel zu laxer Umgang mit Verschwörungsideologien wie der Dolchstoßlegende oder dem Märchen von der Unschuld der zivilen und militärischen Reichsleitung des Kaiserreichs an der Entfesselung des Ersten Weltkrieges.
Genesis der deutschen Reaktion
Ebenso früh warnte Ossietzky schon 1920 vor einer „Genesis der deutschen Reaktion“, ihrer deutschtümelnden Primitivität, Dreistigkeit, Vitalität und vor ihrem Ziel, sich „ihr“ Land zurückzuholen und ihm den Stempel aufzudrücken. Den Demokraten hielt er vor, keine Größe und kein Temperament zu haben, ohne Schwung und Selbstvertrauen zu sein, vom Kompromiss und von Konzessionen an nationale Gepflogenheiten und militärische Mentalitäten zu zehren, zu wenig zur Verteidigung republikanischer Errungenschaften und Traditionen zu tun – und sich nicht oder viel zu wenig der sozialen Probleme anzunehmen. Auch empfand er ihre Haltung, Grenzen revidieren oder schützen zu wollen, statt sie zu überwinden und unsichtbar zu machen, als antieuropäisch. Wie kommt es, dass sich viele politische Meinungsträger, die politische Bildung sowie die Traditionspflege nicht an Ossietzky, sondern mehr an den widerständigen Offizieren des 20. Juli 1944 orientieren, die nicht aus demokratischer Überzeugung handelten und sich sogar für antisemitische Einflüsse offen zeigten?
In einem Punkt ließ Ossietzky nicht mit sich reden. Für eine Politik, die sich bei der Lösung von Konflikten auf das Militär stützen wollte, war er nicht zu haben. Gleiches würde heute für den Export von Rüstungsgütern und Waffensystemen in Staaten und Regionen gelten, in denen die Gewalt ohnehin Orgien feiert. Dass Militärs und nicht der Bürger ohne Uniform den Takt vorgaben, hielt er für ein besonderes Übel. Dazu gehörten insbesondere die geheimen Rüstungen der Reichswehr, die er aufzudecken gedachte.
Die Reichswehrführung unter den Generälen Hans von Seeckt von 1920 bis 1926 und Wilhelm Groener, 1920–23 Reichsverkehrsminister, 1928–1932 Reichswehrminister und 1930/31 zugleich Reichsinnenminister, akzeptierten die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs nicht und arbeiteten zielstrebig daran, sich „selbstverständlich alles wieder(zuholen), was wir verloren haben“, so Seeckt 1925. Im selben Jahr ließ er, wie in Wolfram Wettes Buch Militarismus in Deutschland (2008) nachlesbar, einen „Großen Plan“ entwerfen für ein Heer der Zukunft, das 28mal größer sein sollte als das 1919 den Deutschen von den Siegermächten zugestandene von 100.000 Mann. Das entsprach also einer Stärke von 2,8 Millionen Mann, auf die Hitler im September 1939 zurückgreifen konnte.
Groener, in der Endphase des Ersten Weltkrieges als Nachfolger von Erich Ludendorff Generalquartiermeister in der 3. Obersten Heeresleitung unter Hindenburg, hing ähnlichen Ideen an. Im Herbst 1919 warnte er Reichspräsident Friedrich Ebert von der SPD vor einer „Selbsttäuschung pazifistischer Ideologien“. Und: „Nur im dauernden Kampf um das Leben werden die geistigen und sittlichen Kräfte gestärkt und gestählt, die allein die Schwingen bilden für den Aufstieg eines Volkes.“ Ein Volk, das gegen „dieses Naturgesetz“ verstoße, „ist innerlich krank und zum Niedergang bestimmt. Falsche Propheten sind es, die dem Volke empfehlen, im Kampf ums Dasein auf die Stählung und Anwendung auch der physischen Kräfte zu verzichten.“ Deutschland, so Groeners Empfehlung an Ebert, habe sich „als großes Volk“ erwiesen, „das nicht niedergehen will, das am Willen zum Kampf ums Dasein festhält und diesen Kampf mit den Völkern der Erde wieder aufnimmt in dem Maße und mit den Mitteln, die ihm vernünftigerweise nach dem Zustand seiner Kraft zu Gebote stehen“. Doch statt Groener und dessen sozialdarwinistisch verbrämter Revanchepolitik einen Laufpass zu geben, ließ der Reichspräsident ihn weitermachen. Warum ihn auch in die Wüste schicken? Hatte ihn Ebert doch schon in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1918 zu Hilfe gerufen und damit offenbar gute Erfahrungen gemacht …
Wie die Führung der Reichswehr bekämpfte auch die Justiz pazifistische Bestrebungen und setzte sich, ganz in den Denktraditionen des preußischen Militarismus bewegend, für die Erneuerung eines den Militärs dienstbaren Staates ein. Weitgehend orientierte sie sich daran, die machtpolitischen Interessen der Militärs willfährig zu unterstützen. Wer auch immer als republikanisch gesinnter Pazifist oder als Kritiker des Militarismus auf dem Primat der Politik bestand, sich gegen die geheimen Rüstungen wandte und den weitverbreiteten Gesinnungsmilitarismus ablehnte, wurde juristisch verfolgt, als Landesverräter kriminalisiert und verurteilt. Selbst Nachrichten über illegale Geheimbünde oder hochverräterische Aktivitäten sollte es nicht geben.
