Ehrenwerte Eidbrecher (II)
Sie starben für den Frieden: Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg. Doch wer den Fahneneid auf Hitler und damit den Kriegsdienst ablehnte, machte sich der „Wehrkraftzersetzung“ schuldig, Verweigerer wurden als Schwächlinge und ehrlose und feige Drückeberger gebrandmarkt. Die Gerichte bestraften sie gar mit dem Tod. Ein aktuelles Buch dokumentiert das Leben (und Sterben) bisher zumeist unbekannter Menschen, die sich aus religiösen Gründen weigerten, für Hitler in den Krieg zu ziehen.
Ganz anders als der Weg Jägerstätters verlief der Lebenspfad von Hermann Stöhr, der zu den 22 Lebensbildern zählt, die Helmut Kurz, seit 1983 als Mitglied aktiv bei Pax Christi, der Internationalen katholischen Friedensbewegung, in seinem Buch eindrucksvoll würdigt. Auch Stöhrs Schicksal ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass es nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland keine wirkliche Abkehr vom Denken in Gewalt- und Machtkategorien gegeben hat. So konstatierte der Marburger Theologieprofessor Martin Rade es bereits 1928 als „trübste Erfahrung“ seines Lebens, „dass das deutsche Kirchenvolk nach vielen Seiten hin keine Buße getan hat“. Ein hartes, aber nicht ungerechtes Urteil. Zudem hat sich die Weimarer Republik nie fundamental gegen den fortbestehenden Militarismus und Nationalismus gewandt. Indem sie die Propaganda von der Unschuld des Kaiserreichs an der Entfesselung des Ersten Weltkriegs finanzierte und durch das eigens dazu errichtete Kriegsschuldreferat steuern ließ, leistete sie der Militarisierung der Gesellschaft und dem Weg ins „Dritte Reich“ erheblichen Vorschub. Denn wozu hatte man Revolution gemacht und die Republik geschaffen, wenn der Kaiser und die militärische wie zivile Reichsleitung unschuldig waren oder nicht mehr Verantwortung an der Kriegsauslösung tragen sollten als die anderen Großmächte?
Gegner des Nationalismus
Hermann Stöhr, am 4. Januar 1898 in Stettin als Sohn eines Zollinspektors geboren, war ein evangelischer Kriegsdienstverweigerer. Er wurde am 21. Juni 1940 in Berlin-Plötzensee enthauptet. Geprägt von der „vaterländischen“ Erziehung in Schule und Elternhaus, meldet er sich im August 1914, gerade sechzehn Jahre alt, als Freiwilliger zur kaiserlichen Marine. Doch nicht das Kriegserlebnis – er versah seinen Dienst als Zahlmeister auf dem Schlachtkreuzer „Göben“ im Schwarzen Meer –, erst das Studium, das er in Rostock 1922 mit einer Arbeit über „Die Auslandshilfe“ als Doktor der Staatswissenschaften abschließt, und die wirtschaftliche Not der Nachkriegsjahre veranlassen ihn zu einer Revision seines Denkens.
In der „Christlichen Studentenvereinigung“ wendet er sich gegen deutschnationale Auffassungen und fordert, nationale Rücksichten aufzugeben und sich der Herrschaft Jesu zu unterstellen. Ebenso nachdrücklich vertritt er seinen pazifistischen Standpunkt als Sprachlehrer und Mitarbeiter der „Sozialen Arbeitsgemeinschaft“ Friedrich Siegmund-Schultzes in Berlin sowie als Sekretär bei der Geschäftsstelle der ökumenisch orientierten Zeitschrift „Die Eiche“ und dem „Internationalen Versöhnungsbund“ (IVB), der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen zum Dienst am Frieden aufruft. Da Stöhr sich als Europäer empfindet, wenig auf nationale Belange achtet und daher scheuklappenfrei und weitsichtig ist, wird er in dem als gemäßigt einzuschätzenden und von Siegmund-Schultze repräsentierten Flügel des evangelischen Friedensengagements rasch zum Außenseiter.
