Missbrauch bei den Zeugen Jehovas: Systematische Vertuschung
Vor einem Jahr berichtete der Humanistische Pressedienst, dass der Betroffenenverband „JW Opfer Hilfe“ über zwei Jahre mehr als 50 Meldungen zu mutmaßlichen Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs innerhalb der Sekte erhalten hatte. Der Verein forderte von den Zeugen Jehovas Aufarbeitung. Aus anderen Ländern war bereits von Missbrauchsfällen berichtet worden. Seit Juli letzten Jahres gibt es eine offizielle Untersuchung der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs, bei der Ende November ein Expertengespräch stattfand.
Dass der Umgang von Religionsgemeinschaften mit Missbrauch problematisch ist, ist nichts Neues. Man kennt das von der katholischen und der evangelischen Kirche. Bei den Zeugen Jehovas scheint die Situation ähnlich zu sein. Die Grundlage dafür sieht die aus der Sekte ausgeschlossene Barbara Kohout, die von der Aufarbeitungskommission eingeladen worden war, im Selbstverwaltungsrecht der Religionsgemeinschaften, wie es in Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit dem aus der Weimarer Reichsverfassung übernommenen Artikel 137 festgelegt ist. Innerorganisatorische Disziplinarverfahren führten dazu, dass Verdachtsfälle nicht öffentlich gemacht und nicht öffentlich aufgeklärt würden.
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Ein weiterer den Missbrauch begünstigender Faktor – der an anderer Stelle auch schon in Bezug auf die katholische Kirche genannt wurde – sei die Tabuisierung von Sexualität, wodurch Kinder Übergriffe nicht einordnen geschweige denn darüber sprechen könnten. Laut dem ebenfalls geladenen Udo Obermayer, Vorstandsvorsitzender des Aussteigervereins JZ Help, erfolge wenn überhaupt eine Anzeige bei einem Gemeindeoberhaupt, „Ältester“ genannt. Das Opfer müsse dann alleine vor einem Komitee von drei Ältesten, eventuell sogar in Anwesenheit des Täters, aussagen und sich rechtfertigen. Einem Verdacht wird aber nur nachgegangen, wenn es neben dem Kind mindestens einen weiteren Zeugen gibt („Zwei-Zeugen-Regel“). Andernfalls wird die Sache „in Jehovas Hände“ gegeben. An weltliche Ermittlungs- beziehungsweise Strafverfolgungsbehörden würden sich lediglich ausstiegswillige Mitglieder wenden, da die Leitung der Gemeinschaft dies nicht gutheiße.
Interessant ist Obermayers Verweis auf den Umgang mit dem Straftatbestand der sexuellen Gewalt gegen Minderjährige bei den Zeugen Jehovas: Der Begriff des sexuellen Kindesmissbrauchs sei in ihrem Regelwerk früher nicht benutzt worden, weil die Bibel diesen – im Gegensatz etwa zu außerehelichem Geschlechtsverkehr – nicht explizit untersage. Erst seit ein paar Jahren werde dieser analog zu Sex außerhalb der Ehe als Sünde eingestuft, als „unreiner Wandel“. Diese Einordnung als Sünde, die vergeben werden kann, schütze die Täter und belaste die Opfer spirituell. Wirksame Maßnahmen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor weiteren Übergriffen seien auf der anderen Seite nicht getroffen worden.
Aussteiger Wilhelm Hornung, der selbst einmal Ältester war, ging in dem Gespräch bei der Kommission noch einen Schritt weiter und sprach von einem „System der Vertuschung“. Er bestätigte, dass es nicht um Einzelfälle gehe, sondern es viele Fälle von sexueller Gewalt gegen Minderjährige bei den Zeugen Jehovas gab. Den Kindern sei nicht geglaubt worden; konnte die „Zwei-Zeugen-Regel“ nicht erfüllt werden, habe fortan über den Missbrauch geschwiegen werden müssen. Ansonsten hätte der Familie der Ausschluss gedroht. Es handle sich um ein „Scheinargument“, um „sexuelle Gewalt systematisch zu negieren und zu vertuschen“: „Da das Kind in aller Regel keine zwei Zeugen hat, ist die Untersuchung auch prompt beendet. Und das halte ich an der Stelle für äußerst perfide“, wird Hornung auf der Website der Unabhängigen Aufarbeitungskommission zitiert.
Zum Schutz von Minderjährigen in religiösen Gemeinschaften fordern die drei Aussteiger unter anderem eine Überarbeitung von Artikel 140 GG. Das Gesetz stelle „die Rechte der Religionsgemeinschaften über den grundrechtlichen Schutz der Betroffenen“. Der Staat brauche mehr Rechte, um durchgreifen zu können, ein Zugang zu den Akten müsse gesetzlich geregelt werden.
Betroffene und Zeitzeug:innen können sich mittels vertraulicher Anhörung oder schriftlichem Bericht an die Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs wenden.
Gisa Bodenstein; der Text erschien zuerst auf: www.hpd.de (Bild: H. Reile)
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