Um den Unterschied zu verdeutlichen, in welchem Ausmaß der Militarismus in der Weimarer Republik – weit mehr als im Kaiserreich – Wurzeln geschlagen hatte und die Justiz den Geisteszustand der nationalistisch-revanchistischen Kräfte abbildete, hier einige Zahlen: Wegen Hoch- und Landesverrats sind zwischen 1882 und 1913 32 Personen und wegen Spionage 127 Personen verurteilt worden. Allein in den Jahren von 1924 bis 1927 sind es mehr als 10.000 Verfahren im selben Tatbestandsbereich. 1.071 Personen wurden „schuldig“ gesprochen. 1927 haben die Gerichte 44 Personen Landesverrat attestiert – zwölf mehr als in den angeführten 32 Vorkriegsjahren.
Der Prozess
Ein aufsehenerregendes und gehässiges Verfahren stellte der Prozess gegen die von Ossietzky geleitete Weltbühne dar. Am 12. Dezember 1929 hatte der Journalist und Militärexperte Walter Kreiser unter dem Pseudonym Heinz Jäger in dem Blatt den Artikel Windiges aus der Luftfahrt publiziert. Er stellte fest, dass der Reichstag Gelder für die zivile Luftfahrt bewilligt hatte, die in die Kanäle der Militärs geflossen waren. Kreiser stützte sich, wie der Ossietzky-Biographie von Werner Boldt zu entnehmen ist, auf bereits bekanntes Material. Zudem zeigte er auf, dass die Subventionen dazu dienten, eine Luftwaffe aufzubauen und deutsche Piloten in der Sowjetunion auszubilden. Sofort meldete das Reichswehrministerium den Vorgang der Reichsanwaltschaft in Leipzig, die ein Ermittlungsverfahren wegen Landesverrats gegen Kreiser und Ossietzky als verantwortlichen Redakteur eröffnete.
Nach dem Versailler Vertrag, seit dem 16. Juli 1919 auch deutsches Reichsgesetz, waren Deutschland bedeutende Rüstungsbeschränkungen auferlegt und es ihm nicht erlaubt, eine Luftwaffe zu besitzen. Wer über entsprechende Aktivitäten informierte, deckte also eine Rechtsverletzung auf. Dem wollten der Wehrminister und die Befürworter der geheimen Aufrüstung einen Riegel vorschieben. Die Justiz kam ihnen zu Hilfe und erklärte all jene, welche für die Achtung geltenden Rechtes eintraten, zu Rechtsbrechern. Verkehrte Welt: Jene, die auf den Krieg hinarbeiteten, machten denen, die sich dem Zerstörungswahn widersetzten, den Prozess.
Die Hauptverhandlung, am 17. November 1931 vor dem IV. Strafsenat des Reichsgerichts eröffnet, dauerte drei Tage und fand, indem man sich auf einen Verstoß gegen das Spionagegesetz von 1914 berief, unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Zugleich legte man den Beteiligten ein Schweigegebot über alles im Verfahren Erörterte auf. Sodann redeten die militärischen Sachverständigen Tacheles. Sie bestätigten alle von Kreiser nahegelegten Schlussfolgerungen: In zivil getarnten Erprobungsabteilungen entwickele das Militär Flugzeuge und lasse Piloten ausbilden. Da dies „im Interesse der Landesverteidigung“ sowie „für das Wohl des Reiches“ geschehe, sei Geheimhaltung notwendig. Aber hatte Kreiser wirklich ein Geheimnis gelüftet?
