Viren den Hütten, den Villen Gesundheit (Teil 1/2)
Das Virus hat auch was Gutes, ist es doch so demokratisch. Für alle ist es gleich gefährlich, es interessiert sich nicht für den Kontostand, es nimmt keine Rücksicht auf den sozialen Status. So wurde von Anfang an und bis noch vor wenigen Monaten allerorten gesprochen. Obwohl alle von Anfang an Wissen konnten, dass das Gegenteil richtig ist. Gerade in Pandemiezeiten gehören Arme mit zu den Gefährdetsten, Wohlhabende wesentlich weniger. Studien, die das für diese Pandemie belegen, gibt es bereits seit Sommer 2020. „Die vierte Welle hat begonnen“, sagt das Robert-Koch-Institut, und die Bild-Zeitung munitioniert die Verschwörer-Querfront: „Bild entlarvt neue Corona-Panikmache. Horror-Papier vom RKI“. Ein geeigneter Zeitpunkt, an die soziale Frage zu erinnern. Der Publizist Wolfgang Storz besorgt das für uns in zwei Teilen.
Teil 1
Bis in dieses Frühjahr brauchten Medien und Politiker, um wenigstens ab und zu aus diesem Blickwinkel auf die Pandemie zu schauen. Dabei entlarvte die Berliner Publizistin Sigrun Matthiesen diese zu lange weitverbreitete Mär bereits vor einem Jahr, im Frühjahr 2020, mit dieser knappen Intervention: Es sei in einer Pandemie ausschlaggebend, ob 7 Leute in einer 2-Zimmer-Wohnung oder 2 in 7 Zimmern lebten.
Wie der soziale Stand den Virenalltag prägt, belegte beispielsweise in diesem Juni eine (nicht-repräsentative) Umfrage der Hans-Böckler-Stiftung, gewerkschaftsnahe verortet: 49 Prozent der geringverdienenden Befragten – auf der Lohnskala liegen sie im untersten Fünftel – sagten, sie seien einmal geimpft. Bei den deutlich besserverdienenden Befragten, sie liegen im obersten Fünftel, waren es zu diesem Zeitpunkt erheblich mehr, bereits 71 Prozent.
Wie gefährlich ist der kleine Geldbeutel?
Eine entsprechende Studie wurde bereits vor einem Jahr, im Sommer 2020, von Günter Wältermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Rheinland/Hamburg vorgestellt: „Soziale Unterschiede beeinflussen die Gesundheitschancen beträchtlich. Das zeigt sich auch in der COVID-Pandemie.“ Die Basis seiner Behauptung: Experten der AOK Rheinland/Hamburg und Wissenschaftler des Düsseldorfer Universitätsklinikums hatten Daten von mehr als 1,3 Millionen Versicherten von Januar bis Mai 2020 gesichtet. Ihre Leitfrage: Müssen Menschen in prekärer sozialer Lage – etwa Arbeitslose, Empfänger von Arbeitslosengeld I und II – häufiger als erwerbstätig Versicherte wegen COVID-19 im Krankenhaus behandelt werden? Ein Ergebnis: Vor allem Langzeitarbeitslose, meist Bezieher von Arbeitslosengeld II, haben ein um 84 Prozent erhöhtes Risiko wegen COVID-19 ins Krankenhaus zu müssen. Bei Empfängern von Arbeitslosengeld I – oft Menschen, die kurzzeitig ohne Arbeit sind – war das Risiko immerhin noch um knapp 18 Prozent erhöht.
Viele Alten sterben. Auch die im Augustinum?
So müsste spätestens im Sommer 2020 klar gewesen sein, dass nicht die Wohlhabenden wegen ihrer Reiselust auch noch in die hintersten Erdteile die Gefährdetsten sind – diese Erzählung gab es auch in den Anfangswochen —, sondern die am unteren Ende der sozialen Skala. Aber trotz dieses Wissens, allgemein zugänglich, ließen Medien, Öffentlichkeit und Politik diese Zusammenhänge noch monatelang links unten liegen. In Alarmhaltung standen jedoch alle, als es skandalös wurde: Ende Juni 2020 brachen bei der Fleischfabrik Tönnies Masseninfektionen unter den Beschäftigten aus; miese Lohn-, Arbeits- und Wohnverhältnisse, ebenso altbekannt wie beharrlich ignoriert, bescherten den Viren einen veritablen Hotspot. „Dass so was überhaupt möglich ist“, rissen viele ihre Augen groß auf, die Politik hyperventilierte. Trotzdem: Der Blickwinkel des sozialen Gefälles in Pandemiezeiten kam aus seiner unscheinbaren Ecke nicht heraus; eben abgesehen von Kurz-Aufregern über Hotspots in sozialen Brennpunkten, Flüchtlingsheimen und der Fleischindustrie.