Einsam unter Protestanten
Stöhrs Einsatz für den Frieden speist sich aus christlich-ethischer Überzeugung. Dem organisierten Pazifismus der Weimarer Republik steht er als Mitglied des IVB eher reserviert gegenüber. Sein Arbeitsfeld bleibt, ob er nun in der Wohlfahrtspflege der Inneren Mission oder als freier Schriftsteller und Verleger tätig ist, die ökumenische Friedensbewegung. Außenpolitisch tritt Stöhr für eine deutsch-französische und eine deutsch-polnische Aussöhnung ein. Wie katholisch orientierte Kreise der Friedensbewegung wegen ihrer Forderung „Ein Ost-Locarno ist christliche Gewissenspflicht!“ – also der Anerkennung der polnischen Westgrenze – in Schwierigkeiten geraten, so ist auch Stöhr in seinem Bemühen für ein Bekenntnis deutscher Schuld an Polen heftigen Anfeindungen ausgesetzt. Vertreter des nach 1918 weiterhin dominierenden Nationalprotestantismus der Amtskirche entfachen eine Pressekampagne gegen Stöhr, bezichtigen ihn eines „unverbesserlichen Pazifismus“. Prompt wird sein Vertrag beim „Zentralausschuss für die Innere Mission“ nicht verlängert. Doch Stöhr lässt sich nicht beirren und erklärt: „Ungesühnt ist der große deutsche Schuldanteil an den vier Teilungen Polens (…) Für diese Schuld hat weder die Kirche noch unser Volk Buße getan. Und doch hätten wir allen Grund, mit Augustin und Luther zu bekennen: Mein ist die größte Schuld. Weil wir Deutschen diese unvergebene Schuld mit uns herumtragen, haben wir während des vergangenen Jahrhunderts nicht in ein rechtes Verhältnis zu unserem östlichen Nachbarn kommen können.“
Infolge seiner klaren Haltung wenden sich viele von Stöhr ab. Selbst Martin Rade geht auf Distanz, später auch Dietrich Bonhoeffer, der glaubt, vor Stöhr und seinem ökumenischen Kreis warnen zu müssen. Stöhrs Lage wird sogar noch schwieriger. Arbeitslosigkeit und wachsende Vereinsamung mildern seit 1931 Familienangehörige und Freunde. Gleichwohl hält er an seinen Überzeugungen fest und warnt vor dem tiefverwurzelten Polen-Hass im deutschen Volk, der in den Jahren vor 1933 weiter verbreitet ist als der Antisemitismus. Bedenkt man, dass der Pazifist Arnold Kalisch aufgrund der fehlenden Unterstützung des evangelischen Theologen Otto Dibelius für ausländische und christliche Kriegsdienstverweigerer im Februar 1931 zu dem Schluss gelangt, von den in Deutschland üblichen Bekenntnissen erfülle „die evangelische Kirche die jeder Religionsgemeinschaft obliegende Pflicht, für die Friedensgesinnung und Friedensverwirklichung einzutreten (…) am schlechtesten“, so wird offenbar, in welcher Einöde sich Stöhr bewegt.
Als Gegner des Antisemitismus solidarisiert er sich zudem auch und gerade nach 1933 mit den verfolgten Juden. Vergeblich sucht er Ende Juli 1933 in einem Schreiben an Hermann Kapler, den Präsidenten des Evangelischen Oberkirchenrates (EOK), die Kirche zu veranlassen, den im KZ Inhaftierten seelsorgerlich beizustehen. Doch die Kommunisten, Sozialisten, Pazifisten und Juden geltende Fürbitte wird als „Hochverrat“ abgelehnt, und der Oberkonsistorialrat August Freitag bezichtigt Stöhr öffentlich eines „pathologischen Christentums“. Der hatte bereits Ende Mai 1933 gegen die vom EOK-Präsidenten empfohlene Beflaggung kirchlicher Gebäude für den von den Nazis zu ihrem Märtyrer ernannten Attentäter Leo Schlageter protestiert. Während große Teile des deutschen Protestantismus Hitlers Außenpolitik unterstützen und den im Oktober 1933 erfolgten Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund begrüßen, warnt Stöhr vor den damit verbundenen Gefahren und fordert die Kirche zugleich auf, der Erziehungspolitik der Nazis entgegenzutreten. Erneut erhält er keine Antwort.