Die Verteidiger wiesen darauf hin, dass 19 Zeugen die Tatbestände als bekannt bestätigen könnten. Das Reichsgericht lehnte deren Vernehmung als nicht beweiskräftig ab; es käme „ausschließlich darauf an, dass die Nachricht einer fremden Regierung oder einer in ihrem Interesse tätigen Person verborgen zu halten ist. Gleichgültig ist es, ob kleinere oder größere Personenkreise (…) davon Kenntnis hatten.“ Damit rechtfertigte das Gericht das illegale Vorgehen der Reichswehr als gesetzmäßig und drückte dem Bestreben, ohne Revanche und kriegerische Gewalt Konflikte zu erörtern und zu lösen, einen kriminellen Stempel auf.
Kriegerische Logik
Der historische Befund ist eindeutig. Die Justiz hat sich in ihrem Eifer, den Pazifismus auszuschalten bzw. so klein wie möglich zu halten, dem „Schutz der Todfeinde der geltenden demokratischen Verfassung“ verschrieben. Sie nahm vor allem jene aufs Korn, die der militaristischen Gesellschaft und dem anvisierten Machtstaat widersprachen, ergriff Partei für die Mörder von Pazifisten, Sozialisten und Kommunisten, strengte gegen die Kritiker der illegalen Auf- und Geheimrüstung einschüchternde Landesverratsprozesse, Beleidigungsverfahren und Strafen an. Die Justiz gründete sich auf ein ganz neues Recht: das ihrer kriegerischen Logik.
Im Weltbühne-Prozess ging es nicht in erster Linie um die Veröffentlichung Kreisers, vielmehr benutzten die Reichswehr und die an ihrem Strick mitziehende Justiz den Artikel, um zwei Kriegsgegner und couragierte Journalisten mundtot zu machen und sie als böswillige Staatsfeinde zu brandmarken. Der Prozessverlauf ließ keinen Zweifel daran, dass man auch die Gesinnung der beiden treffen wollte. Zwar solle deren pazifistische Weltanschauung nicht zu ihren Ungunsten ins Feld geführt werden, gleichwohl sei aber, so das Gericht, „psychologisch“ der Schluss zu ziehen, die Beschuldigten wollten mit dem Artikel „antimilitärisch“ wirken, woraus sich ihr Wille ergebe, „etwas von der Militärverwaltung Geheimgehaltenes aufzudecken“.
Je mehr die Verhandlung offenbarte, dass die Presse, wenn sie sich weigere, nach der Militärmusik zu tanzen, mit Ausnahmegesetzen zu rechnen habe, desto energischer verteidigte Ossietzky seinen Standpunkt, indem er das Unrechtsbewusstsein und die Parteilichkeit des Gerichts angriff. Sein Schlusswort gipfelte in einer, so Kurt Rosenfeld, einer seiner Verteidiger, „großen Abrechnung mit den militärischen Kräften des demokratischen Staates“.
