Hinter dem Zero ein Nero (II)

Er hat ausgedient – vielleicht ja bald auch in Konstanz? Nicht überall, aber zumindest gelegentlich verschwinden weitere Hindenburgplätze und -straßen aus dem Stadtbild. Der Berufssoldat Paul von Hindenburg war einer der Köpfe hinter der brutalen deutschen Kriegsführung im Ersten Weltkrieg, er war ein überzeugter Militarist und eingeschworener Feind der Demokratie. Außerdem begünstigte er korrupte Machenschaften und wurde schließlich zum Steigbügelhalter für den Nationalsozialismus.

Obwohl die OHL durch eigene Fehlentscheidungen die militärische Niederlage Deutschlands besiegelt und Ende 1918 selbst auf die Kapitulation gedrängt hatte, propagierte der 1919 pensionierte Hindenburg alsbald die perfide Lüge vom Dolchstoß in den Rücken des Heeres, der dem „im Felde unbesiegten Heer“ den Garaus gemacht haben sollte. Zugleich unterstützte er die Propaganda von der Unschuld des Kaiserreichs an der Entfesselung des Weltkrieges und erschwerte auch damit der Weimarer Republik eine von militaristisch-nationalistischen Verschwörungstheorien unbelastete Entwicklung.

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Die Politik der „verbrannten Erde“ beim Rückzug der deutschen Armee in den Jahren 1917 und 1918 in Frankreich sowie in Belgien führte zu den „Kriegsverbrechen“-Paragraphen 227 bis 230 des Versailler Vertrags und zu einem erfolglos gebliebenen Auslieferungsbegehren der Alliierten u. a. von Hindenburg, Ludendorff und dem bayerischen Kronprinzen Rupprecht. Von den Rechtsparteien zur Kandidatur gedrängt, gewann Hindenburg 1925 die Wahl zum Reichspräsidenten. 1927, bei der Einweihung des Reichsehrenmals Tannenberg – ein „Geschenk des deutschen Volkes“ zu seinem 80. Geburtstag –, ließ er es zu, dass die jüdischen Frontkämpferverbände und das sozialdemokratisch dominierte Reichsbanner nicht teilnehmen durften.

Korrupt und antidemokratisch

1932 – das Land befand sich in einer schweren politischen Krise – verhalfen ihm die demokratischen Parteien gegen den Kandidaten der Rechten, Adolf Hitler, zur Wiederwahl. Kurz darauf entließ Hindenburg, stets zutiefst antidemokratisch gesinnt, den Reichskanzler Heinrich Brüning, um statt seiner eine Rechtsregierung ins Amt zu bringen. Die Gründe dafür hingen mit der von Hindenburg ins Leben gerufenen und von ihm in besonderer Weise geförderten „Osthilfe“ zusammen, dem größten Subventionsprogramm der Weimarer Republik, das hauptsächlich den ostelbischen Großgrundbesitzern zugutekam und sie in die Lage versetzen sollte, ihre wirtschaftlich marode Lage zu überwinden, während das Volk unter den Lasten der Weltwirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit litt.

Im Januar 1933 begannen Presse und Öffentlichkeit, sich in wachsendem Maße mit der „Osthilfe“ zu beschäftigen. Ein Ausschuss des Reichstags ging Hinweisen auf betrügerische Machenschaften nach. Die Aufdeckung der Missstände musste Hindenburg, den „Vater“ der „Osthilfe“, früher oder später in Verruf bringen. Doch nicht nur ihn. Nach einem Bericht der Presse soll selbst ein Mitglied der Hohenzollern-Familie in die Affäre verwickelt gewesen sein. Was aber spielte sich fortan hinter den Kulissen ab? Drohte Hindenburg sein Amt zu verlieren? Wie reagierten die Nutznießer der „Osthilfe“, die ostelbischen Großgrundbesitzer und preußischen Junker?