Als er Ende Februar 1939 vom Wehrbezirkskommando Stettin aufgefordert wird, sich für Pflichtübungen bereitzuhalten, antwortet er am 2. März: „Den Dienst mit der Waffe muss ich aus Gewissensgründen ablehnen. Mir wie meinem Volk sagt Christus: ›Wer das Schwert nimmt, soll durch das Schwert umkommen.‹ (Matthäus 26, 52) So halte ich Waffenrüstungen meines Volkes nicht für einen Schutz, sondern für eine Gefahr. Was meinem Volk gefährlich und verderblich ist, daran vermag ich mich nicht zu beteiligen.“ Da Stöhr im August 1939 dem Einberufungsbescheid nicht folgt, wird er inhaftiert, wegen Fahnenflucht angeklagt, zu einem Jahr Gefängnis verurteilt und in das Wehrmachtsgefängnis Torgau eingeliefert. Im November verweigert er den Fahneneid auf Hitler, was das Reichskriegsgericht am 16. März 1940 wegen „Wehrkraftzersetzung“ mit dem Tode bestraft.
Nach dem Zweiten Weltkrieg steht das schlechte Gewissen, nichts oder zu wenig gegen die menschenverachtende Politik des Naziregimes getan oder sie unterstützt zu haben, einer Befassung mit dem „Fall Stöhr“ im Wege. Selbst die „Bekennende Kirche“ verdrängt den Märtyrer. 1978 fällt das Grab Stöhrs auf dem evangelischen St. Johannis-Friedhof in Berlin-Wedding den Planungen für eine Autobahn zum Opfer, die nie gebaut worden ist. Niemand interessiert sich mehr für ihn. Erst Eberhard Röhm, Dozent am Pädagogisch-Theologischen Zentrum der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, hat die Spuren Hermann Stöhrs gesichert und ihm 1985 mit einer Biografie ein literarisches Denkmal gesetzt. Im selben Jahr ist ein Gemeindezentrum in Berlin-Charlottenburg nach Hermann Stöhr benannt worden. 1997 hebt das Berliner Landgericht das Urteil gegen den Kriegsdienstverweigerer auf.
In Berlin-Friedrichshain trägt ein ziemlich heruntergekommener Platz am Ostbahnhof seit 1998 seinen Namen, und an einem großen Findling befindet sich eine Gedenktafel. Hermann-Stöhr-Straßen gibt es in Buchholz bei Hamburg und in Pforzheim. Es handelt sich um Sackgassen, in Buchholz steht am Ende der Straße lediglich ein Gebäude, in dem eine Kindertagesstätte, eine Consulting Firma und ein Rechtsanwaltsbüro untergebracht sind. Bedenkt man, wie viele nach waschechten Militaristen – Bismarck, Moltke, Roon, Hindenburg etc. – benannte Straßen es in deutschen Städten gibt, offenbart sich, dass die oft gerühmte Erinnerungskultur in den politischen Alltag bislang wenig eingedrungen ist. Man verkenne nicht, dass das Gerede des AfD-Fraktionschefs Alexander Gauland vom „Vogelschiss“ Ausdruck einer weitverbreiteten Haltung ist.
Wem gebührt Ehre?