Das am 23. November 1931 verkündete Urteil lautete: „Die Angeklagten werden wegen Verbrechen gegen Paragraph 1, Abs. 2 des Gesetzes über Verrat militärischer Geheimnisse vom 3. Juni 1914 zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilt.“ Ossietzky schrieb dazu später die prophetischen Worte: „Im Herbst 1930 hatte im gleichen Saale vor dem Vorsitzenden, Herrn Reichsgerichtsrat Baumgarten, Adolf Hitler das berühmte Wort von den rollenden Köpfen gesprochen. Das Reichsgericht ahnt den Herren von morgen. Wenn ein Gericht einen hochverräterischen Plan, wie es in Leipzig geschah, mit Achtung anhört, anstatt den Mann in eine Heilanstalt zu stecken oder als Verbrecher in Eisen zu legen, so ist dies ein recht deutliches Zeichen, dass die Vertreter der Staatsautorität entweder arg erschöpft sind oder dass sie schon mit schüchternen Fußspitzen den Boden neuer Tatsachen zu suchen beginnen. – Ich weiß, dass jeder Journalist, der sich kritisch mit der Reichswehr beschäftigt, ein Landesverratsverfahren zu vergegenwärtigen hat, das ist ein natürliches Berufsrisiko. Der ganze Artikel war übrigens durch eine Reichstagsdrucksache den politisch Interessierten zugänglich gemacht worden. Den Spion möchte ich sehen, der seinen Auftraggebern eine Information zu bringen wagt, die bereits seit einem Jahr im Druck vorliegt.“
Gewalt als vornehmstes Mittel
Groener, dank Ebert in der Novemberrevolution 1918 ungeschoren davon- und zu neuen Ehren gekommen, war es gelungen, als Repräsentant und Vertreter einer vergangenheitsgetränkten Politik und Gegenwart eine Verfolgung von Pazifisten zu inszenieren und durchzusetzen, die der im Ersten Weltkrieg in nichts nachstand. Ossietzky brachte es in seinem berühmt gewordenen Artikel Rechenschaft in der Weltbühne am Tag seines Haftantritts am 10. Mai 1932 auf den Punkt: „Überall wird heute mehr gerüstet als vor 1914. Überall tönen mehr Clairons, klirren mehr Tschinellen als vor dem Weltkriege. Die Technik hat die Stahlfabriken in die zweite Reihe, die Chemie in die erste geschoben und die gesamte Industrie in ein einziges Arsenal verwandelt. Aber nirgendwo glaubt man so inbrünstig wie in Deutschland an den Krieg als vornehmstes politisches Mittel, nirgendwo ist man eher geneigt, über seine Schrecken hinwegzusehen und seine Folgen zu missachten, nirgendwo feiert man kritikloser das Soldatentum als die gelungene Höchstzüchtung menschlicher Tugenden, und nirgendwo setzt man Friedensliebe so gedankenlos persönlicher Feigheit gleich.“
Im Ausland erregte das Urteil großes Aufsehen; es zeige auf, wie es um die politische Meinungsfreiheit in Deutschland bestellt sei. Viele bedeutende Zeitungen und Blätter sparten nicht mit Kritik, und manche von ihnen wiesen darauf hin, dass die Gefahr nicht von den Angeklagten, sondern vom Leipziger Gericht ausginge, und dass Kritik am Etat der Reichswehr fortan als strafbare Handlung und Landesverrat betrachtet würde.
Während Kreiser sich der Haft durch Flucht nach Paris entzog, blieb Ossietzky in Berlin. Ernst Toller, Erich Mühsam, Lion Feuchtwanger, die Anwälte Rudolf Olden, Kurt Rosenfeld, Alfred Apfel und andere spätere Opfer des Naziregimes brachten Ossietzky zum Tegeler Gefängnis, dessen Tore sich für ihn am 22. Dezember 1932 infolge einer Weihnachtsamnestie wieder öffneten. Obwohl hochgefährdet, ging er nicht ins Exil. Noch in der Nacht des Reichstagsbrandes verhaftet, brachte man ihn tags darauf ins Gefängnis Spandau, von wo man ihn im April in das neu errichtete Konzentrationslager Sonnenburg bei Küstrin verlegte, das sich durch den Terror der Wachleute rasch den Ruf einer „Folterhölle“ erwarb. „Ossietzky“, zitiert Werner Boldt einen Häftling, „wurde als Landesverräter und trotz rein arischer Abstimmung als ‚Jude’ und ‚Judensau’ besonders malträtiert.“
Oft geschlagen und getreten, ertrug er die qualvollen Torturen mit stoischer Ruhe. Berliner Freunde versuchten, Ossietzkys Entlassung zu erwirken. Doch die Initiative, von Albert Einstein unterstützt, hatte keinen Erfolg. Die Nazis ließen ihn nicht gehen und verfrachteten ihn im Februar 1934 als „Häftling Nummer 526“ ins KZ Esterwegen im Emsland. Auch hier lebte Ossietzky unter ständigen Bedrohungen. Die harte Arbeit im Moor, seine ohnehin schwache Konstitution, die Mangelernährung führten zu einem körperlichen Verfall und gesundheitlichen Schäden, von denen er sich nicht mehr erholen sollte. Sein psychischer Widerstand blieb indes ungebrochen.
Freunde und Mitstreiter Ossietzkys wie Georg Bernhard, Chefredakteur des von ihm im Exil gegründeten Pariser Tageblatts, und der Journalist Berthold Jacob (wie Ossietzky wegen „Landesverrats“ verurteilt) von der Prager Sektion der „Liga für Menschenrechte“ begannen eine Kampagne für die Verleihung des Friedensnobelpreises an den KZ-Häftling. Vor allem der Journalist, Politiker und Pazifist Hellmut von Gerlach, der über beste internationale Beziehungen verfügte, sorgte für eine wirkungsvolle Verbreitung der Idee.
