„Weiße Raben“ (I)

Anders als Graf von Stauffenberg wird ihnen bis heute keine staatliche Ehrung zuteil: So sind etwa jene Offiziere, die sich schon vor 1933 dem Pazifismus zuwandten, heute vergessen und werden bei offiziellen Gedenkanlässen übergangen. Die Erinnerung an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus wird auf die Militärs des 20. Juli beschränkt, andere Menschen, die gegen Hitler teils schon wesentlich früher Kopf und Kragen riskierten, werden weiterhin nicht geehrt.

Alle Jahre wieder erinnern Vertreter der Bundesregierung, der Länder, der Bundeswehr und einer Reihe von Stiftungen an die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944. Im letzten Jahr fand die Veranstaltung in der Berliner Gedenkstätte Plötzensee statt. Philipp von Schulthess, Enkel von Claus Schenk Graf von Stauffenberg, hielt die Hauptrede. Für alle heute und später lebenden Generationen von Deutschen sei es, so seine Worte, „von zentraler befreiender Wirkung“, dass es diese Menschen im Widerstand gegeben habe, die mit der Schuld und der Schande ihres Volkes einfach nicht weiterleben wollten. Offenbar ist Schulthess bei seiner Entgegensetzung selbst nicht ganz wohl gewesen, wies er doch gleich darauf hin, dass es zahlreiche, teilweise unbekannte und aus verschiedenen sozialen Schichten stammende Widerstandskämpfer gegen den Faschismus und das Hitler-Regime gab. Schulthess redet einer Rangordnung das Wort: An der Spitze stehen die dem Militär angehörenden Widerständler, danach folgen alle anderen. Damit entspricht er nicht nur der gouvernementalen Traditionspflege, er macht zugleich auf ein Problem aufmerksam, das mit Wert- und Moralvorstellungen zu tun hat, die den gängigen bundesrepublikanischen Umgang mit der Vergangenheit bestimmen.

Es bleiben Fragen

Der Widerstand gegen das Naziregime begann nicht erst 1944 oder in den Kriegsjahren davor. Und er ging – von Ausnahmen abgesehen – zunächst nicht von Militärs aus, sondern von Menschen, die sich aus politischen, religiösen oder humanitären Gründen gegen das Naziregime gewandt und die Folgen ihrer Widerstandshandlungen – Haft, Folter und Tod – auf sich genommen haben. Warum gibt es für sie keinen nationalen Gedenktag? Warum wird Georg Elsers Attentat auf Hitler vom 8. November 1938 nicht auf gouvernementaler Ebene gewürdigt? Weil er „nur“ ein einfacher Zivilist, ein Mann aus dem Volke war? Ist sein Widerstand weniger wert als der von Stauffenberg, der, anders als Elser, über viel bessere Bedingungen für die Vorbereitung des Attentats verfügte?

Entgegen dem Résistancemythos, der um die Offiziere des 20. Juli herum seit langem aufgebaut wird, um daraus eine Art Ehrenrettung des Militär- und Soldatentums abzuleiten, ist mit Nachdruckdarauf hinzuweisen, wie geradezu jammervoll sich die Rolle der deutschen Generalität vor und nach 1933 ausnimmt. Sie war, was den Niedergang der Republik und den Aufbau des „Dritten Reiches“ betrifft, eine der schuldigsten Gruppen. Sie hat Hitler freudig die Hand gereicht. Nahezu alle hochrangigen Offiziere tragen Verantwortung dafür, dass die Demokratie, der Frieden und die Freiheit auf der Strecke blieben. Ist die Tat Georg Elsers nicht ein Armutszeugnis für viele Offiziere des Widerstandes, die bis weit in den Zweiten Weltkrieg hinein nicht den Mut zeigten, den ein einfacher Handwerker ihnen vor Augen geführt hat?

