Ehrenwerte Eidbrecher (I)

Sie starben für den Frieden: Kriegsdienst­ver­weigerer im Zweiten Weltkrieg. Doch wer den Fahneneid auf Hitler und damit den Kriegs­dienst ablehnte, machte sich der „Wehrkraft­zersetzung“ schuldig, Verweigerer wurden als Schwächlinge und ehrlose und feige Drücke­berger gebrandmarkt. Die Gerichte bestraften sie gar mit dem Tod. Ein aktuelles Buch dokumentiert das Leben (und Sterben) bisher zumeist unbekannter Menschen, die sich aus religiösen Gründen weigerten, für Hitler in den Krieg zu ziehen.

Der brandenburgische Ministerpräsident Dietmar Woidke hat in seiner Rede in Potsdam zum 3. Oktober 2020 „an die Opfer von Diktatur und Unterdrückung“ in der DDR und „weltweit“ erinnert. Der Opfer Nazideutschlands gedachte er mit keinem Wort. Den Weg zu dem knapp 60 Kilometer von Potsdam entfernten Zuchthaus Brandenburg-Görden, heute ein Museum, fand er nicht. Hier hatte die Nazijustiz eine Hinrichtungsstätte eingerichtet; sie war neben Berlin-Plötzensee die zweitgrößte der faschistischen Verfolgungsmaschinerie auf deutschem Boden. Von August 1940 bis April 1945 sind dort mehr als zweitausend Menschen ermordet worden. Zu den von Woidke „vergessenen“ Opfern gehören zahlreiche sogenannte Wehrkraftzersetzer und Kriegsdienstverweigerer – unter ihnen Franz Jägerstätter, der am 9. August 1943 mit dem Fallbeil enthauptet wurde.

Irregeführte Oberhirten

Jägerstätter, im Mai 1907 in dem oberösterreichischen Dorf St. Radegund geboren, stammt aus ärmlichen Verhältnissen. Nach der Volksschule wird er Bauer. Er gilt als intelligent, lebenslustig und manchen als wild. Nach drei Jahren im steirischen Bergbau kehrt er auf den Hof zurück. Aus seiner Ehe gehen drei Töchter hervor, um die er sich fürsorglich kümmert. Im März 1938 ist er in seinem Dorf der einzige Mann, der sich gegen die Okkupation Österreichs durch die deutsche Wehrmacht wendet. Jägerstätter wird 1940 zweimal eingezogen. Er macht die Grundausbildung und leistet den Fahneneid auf Hitler. Im Dezember 1940 tritt er dem Dritten Orden des heiligen Franziskus bei. Die Erfahrung des Drills und der Schikanen beim Militär sowie sein Wissen um die Verfolgung oppositioneller Priester und die Ermordung von Geisteskranken offenbaren ihm den totalitären Charakter des Naziregimes und dessen Unvereinbarkeit mit dem Christentum. Er beschließt, den Dienst in der Wehrmacht zu verweigern.

Je mehr sich seine Entscheidung herumspricht, sich nicht an Hitlers Kriegen zu beteiligen, desto stärker übt sein Umfeld Druck auf ihn aus. Der Vorwurf: Er versündige sich gegen seine Familie, lasse sie im Stich, sei hochmütig und ungehorsam. Auch Kirchenvertreter stellen sich gegen ihn. Selbst Bischof Joseph Calasanz Fließer, an den Jägerstätter sich in seiner Gewissensnot wendet, spricht ihm, dem Bauern, die Fähigkeit ab, über die Rechtmäßigkeit eines Krieges zu entscheiden. Fortan tauscht er sich mit Menschen seines Vertrauens aus, seine Argumentation für eine Verweigerung vermag keiner zu entkräften. Jägerstätter erkennt, dass die Priester und Bischöfe vielfach „irregeführt“, „eingeschüchtert“ oder gar für den Nationalsozialismus sind. Ihr Schweigen hindere sie, den Christen Orientierung und Halt zu geben. Er begreift, dass von den kirchlichen Oberhirten keine Hilfe zu erwarten und er auf sich selbst zurückgeworfen ist. Kraft und Trost findet er in der Bibel, in Büchern über Heilige und in Gesprächen mit seiner Frau.