Die Perspektive des sozialen Standes wurde bis vor kurzem nicht nur vernachlässigt bis ignoriert, sie wurde sogar (wissentlich) fein säuberlich aus offenkundigen Zusammenhängen herausgeschnitten. Das zeigt die Debatte über die Alten: Von Anfang an wurde die Seuche als Epidemie der Alten beschrieben, die seien am gefährdetsten, hieß es zurecht; übrigens wurde über deren besonderen Schutz sehr viel geschwätzt und sehr wenig erreicht. Aber: Was nie thematisiert und (meines Wissens) auch nie untersucht wurde, war die Frage, wie stark gerade in diesen Altersgruppen der soziale Stand über das Virus-Risiko entscheidet? Natürlich ist die Alte mehr gefährdet, die wegen Wohlstandsmangel in einem beengten Pflege- oder Altenheim bei unzureichender Pflege quasi unter Verschluss hausen muss; der Alte übrigens auch. Eine Zahl: Etwa 30 Prozent der Covid-Toten kommen aus Altersheimen; sicher die wenigsten davon aus den teuren Luxus-Heimen der Tertianum- oder Augustinum-Kette.
Der große blinde Fleck – nicht erst seit Corona
Für Experten ist das alles Alltagswissen, aber auch allen anderen, ob Publikum oder politisch Verantwortlichen, könnte das klar und bewusst sein, ist es doch offenkundig: in großen Wohnungen (oder Heimen) mit begrüntem Balkon und/oder Garten, ruhig gelegen, ohne Autoschadstoffe, ohne Geldsorgen, mit unterhaltsamen Büchern, neuen Hobbys (mit denen dann geprahlt werden kann) und Großbildschirm – so lässt sich auch ohne dauerhafte psychische Last eine Pandemie mit home-office, home-schooling und der einen oder anderen Quarantäne ganz gut aussitzen.
Offenkundige Zusammenhänge, die in Deutschland zumindest sehr unzureichend erforscht werden. So war im Datenreport 2021 des Statistischen Bundesamtes zu lesen, die gesundheitliche Ungleichheit sei in Deutschland „nur selten untersucht worden“; ganz anders als in Großbritannien und den USA, wo dieser Zusammenhang schon immer und auch jetzt in der Pandemie viel früher breit thematisiert wurde.
50 bis 70 Prozent höhere Sterblichkeit
Ein Team um den Schweizer Epidemiologen Matthias Egger hat für die Schweiz die offiziellen Corona-Daten (Tests, Einweisungen, Todesfälle etc.) zusammengetragen und diese mit Sozialdaten abgeglichen. Einer ihrer Befunde: Von den zehn Prozent der Ärmsten mussten 28,5 je 100 000 Personen in Intensivbehandlung, von den reichsten zehn Prozent weniger als die Hälfte, nämlich 13. Die linksliberale Wochenzeitung „WOZ“, Zürich, die darüber berichtete, kommentiert: „Corona ist ein Klassenvirus.“
Auch für Deutschland geht das Robert Koch-Institut (RKI) davon aus, dass die Sterblichkeit in sozial benachteiligten Wohngegenden um „50 bis 70 Prozent höher“ liegt als in den wohlhabenderen Gegenden. Das sind Befunde aus zwei Studien des Institutes. Und was für das Sterben gilt, gilt auch für das Sich-Infizieren: „Während der Inzidenzwert etwa bei sozial benachteiligten Senioren zwischen 60 und 79 Jahren Anfang Januar bei rund 190 lag, rangierte er bei den sozial und finanziell Bessergestellten im gleichen Alter bei etwas mehr als 100.“ So ein Zitat aus den Studien-Befunden. Kein Zufall, dass beispielsweise die (gedruckte) Frankfurter Allgemeine Zeitung darüber auf einer der hinteren Wirtschaftsseiten in einem kleinen Zweispalter so beiläufig berichtete; wir wollen uns doch unser Bild von der tollen Mittelschichts-Gesellschaft nicht kaputt machen lassen …
Rücksicht auf die Migranten! Wirklich?
Covid macht also nicht alle gleich, sondern bedroht Arme und Nicht-Wohlhabende besonders. Wird dieser offenkundige Zusammenhang ausnahmsweise nicht ignoriert – selbst die konservativ-liberale „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ spricht von einer „trägen“ Reaktion der deutschen Gesellschaft – dann sind Politikerinnen und auch Medienleute nicht selten schnell mit Vorhalten: Die sind doch selbst daran schuldig. Warum rauchen die soviel, suchen sich keine bessere Arbeit, ernähren sich von Fast-Food und Fuselalkohol – mit dem Lebens- und Ernährungsstil würde sogar jeder Wohlhabende krank werden …, wird er aber nicht. Eine zweite verbreitete Erklärung: Unter den Armen in Deutschland seien viele Migranten. So werde dieser Zusammenhang von Armut und Krankheit lieber verschwiegen, um wiederum diese nicht zu diskriminieren. Was gegen diese Annahme spricht: Dieser Zusammenhang wurde in Deutschland schon zu Zeiten verschwiegen, als es weit und breit kaum Migranten gab.
Wolfgang Storz (Bild: TheOtherKev auf Pixabay)
Zum zweiten Teil geht es hier.