Zweifellos kann der Opfertod für eine gute Sache etwas Bedeutendes und Ergreifendes sein. Ist aber hier nicht die Frage zu stellen, ob ein Großteil der Männer des 20. Juli wegen ihrer langjährigen Unterstützung des Naziregimes von Antifaschisten, von Juden, Sozialdemokraten, Kommunisten, Pazifisten, Zeugen Jehovas, Kriegs- und Wehrdienstverweigerern sowie von den Menschen all jener Länder, die von den deutschen Faschisten überfallen wurden, überhaupt akzeptiert werden kann? Und wie können jene, die zwischen den Kriegen alles dafür getan haben, die Weimarer Republik zu zerstören und an dem Zustandekommen der „Harzburger Front“ – der Allianz Hugenberg-Seldte-Hitler, dem Bündnis von „Hakenkreuz und Stahlhelm“ – großen Anteil hatten, als Symbol des Widerstandes gelten? Haben sie nicht maßgeblich dazu beigetragen, den Weg in den Zweiten Weltkrieg zu ebnen, und sich in den Dienst eines verbrecherischen Staates gestellt? Und hätte eine stattliche Reihe der Beteiligten wirklich daran gedacht, gegen Hitler aufzustehen, wenn Generaloberst Heinz Guderian die Einnahme Moskaus und Generalfeldmarschall Friedrich Paulus der Übergang über die Wolga gelungen wäre?

Guderian, das sei hier kurz vermerkt, betätigte sich nach 1945 als Schriftsteller und Berater für das „Amt Blank“ – das Vorgängerinstitut des Verteidigungsministeriums der BRD, das zur Vorbereitung der Wiederbewaffnung Deutschlands diente – und besaß bedeutenden Anteil an der in die Welt gesetzten Legende von der „sauberen Wehrmacht“. Wie können Menschen dieses Schlages heute „Vorbilder“ sein?

Geschichtsrevisionismus

Gleichwohl behauptete der einstige Bundespräsident Heinrich Lübke, der 20. Juli 1944 stelle so etwas wie eine „Entsühnung des deutschen Volkes“ dar – so die Sprachregelung, der von Schulthess gefolgt ist. Noch immer mag man nicht unterscheiden zwischen den prinzipiellen Gegnern Hitlers (wie etwa Helmuth James Graf von Moltke, Julius Leber oder Pater Alfred Delp) und jenen radikalen Nationalisten der „Harzburger Front“, die als junge Leutnants zum ersten und als alte Generale zum zweiten Male auch in neutrale Nachbarländer einfielen, und die als Revanchisten, Antisemiten und „Herrenmenschen“ sich nur in Nuancen von Hitler unterschieden. Zu diesen Nationalisten zählen etwa der als „Wüstenfuchs“ geltende Erwin Rommel, der in den 1920er Jahren mithalf, die „Schwarze Reichswehr“ zu organisieren, oder jener Hans Speidel, der im Zweiten Weltkrieg in Frankreich Geiseln erschießen und Juden abtransportieren ließ und sich später an der Remilitarisierungspolitik Adenauers beteiligte, sowie Wilhelm Canaris, dessen Name in der Zeit nach 1918 bei vielen Aktionen gegen die Weimarer Republik auftauchte.

Zu viele der deutschen Militärs waren weit mehr als nur Mitläufer – und sie haben daraus Vorteile und gesellschaftliche Anerkennung gezogen. Es mag einer Reihe von ihnen anzurechnen sein, dass sie durch ihren späteren Widerstand zur Menschlichkeit zurückgefunden haben. Aber sind sie deshalb „Vorbilder“? Kann ich mich zu einem „Verehrer“ oder verständnisvollen Partner eines Menschen machen, an dessen Händen Blut klebt bzw. der mitverantwortlich ist für Verbrechen und Mord? Kann man darüber hinwegsehen oder so tun, als handele es sich dabei nur um lässliche „Jugendsünden“? Entgegen aller Fakten und Aufklärung gelten viele Militärs aber nach wie vor als „Widerständler“.