Nazi-Hinrichtungsstätte: Zuchthaus Brandenburg-Görden

Zu welchem Standpunkt Jägerstätter gelangt ist, zeigen seine „10 Fragen“, die er, etwa im Mai 1942 verfasst, an sich wie an seine Zeitgenossen richtet. Unter anderem heißt es: „Wer gibt uns die Garantie, dass es nicht im geringsten mehr sündhaft ist, einer Partei beizutreten, deren Bestreben es ist, das Christentum auszurotten? (…) Welcher Katholik getraut sich, diese Raubzüge, die Deutschland schon in mehreren Ländern unternommen hat und noch immer weiterführt, für einen gerechten und heiligen Krieg zu erklären? (…) Wer traut sich zu behaupten, dass vom deutschen Volk in diesem Krieg nur einer die Verantwortung trägt, weshalb mussten dann noch so viele Millionen Deutscher ihr ›Ja‹ oder ›Nein‹ hergeben? (…) Seit wann können auch die Verführten, welche ohne Reue und Besserung ihrer begangenen Sünden und Fehler, die sie durch Verführung begangen haben, dahinsterben, denn auch in den Himmel kommen? (…) Warum feiert man die Kämpfer für den Nationalsozialismus heute auch in den Kirchen Österreichs als Helden? Hat man denn nicht solche bei uns vor fünf Jahren völlig verdammt? (…) Wie kann man denn heute seine Kinder noch zu wahren Katholiken erziehen, wenn man ihnen auch das, was früher schwer sündhaft war, für gut oder wenigstens nichts Sündhaftes erklären soll? (…) Warum soll denn jetzt das für gerecht und gut befunden werden, was die Masse schreit und tut? Kann man jetzt auch glücklich ans andere Ufer gelangen, wenn man sich stets wehrlos vom Strom mitreißen lässt? (…) Wer bringt es fertig, zu gleicher Zeit Soldat Christi und Soldat für den Nationalsozialismus zu sein, für den Sieg Christi und seiner Kirche und zugleich auch für den nationalsozialistischen Sieg zu kämpfen?“

Jägerstätters Fragen zeigen, dass es ohne weiteres möglich war, die Zeichen der Zeit zu erkennen, profund zu benennen, und dass gegenteilige Behauptungen Rechtfertigungen für eigenes Versagen und Fehlverhalten sind. Eigenes Urteilsvermögen, Wachsamkeit bei der Verletzung von Menschenrechten und Empathie für Verfolgte waren wenig ausgebildet. Das moralische Wertgefüge insgesamt wies krasse Lücken auf und war in hohem Maße militaristisch-nationalistischen Vorurteilen und Zielen untergeordnet.

Im Grunde genommen kommen Jägerstätters Einsichten denen von Friedrich Wilhelm Foerster nahe, der, bedeutender Gegner und Kritiker des preußischen Militarismus und des Nationalsozialismus, bereits 1938 geschrieben hat: „Denn das ist ja gerade das Tragische der neudeutschen Entwicklung, dass hier das Christentum im Dienste des Antichrist, die Moral im Dienste der tiefsten Unmoral, der Geist im Dienste des Ungeistes, die Ordnung im Dienste der Anarchie, die Organisation im Dienste des desorganisierten Europas steht (…) Die Tragik des deutschen Christentums, als ein besonderes Kapitel des ›Verrats der Geistigen‹, besteht nicht nur darin, dass es hier die Ausnahmen waren, die nicht mitmachten, sondern gerade auch darin, dass der Nationalismus und Militarismus, dem sie sich so vorbehaltlos ergaben, eine ausgesprochene Verherrlichung des Krieges (…) bedeutete. Und eben diese innerste geistige Aussöhnung mit der politischen Barbarei hat sich so furchtbar gerächt und wird sich noch furchtbarer rächen: die deutschen Christen haben sich ihre Henker selber herangezogen.“

