„Nicht zeitlebens Sklave des Kapitals bleiben“ (I)

Ein neues – das darf ohne Übertreibung schon jetzt gesagt werden – Standardwerk zur Konstanzer Stadtgeschichte ist soeben erschienen. Keine weitere „normale“ Geschichte, sondern eine „etwas andere“, die nicht auf den Spuren der Mächtigen und Scheinheiligen durch die Stadt wandelt: „Druck. Machen.“, ein opulent gestaltetes Werk, folgt den Spuren jener Menschen, die – zumeist unter miesen Bedingungen – als Drucker und Setzer gearbeitet haben. Der rote Faden sind 150 Jahre Gewerkschaftsgeschichte.

Eine Stadt bleibt so lange auch für ihre BewohnerInnen eine Aneinanderreihung mehr oder weniger schöner Fassaden, bis sie sich mit ihrer Geschichte vertraut machen und zu verstehen beginnen, welche Kräfte, Interessen und Kämpfe sie geprägt haben und in welchen Gemäuern und auf welchen Plätzen diese stattfanden. Dann werden Orte plötzlich lebendig, die bisher als nichtssagend übersehen wurden.

In diesem Sinne einer verstehenden Stadtgeschichte gibt es viele verschiedene Arten, sich von dem Buch „Druck. Machen.“ anregen zu lassen, denn es ist Gewerkschaftsgeschichte, es verwebt „große“ und „kleine“ Geschichte, und es führt durch Gasthäuser und in Sportvereine – aber bewusst nicht in Kirchen oder Villen (sondern höchstens mal am 1. Mai über die Zäune und Mauern seenaher Prunkbauten als Protest gegen die Privatisierung des Ufers).

Konsum in der Katzgasse

Es sind andere Orte als die Salons der Reichen und Ewigschönen, an denen die „normalen“ Menschen sich trafen, um ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen. Oft waren es Gasthäuser mit größeren Versammlungsräumen, in denen nicht nur von Zeit zu Zeit getanzt, sondern regelmäßig auch Politik gemacht – und das arbeitende Volk von der Obrigkeit bespitzelt wurde.

Viele dieser Orte sind heute nicht mehr als solche zu erkennen, daher ist es eine hervorragende Idee der BuchmacherInnen, eine ausklappbare Karte jener Orte beizugeben, die in der Geschichte der Konstanzer Demokratiegeschichte eine tragende Rolle gespielt haben. Wer würde denn schon ahnen, dass sich etwa in der Katzgasse 15, in der heute gegenüber der Bar „Schwarze Katz“ ein Tattoo-Studio residiert, im Herbst 1920 eine gewerkschaftliche „Warenversorgung“ untergebracht war, in der es verbilligte Grundnahrungsmittel für die Armen der Stadt gab? Und wer hätte gedacht, dass es im biederen „Rößle“ in der Radolfzeller Straße 19 – im damals noch nicht nach Konstanz eingemeindeten Wollmatingen – 1931 zu einer Saalschlacht zwischen Nazis und AntifaschistInnen kam, bei der Fenster und erhebliche Teile des Mobiliars zu Bruch gingen? 28 Stühle (man benötigte die Stuhlbeine schließlich als Waffen), zwei Tische sowie die meisten Fensterscheiben gingen bei dem Kampf entzwei, mehr als ein halbes Dutzend Nazis landete im Krankenhaus. Die Obrigkeit ließ daraufhin natürlich zwei Antifaschisten verhaften. Parallelen zur Gegenwart, das lehrt die Geschichte nur allzu nachdrücklich, müssen nicht immer rein zufällig sein …

Wie alles anfing

Konstanz als Bischofssitz, also als ein Ort mit relativ vielen des Lesens und Schreibens mehr oder weniger kundigen Menschen, hat eine jahrhundertealte Druckereigeschichte, die bis mindestens ins Jahr 1505 zurückreicht. Die Druckereien wurden teils von Unternehmern, teils von der Stadt, teils auch von den Pfaffen betrieben. Schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde in der Kanzleistraße gedruckt – es ist vielleicht kein Zufall, dass sich in just jenem Hause heute die Osiandersche Buchhandlung befindet. Auch eine andere heutige Buchhandlung taucht gar auf einem alten Foto als Druckerei auf: Am 6.1.1919 versammelten sich am Münster empörte Soldaten, um gegen die Hetze der dort ansässigen katholischen „Konstanzer Nachrichten“ zu protestieren – in nämlichem Gebäude befindet sich heute Homburger & Hepp.