Bei einem Vortragsabend im Juli 2004 im Bremer Landes- bzw. Focke-Museum zum Thema „Helmuth Groscurth und Hans Graf von Sponeck – zwei Bremer Offiziere gegen Hitler“ erklärte einer der Veranstalter – neben dem Museum waren es die Bremer Landeszentrale für politische Bildung und eine Bundeswehr-Vereinigung –, beide Militärs seien „Vorbilder heutiger demokratischer Gesinnung“, die unsere Verehrung verdienten. Nun ist Graf Sponeck dem Widerstand schwerlich zuzurechnen. Wohl hat er eine, nicht zuletzt aus militärischen Erwägungen, richtige Entscheidung getroffen, als er Hitlers Befehl, bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen, verweigerte und damit seine Leute vor dem Tod bewahrte, wofür ihn Hitler verurteilen ließ. Das reicht aber nicht aus, um aus ihm einen Mann des Widerstands zu machen, zumal die Anordnungen zur Ermordung von Juden in seinem Befehlsbereich auf der Krim seine Unterschrift tragen.

Ähnliches gilt für Helmuth Groscurth, Sohn eines nationalistischen Bremer Pastors, in den frühen 1920er Jahren nicht einfach nur Mitglied, sondern „Kurier“ der für politische Morde verantwortlichen „Organisation Consul“ (OC). Die Attentate auf Karl Gareis, Matthias Erzberger, Walter Rathenau, Philipp Scheidemann, Maximilian Harden und Hellmut von Gerlach gingen auf das Konto der OC. Sie bekämpfte die Weimarer Verfassung, sammelte „entschlossene nationale Männer“ um sich, verfolgte illegale terroristische Bestrebungen und betrachtete es als ihre Aufgabe, die Tötung von Persönlichkeiten vorzubereiten und durchzuführen, die den „vaterländischen Interessen“ schadeten. Wie andere rechtskonservative Militaristen und Nationalisten unterstützte sie die Revisionspolitik der Deutschnationalen, der Nazis und der Wehrmachtsführung ebenso wie das Streben nach einer deutschen Hegemonie in Europa. Des Weiteren befürworteten sie Hitlers „Revolution“ und damit auch alle gegen die Gegner des Naziregimes gerichteten Maßnahmen – gegen Sozialdemokraten, Kommunisten und Pazifisten sowie gegen Gewerkschafter, Linksliberale und deutsche Staatsbürger jüdischer Herkunft. Groscurth wie andere Militärs waren Wegbereiter von Hitlers Eroberungskriegen. Erst als dessen Kriegspolitik aus ihrer Sicht immer mehr einem Vabanquespiel glich und der Terror durch Partei und SS ungeahnte Ausmaße annahm, fühlten sie sich als „nationalkonservative Fronde in der Abwehr zum Gegensteuern veranlasst“.

Selbst die Herausgeber der „Tagebücher“ Groscurths kommen nicht umhin festzustellen: „Was die politische Praxis angeht, so scheint er gegen die fragwürdige Minderheitenpolitik des Regimes, welche volksdeutsche wie fremde Minoritäten unter Gefährdung ihrer Existenz zu Instrumenten der Zersetzung im Dienst einer Expansionspolitik machte, im Hinblick auf einen möglichen Kriegsfall keine prinzipiellen Bedenken gehegt zu haben.“ Mit keinem Wort erinnert Groscurth in den „Tagebüchern“ an seine Mitgliedschaft in einer Mörderorganisation, an sein Engagement, die Republik zu zerstören oder an seine Bereitschaft, sich für den Expansionswillen Hitlers willfährig einzusetzen. Nach einem Eingeständnis, mitschuldig zu sein, sucht man vergebens.

Helmut Donat (Bilder: Leo Baeck Institute, New York, Papers of Salomon Dembitzer / Donat Verlag. Zu sehen sind Paul Freiherr von Schoenaich, Hans Paasche, Heinz Kraschutzki, Hans-Georg von Beerfelde (von links))

Der Beitrag wird morgen fortgesetzt.


Literatur

– Wolfram Wette (Hrsg.): Weiße Raben – Pazifistische Offiziere in Deutschland vor 1933.
– Lothar Wieland: In drei deutschen Staaten verfolgt – Hans-Georg von Beerfelde (1877–1960) und die gescheiterte Revolution der Wahrheit.
– Hans Paasche: „Ändert Euren Sinn!“ Schriften eines Revolutionärs.