Was die religiösen Kriegsdienstverweigerer wie August Dickmann, Martin Gauger, Bernhard Grimm, Alfred Herbst, Wilhelm Kempa, Michael Lerpscher, Josef Mayr-Nusser, Franz Reinisch, Richard Reitsamer, Vinzenz Schaller, Ernst Volkmann oder Leander Josef Zrenner über alle Beweggründe hinweg eint, ist das Bemühen, nicht in die Lage zu kommen, einen anderen Menschen zu töten. Sie wollten nicht schuldig oder mitschuldig werden und waren zuversichtlich, das Richtige zu tun und gottgefällig zu handeln. Wer ihre Abschiedsbriefe liest, die in dem Buch von Helmut Kurz neben Briefen, Fotos und weiteren persönlichen Zeugnissen enthalten sind, wird nicht unberührt bleiben von einer Haltung, die Respekt und Achtung abverlangt. Erschütternd auch, dass die großen Kirchen, einen „gerechten Krieg“ und Gehorsam gegenüber der Obrigkeit predigend, sie allein ließen und sich an ihrer weiteren Diskriminierung in den Jahrzehnten nach 1945 sogar noch beteiligten.
Neben den Mechanismen und Maßnahmen der Wehrmachtsjustiz schildert Kurz, wie die einst verfemten „Drückeberger“, „Feiglinge“ und „Wehrkraftzersetzer“ auf einem langen, steinigen Weg inzwischen Anerkennung gefunden haben und manche von ihnen in den Kirchen heute als Märtyrer gelten. Indem Kurz an ihren Mut, ihre Geradlinigkeit und ihr Festhalten an christlichen Grundwerten erinnert, trägt er dazu bei, noch immer weit verbreitete Vorurteile zu widerlegen.
Jägerstätter, Stöhr und all die anderen Kriegsdienstverweigerer stellen uns vor eine Wahl: Wollen wir ihnen die Ehre geben oder jenen folgen, die das Töten befohlen oder wie Bismarck etc. das Räderwerk des Krieges in Gang gesetzt haben? Jägerstätters wie Stöhrs Mitempfinden für die von ihnen bei einer Beteiligung an Kriegshandlungen niederzustreckenden „Feinde“, ihre Weigerung, einen anderen Menschen in einem zutiefst ungerechten und verbrecherischen Krieg zu töten, ist ein Ausdruck höchster Menschlichkeit.
Helmut Donat, erstmals erschienen in: junge Welt, 10./11.10.2020 (Bilder: Verlag)
Helmut Kurz: In Gottes Wahrheit leben – Religiöse Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von der Internationalen katholischen Friedensbewegung Pax Christi, Deutsche Sektion e. V., sowie von Pax-Christi-Diözesanverband Rottenburg-Stuttgart, Donat Verlag, Bremen 2020, 320 Seiten, 18 Euro.
Ich hoffe das Buch macht Mut für eine Nachkriegsfortsetzung. Die alte Inselstadt Westberlin war Ziel für eine Vielzahl junger Männer, die aus dem Grund Kriegsdienstverweigerung bis weit in die 70er, teils 80er Jahre in die geteilte Stadt flohen und als Wehrdienstverweigerer auch Nachstellungen durch Behörden oder Feldjäger der Bundeswehr ausgesetzt waren.
So konnten Menschen, die einfach nur den Brief mit dem Absender der Eltern oder einer unbekannten Frau öffneten, darin ihren Einberufungsbefehl finden und fortan als Deserteure verfolgt werden.
Feldjäger durften zwar in Westberlin wegen des Viermächtestatus nicht aktiv werden, aber wehe man besuchte seine Eltern, Angehörige oder Freunde zu Festtagen in Westdeutschland. Das ging allenfalls unter hoch konspirativen Bedingungen und scheiterte allzu oft an wachsamen Nachbarn. Ausgeflogen gegen ihren Willen wurden aber dennoch viele Verweigerer.
Statt Hinrichtungen, die es nach dem Krieg nicht mehr gab, wählte eine stattliche Zahl verzweifelter Menschen den Freitod. Für amerikanische Kriegsflüchtlinge hieß das Fluchtziel damals Schweden, aber auch deren Leben endete, sofern die Flucht mißlang wiederholt durch Suizid.
Benachteiligung bei der Arbeitsplatzbewerbung und die gängigen Vorwürfe: Schwächling, ehrloser und feiger Drückeberger, die gibt es wohl heute immer noch und ich fürchte zunehmend.