Bereits das Jahr 1848 aber bedeutete für das, was später einmal Deutschland wurde, eine große Zäsur – nicht nur das ökonomisch stärker gewordene Bürgertum drängte an die Macht, es bildeten sich auch erste Arbeitervereine, und Drucker und Schriftsetzer, die relativ gebildet waren, waren ganz vorn mit dabei. Man darf bei dieser frühen Mobilisierung die Rolle der Gesellen nicht unterschätzen: Sie konnten nicht nur lesen und hatten berufsbedingt Zugang zu oft rarem Schrifttum, sondern waren viel auf Wanderschaft und halfen so, Netzwerke zu knüpfen, Ideen zu verbreiten und gelegentlich auch dabei, verbotenes Schrifttum herzustellen und unter die Leute zu bringen. Da nimmt es nicht Wunder, dass im Juni 1848 eine Versammlung der Buchdruckergehilfen in Mainz mit ihren Forderungen nach einem Mindestlohn, dem 10-Stunden-Tag und Überstundenzuschlägen eine Vorreiterrolle einnahm, und das zu einer Zeit, in der auch die Forderungen nach Pressefreiheit und allgemeinem Wahlrecht (für Männer, versteht sich) immer lauter wurden.

Dass die entstehende Gewerkschaftsbewegung jahrzehntelang reine Männersache war, macht dieses Buch deutlich, das den Frauen in der (Konstanzer) Gewerkschaftsbewegung der jüngeren Zeit ein umfangreiches Kapitel widmet und auch ein ganzseitiges Porträt von Johanna Hemm präsentiert, der bis heute wohl bekanntesten Frau der Konstanzer Linken im 20. Jahrhundert.

Exzesse mit Schlachtopfern

Natürlich reagierte die Obrigkeit schon im 19. Jahrhundert mit Verboten und Verhaftungen auf das erste Aufkeimen der Arbeiterbewegung, nicht nur jener des Druckgewerbes, und stand damit in erprobter Tradition, denn schon das Reichsgewerbegesetz vom 16. August 1731 hatte Gesellenverbände und Arbeitskämpfe verboten und Arbeitsverweigerungen mit drastischen Strafen bis hin zur Todesstrafe bedroht, wie Wikipedia vermerkt. Die Umstände waren jedenfalls bestens dazu angetan, die Menschen auf die Barrikaden zu treiben. Karl Marx, der sich intensiv mit den Lebensverhältnissen seiner Mitmenschen auseinandersetzte, notierte: „Die Arbeitsexzesse für Erwachsne und Unerwachsne haben verschiednen Londoner Zeitungs- und Buchdruckereien den rühmlichen Namen: ‚Das Schlachthaus‘ gesichert. Dieselben Exzesse, deren Schlachtopfer hier namentlich Weiber, Mädchen und Kinder [sind], [gibt es] in der Buchbinderei.“ Die arbeitende Bevölkerung in England wurde damals durchschnittlich 38,5 Jahre alt, in Preußen erlebte sie nur kummerreiche 29,6 Jahre, und Kinderarbeit, Bleistaub, absurd lange Arbeitszeiten und die Schwindsucht brachten die Mehrheit der ArbeiterInnen sehr frühzeitig unter die Erde.

Angesichts dieser (für die frühen Kapitalisten paradiesischen) Zustände fiel das „Koalitionsverbot“ auch in den deutschen Staaten schrittweise, und Arbeitervereine und Unterstützungskassen wurden ins Leben gerufen. 1870 entstand dann nach einigen Vorwehen der Konstanzer Ortsverein des Verbands der Deutschen Buchdrucker, und dieses Ereignis wurde jetzt zum Anlass für dieses äußerst lesenswerte Buch über 150 Jahre Konstanzer Gewerkschafts- und Demokratiegeschichte. Mehr dazu in den nächsten Tagen in Teil II dieses Textes.

Den zweiten Teil der Besprechung gibt es HIER.

AutorInnenkollektiv Ralph-Raymond Braun, Patrick Brauns, Pit Wuhrer, Margrit Zepf: „Druck. Machen. Eine etwas andere Stadtgeschichte von Konstanz.“ Querwege Verlag, Konstanz 2021, 184 Seiten, ISBN 978-3-941585-11-9, 19,80 Euro / 25 CHF. Unter Mitwirkung u.a. von Harald Fette und Stefan Frommherz, eines StudentInnenteams der HTWG Konstanz, Prof. Karin Kaiser (HTWG) sowie mit Unterstützung von Vera Breithaupt, Matthias Märkle und Silke Schöttle vom Stadtarchiv Konstanz und von Franz Hofmann vom Kreisarchiv.

O. Pugliese (Bilder mit freundlicher Genehmigung der AutorInnen – Oben: Gemeinsame Mai-Demo 2018 in Kreuzlingen vom Zoll zur Dreispitzhalle (c) Michael Wirz; Mitte: Menschen – zufällig weiblich, DGB-Frauengruppe 1984 (c) privat, Sammlung Gabi Straschewski