Internationale Solidarität
Anfang 1935 erschien in Prag die Broschüre „Rettet Carl von Ossietzky“ mit Beiträgen von Friedrich Stampfer, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, Romain Rolland, Upton Sinclair und Arnold Zweig. Ernst Toller gewann in England den renommierten Labour-Politiker Harold Laski, Albert Einstein in den USA Jane Addams, die Preisträgerin von 1931. Ebenso setzten sich Kurt Tucholsky, Thomas Mann, der französische Schriftsteller Henri Barbusse und Willy Brandt in Norwegen für Ossietzky ein. Die Kampagne nahm immer größere Ausmaße an. Unzählige Persönlichkeiten und Organisationen in vielen Ländern der Welt engagierten sich für den Geschundenen, den man bald als Symbol für die vielen vom Naziregime Verfolgten ansah.
Der Rahmen der Aktion erweiterte sich immens. Aufruf an Aufruf erschienen in der Weltpresse. Es ging nun nicht mehr nur allein darum, das Leben des „Moorsoldaten“ zu retten, sondern um die „Verurteilung bzw. Stigmatisierung des Nationalsozialismus vor dem Forum der Weltöffentlichkeit“ – so Lothar Wieland in dem Buch „Carl von Ossietzky – Republikaner ohne Republik“, das sich mit der weltweiten Ächtung des Terrorregimes der Nazis durch die Friedensnobelpreiskampagne befasst. Einige Zahlen: Bereits im Juni 1934 demonstrierten etwa 40.000 Norweger vor dem Parlament in Oslo für Ossietzky. Namhafte Persönlichkeiten der Tschechoslowakei (60 Abgeordnete und Professoren), 119 Mitglieder des französischen Parlaments, 86 Abgeordnete des britischen Unterhauses und 59 des schwedischen Parlaments stellten sich hinter den Häftling des „Dritten Reiches“. Doch im November 1935 teilte das Nobelkomitee mit, den Preis für das laufende Jahr nicht zu verleihen.
Der Rückschlag ließ sich aber bald wettmachen, und die internationale Bewegung für den Eingekerkerten fand weiteren Zulauf. Wohl zum einzigen Mal äußerte sich das Weltgewissen einmütig für die deutschen KZ-Opfer in der Person Ossietzkys. Die Naziführung sah sich veranlasst, alles zu tun, um die Würdigung zu unterbinden. Vergeblich, am 23. November 1936, auf den Tag genau fünf Jahre nach dem schändlichen Urteil im Weltbühne-Prozess, verlieh das Nobelkomitee Ossietzky den Friedenspreis für das Jahr 1935. Zwar verbot das Naziregime ihm, nach Oslo zu reisen, aber seine Freunde hatten erreicht, dass der vom Tode Gezeichnete in ein Privatsanatorium verlegt wurde.
Die Auszeichnung war ein Fanal im Kampf gegen den Geist der Gewalt, des Kriegswillens und der Unterdrückung. Das wachgerüttelte Gewissen der internationalen Öffentlichkeit entriss der Diktatur ein Opfer. Ein Zwangssystem, das eilfertig den Krieg vorbereitete, musste einen unbeugsamen Friedenskämpfer, einen Mann der Völkerverständigung und -versöhnung aus seinen Klauen lassen. Ein symbolischer Sieg – und ein Zeichen der Hoffnung. „Endlich einmal eine gute Nachricht“, schrieb Thomas Mann. Und Otto Lehmann-Rußbüldt, im Herbst 1914 einer der Gründer der „Deutschen Liga für Menschenrechte“ schlug vor, den 23. November künftig zum Gedenktag zu machen. Gedacht werden sollte des moralischen Sieges des Ohnmächtigen gegenüber den Gewalthabenden, des intellektuellen David, dessen Geist unter den stampfenden Marschstiefeln des Goliath unzerstörbar bleibt.
Moralischer Standort der BRD
Aus der Anregung Lehmann-Rußbüldt ist nichts geworden. Statt dessen ist die Haltung zu Ossietzky noch heute oft bestimmt von politisch motivierter Aversion – oder einfach von Gleichgültigkeit. Wo militärische Desaster und politische Fehlleistungen in Erfolge uminterpretiert werden, dürfte Ossietzky nicht gerade wohlgelitten sein.