Späte Würdigung

Wer den Fahneneid auf Hitler und damit den Kriegsdienst ablehnte, machte sich der „Zersetzung der Wehrkraft schuldig“. Das Soldatendasein galt als „Ehrendienst am deutschen Volke“, Verweigerer hingegen brandmarkte man als „Schwächlinge“, „ehrlose und feige Drückeberger“. Die Gerichte bestraften sie mit dem Tod, der Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte samt Einziehung des Vermögens. Wer sich der Forderung, einem Verbrecher zu dienen und „Feinde“ zu töten, widersetzte, wusste, was ihm drohte. Die Wehrmachtsjustiz kannte keine Gnade. Von den etwa 30.000 zum Tode verurteilten Soldaten wegen irgendwelcher Vergehen gegen die Militärherrlichkeit sind etwa 23.000 hingerichtet worden. Im Ersten Weltkrieg hatte die Militärjustiz nur 150 Todesurteile ausgesprochen, was zeigt, in welchem Ausmaß sie sich im Sinne der Nazis willfährig verschärfte. Von den fast 1.100 vom Reichskriegsgericht und anderen Kriegsgerichten allein wegen Kriegsdienstverweigerung ausgesprochenen Todesurteilen sind 666 vollstreckt worden. Darüber hinaus kamen weitere 60 Verurteilte in der Haft, im Konzentrationslager oder in einer Strafeinheit ums Leben.

Aus privaten Aufzeichnungen und Briefen wissen wir inzwischen, dass viele Verweigerer aus christlichen Motiven handelten und – ungeachtet der jeweiligen Lebensumstände – der Stimme ihres Gewissens folgten. Sie gehörten unter anderem den Zeugen Jehovas, den Baptisten, den Siebenten-Tags-Adventisten, den Quäkern, den evangelischen und katholischen Christen an.

Auch Franz Jägerstätter ist klar, was ihm bevorsteht. Als er Ende Februar 1943 seine dritte Einberufung erhält, verweigert er den Kriegsdienst. Statt ihn – so sein Wunsch – im Sanitätsdienst einzusetzen, überstellt man ihn nach zwei Monaten Haft in Linz in das Wehrmachtsuntersuchungsgefängnis Berlin-Tegel. Am 6. Juli 1943 erklärt ihn das Reichskriegsgericht für „ehrlos“ und „wehrunwürdig“ und verurteilt ihn zum Tode. Am 9. August 1943 wird er in das Zuchthaus Brandenburg-Görden überführt, noch am selben Tag mit dem Fallbeil getötet und sein Leichnam eingeäschert.

Nach 1945 erinnern zwei Artikel in katholischen Zeitschriften an das Schicksal Jägerstätters. Danach wird es still um ihn – Folge der seit 1947/48 beginnenden Verdrängung und dem sich durchsetzenden Unwillen vieler Deutscher und Österreicher, Reue zu zeigen und Trauerarbeit zu leisten. Bezeichnend ist, dass ein Nichtdeutscher die erste Biographie über Jägerstätter verfasst hat: der amerikanische Soziologe und Pazifist Gordon C. Zahn, Mitbegründer des US-Sektion von Pax Christi. Die deutsche Übersetzung seines Buches erscheint 1967. Während Jägerstätter in der US-Friedensbewegung und in den Freikirchen der USA hohe Wertschätzung als Märtyrer erfährt, bleibt die deutsche Öffentlichkeit weitgehend desinteressiert. Doch allmählich wandelt sich auch in der katholischen Kirche die Haltung zur Kriegsdienstverweigerung. Und so erfolgt 2007 durch Papst Benedikt XVI. die Seligsprechung Jägerstätters. Bischof Manfred Scheuer erklärt in dem dazugehörigen Gottesdienst, er sei „durch seine entschiedene Lebenshaltung und durch sein Martyrium ein Prophet mit Weitblick und Durchblick“. Der Film „Ein verborgenes Leben“ von Terrence Malick hat 2019 Jägerstätter als „Märtyrer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus“ einer breiten Öffentlichkeit in Erinnerung gebracht.


Helmut Kurz: In Gottes Wahrheit leben – Religiöse Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von der Internationalen katholischen Friedensbewegung Pax Christi, Deutsche Sektion e. V., sowie von Pax-Christi-Diözesanverband Rottenburg-Stuttgart, Donat Verlag, Bremen 2020, 320 Seiten, 18 Euro.

Text: Helmut Donat, erstmals erschienen in: junge Welt, 10./11.10.2020 (Bilder: Verlag)