In seinem jüngst erschienenen Buch „Der Skandal“ hat der Historiker Dieter Hoffmann diese und weitere Fragen beantwortet und nachgewiesen, dass viele Großgrundbesitzer die Subventionen für private Zwecke missbraucht hatten. Zudem hat er unbekannte Quellen ausgewertet sowie auf die auf genauen Beobachtungen beruhenden Schlussfolgerungen von Zeitgenossen sowie von Journalisten, Schriftstellern und Historikern zurückgegriffen. Zwar fand er keine schriftlichen Zeugnisse über die getroffenen Absprachen und Entscheidungen – offenbar haben die Beteiligten alles getan, um keine Spuren zu hinterlassen –, doch ist die von ihm geknüpfte Indizienkette so schlüssig, dass sie sich nicht einfach als konstruiert abtun lässt.

Vetternwirtschaft

Zeitungsberichte warfen dem Reichspräsidenten ein Eingreifen in Verfahren zur Entschuldung und zur Subventionsvergabe vor, indem Bekannte und Verwandte Hindenburgs bevorzugt behandelt worden waren. Dieser musste als Teil des Skandals mit weiteren Enthüllungen rechnen. Aus Sicht der ostelbischen Großgrundbesitzer wie auch Hindenburgs war alles zu tun, den Schaden abzuwenden. Über Elard von Oldenburg-Januschau, Gutsnachbar von Hindenburg, und den Reichslandbund, ihrem Interessenvertreter, übten sie Druck auf den Reichspräsidenten aus. Ohne Bruch der Verfassung gab es aber keine Möglichkeit, der Presse oder dem Untersuchungsausschuss beizukommen. Den Ausweg sah Hindenburg in einem Bündnis mit der Massenbewegung der Nazis, die die Straßen beherrschte und seit langem darauf aus war, die Republik abzuschaffen. Hitlers Gegenleistung bestand darin, den Skandal niederzuschlagen. Dass Preußentum und Faschismus eine Verbindung eingingen, war so außergewöhnlich nicht, fußten doch wichtige Elemente der nazistischen Weltanschauung auf der militärischen Tradition des alten Preußentums (Uniformierung, Autoritätsglauben, Kadavergehorsam, Verherrlichung des Soldaten- und Kriegertums, Denken in Gewaltkategorien).

Am 30. Januar 1933 lag der fünfzehnjährige Heinrich Böll, so schrieb er 1981 in einem Brief an Kasseler Schüler, „an einer schweren Grippe erkrankt, zu Bett, Opfer einer Epidemie, die meines Erachtens bei der Analyse der Machtergreifung zu wenig beachtet wird. Immerhin war das öffentliche Leben partiell gelähmt, waren viele Schulen und Behörden geschlossen. Ein Schüler brachte mir die Nachricht ans Krankenbett. Die Nachricht von Hitlers Ernennung kam nicht überraschend, Hindenburg war alles zuzutrauen und der ‚Osthilfeskandal‘ hatte dem ‚ehrwürdigen, greisen Marschall‘ den letzten, ohnehin minimalen Kredit genommen.“

Bock zum Gärtner

Indem Hindenburg Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannte, rettete er sich selbst und gab die letzten Restbestände der Republik der Diktatur preis. Hiermit und durch den Erlass einer Notstandsverordnung zur Außerkraftsetzung der Grundrechte (Reichstagsbrandverordnung) leitete Hindenburg das Ende der Demokratie und den Beginn der Naziherrschaft ein. Er wusste genau, was er tat, als er Hitler zum Reichskanzler ernannte, hatte er ihn doch noch wenige Monate zuvor als Emporkömmling abgelehnt und ihm die Erteilung präsidialer Vollmachten verweigert, weil dies sich „zwangsläufig zu einer Parteidiktatur mit allen ihren Folgen (…) entwickeln würde“.