Welchen intellektuellen und moralischen Standort die Bundesbürger 1986 anlässlich des 50. Jahrestages der Verleihung des Friedensnobelpreises an Carl von Ossietzky eingenommen haben, spricht ebenfalls für sich. Sie erinnerten sich mit großem Tamtam an das 200. Todesjahr des Preußenkönigs Friedrich II. Die Produktion von Gedenkmünzen und sonstigen Devotionalien schien kein Ende zu nehmen. Zweifellos dürfte der „Alte Fritz“ die farbigste und geistvollste Figur unter allen Hohenzollern gewesen sein. Eines war er aber gewiss nicht: ein Fürst des Friedens. Geistiges Interesse und Liebe zu den Musen machten ihn keineswegs zum Gegner des Kriegshandwerks. Ihn zu feiern bedeutet daher, kriegerische Eroberungssucht zu einer lässlichen Sünde abzumildern, sie zumindest in der historischen Bewertung für sekundär zu erklären.
Doch jedes Land feiert die Jubiläen, die zu ihm passen. Und in einer lange Zeit von Tätern geprägten Gesellschaft will man sich offenbar nur ungern an das Grunddilemma der Weimarer Republik und damit an Ossietzky erinnern. Sie wurde gelenkt und repräsentiert in Regierung, Verwaltung, Militär und Justiz von Leuten, die – in verschiedenen Abstufungen gewiss – dem alten System verhaftet waren. Verantwortung in der Republik trugen viele ihrer Biographie entsprechend nur versehentlich, manche verlegen, andere missmutig oder gar mit Widerwillen. Militarismus und obrigkeitsstaatliches Denken blieben dominant. Zur alten Großmachtattitüde und Militärmacht wollte man um jeden Preis zurück. War es da nicht logisch und konsequent, den Verantwortlichen heimlicher Aufrüstung gegenüber nachsichtig zu sein, ja, sie sogar zu fördern – und deren Gegner kaltzustellen?
Wer sich wie Ossietzky wirklich dem Frieden und der Republik verpflichtet fühlte, musste demgegenüber klar und deutlich die Dinge beim Namen nennen. Seine angeblich so radikalen Maßstäbe waren nichts weiter als die Prinzipien der Verfassung. Welcher Reichswehrminister hätte schon wie er sagen können: „Wir waren verschworen für die Grundsätze der Verfassung der Republik (…) Wir betrachteten die Demokratie nicht als Vorwand, wir meinten sie“ – was sich etwa von Hindenburg, seiner Gesinnung und Einstellung nach ein Militär der Hohenzollern-Monarchie, der als Reichspräsident an der Spitze der Republik stand, nicht sagen lässt.
Text: Helmut Donat
Bildmaterial: Teaserfoto: Bundesarchiv, Bild 183-B0527-0001-861 / Autor unbekannt / CC-BY-SA 3.0; Häftling 526: Bundesarchiv, Bild 183-93516-0010 / Walter Sohst, Heiner Kurzbein / CC-BY-SA 3.0; Lithografie Ossietzky, New York World Telegram: Donat Verlag, Archiv zur Geschichte der Friedensbewegung
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf: www.jungewelt.de
Literatur
Werner Boldt: Carl von Ossietzky (1889–1938) – Pazifist und Demokrat, KZ-Häftling und Friedensnobelpreisträger. Donat Verlag, Bremen 2019, 16.80 € – ISBN 978-3-943425-87-1
Helmut Donat/Adolf Wild (Hrsg.): Carl von Ossietzky – Republikaner ohne Republik. Die Friedensnobelpreiskampagne 1936 für einen KZ-Häftling, Donat Verlag, Bremen 1986, 9.30 € – ISBN 978-3-924444-19-8
Jg. 1947, Historiker und Verleger, Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, 1990 mit dem „Kultur- und Friedenspreis der Villa Ichon“ in Bremen und 1996 mit dem „Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik“ der Stadt Oldenburg ausgezeichnet, Veröffentlichungen u.a. zur Geschichte des deutschen Pazifismus und Militarismus, zum „Historikerstreit“ und zur „Wehrmachtsausstellung“, zu den Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus sowie zum Völkermord an den Armeniern. Mehr: www.donat-verlag.de