Die etablierte deutsche Geschichtsschreibung hat kein Interesse, diese Sachverhalte aufzudecken. Sie weigert sich, Hindenburgs Rolle im „Osthilfe“-Skandal zu erörtern, lässt seine grausame Kriegführung – „Der barbarische Krieg ist der humanste, weil kürzeste“, „Der Krieg bekommt mir wie eine Badekur“ – im Weltkrieg unerwähnt. So attestiert der an der Universität Stuttgart lehrende Hindenburg-Biograph Wolfram Pyta ihm ein „starkes herrschaftliches Selbstverständnis“, das nicht damit vereinbar gewesen sei, „ausgerechnet die Entscheidung über die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und damit eine politische Weichenstellung von größter Tragweite aus der Hand zu geben“. Hitler sei Hindenburg, so Pyta, nicht von dritter Seite eingeredet worden. Derlei Behauptungen entbehrten „jeder quellenmäßig verbürgten Grundlage“; vor allem sei die These, die ostelbischen Grundbesitzer hätten durch ihr Drängen den Ausschlag für Hitlers Ernennung zum Reichskanzler gegeben, nichts weiter als „pure Spekulation“. So kann man es auch machen. Da nicht sein kann, was nicht sein darf, und weil es keine dokumentarischen Belege gibt, werden naheliegende Einsichten in das Reich der Phantasie verbannt. Dabei muss Pyta selbst konstatieren, dass die „Anliegen der ostdeutschen Agrarier stets ein offenes Ohr“ bei Hindenburg fanden. Mehr noch. Zweifellos habe „deren Standesorganisation (…) ihren Teil dazu beigetragen (…), die Regierung Schleicher zu schwächen“, doch sei Hindenburg, nachdem er erfahren hatte, dass der Reichslandbund sich bereits vor der Unterredung mit ihm am 11. Januar 1933 in einer Presseerklärung vehement gegen Schleicher gewandt hatte, von der agrarischen Standesorganisation öffentlich und verärgert abgerückt, weil er übergangen worden sei. Pyta gelangt zu dem Schluss: Hindenburg habe sich „aus eigener Machtvollkommenheit und aus eigenem Entschluss am 29. Januar 1933 für die von Papen ausgehandelte Lösung“ entschieden und „als Konsequenz daraus am Mittag des 30. Januar die Vereidigung einer neuen Regierung mit Hitler an der Spitze“ vorgenommen. Kein Wort verliert Pyta über Hindenburgs Rolle im „Osthilfe“-Skandal. Nichts erfährt man von den Kriegsverbrechen, für die er verantwortlich zeichnete etc. Zudem flüchtet sich Pyta in Abstraktionen und suspekte soziologische Deutungsmuster, wenn er Hindenburgs Verhalten in der „Staatskrise von 1932/33“ aus dem „Spannungsverhältnis zwischen charismatischer und legalistischer Herrschaft“ erklärt – wozu allerdings in Widerspruch steht, dass selbst Pyta Hindenburg als einen Militär und Politiker ansieht, der grundsätzlich antiparlamentarische und antipluralistische Positionen vertrat.

Hindenburg sprach aus, was viele Deutsche dachten oder wünschten. Biographen, die eine Einmaligkeit Wilhelms II., Hindenburgs und Hitlers beschwören, lenken nur von dem wichtigen Faktum ab, dass sie vor allem Ausdruck eines Sozialcharakters waren, von dem entscheidende Teile des deutschen Volkes nach 1870 mehr oder minder geprägt worden sind, vor allem die intellektuellen und herrschenden Schichten. Es empfiehlt sich, zu dem noch immer lesenswerten Buch Anna von der Goltz’ „Hindenburg: Power, Myth, and the Rise of the Nazis“ (2009) zu greifen, um davon eine Ahnung zu kriegen.

Auch die kürzlich in zwei Teilen ausgestrahlte ZDF-Dokumentation „Wer verhalf Hitler zur Macht?“, übernommen von der BBC, lässt den „Osthilfe“-Skandal unerwähnt, als hätte es ihn nie gegeben. Stattdessen ging es viel um Intrigen, Machtgerangel, Skrupellosigkeit und Oberflächliches, während die Bewegungskräfte und die historisch-politischen Gründe des Handelns der Akteure weitgehend im Dunkeln blieben. Warum auch neue Einsichten zulassen, wenn es doch althergebracht geht?

Text: Helmut Donat (Bilder: Straßenumbenennung in Münster (oben) This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic license; Bernhard Partridge in „The Punch“, 8. Februar 1933 (c) Donat Verlag; Osthilfe-Skandal (c) Donat Verlag)

Zu Teil I geht es hier.
Zu Teil III geht es hier.


Literatur

Dieter Hoffmann: Der Skandal – Hindenburgs Entscheidung für Hitler, Bremen 2020.
Till Zimmermann/Nikolas Dörr: Gesichter des Bösen – Verbrechen und Verbrecher des 20. Jahrhunderts. Mit einem Geleitwort von Heribert Prantl, Bremen 2015.