100 Journalisten sitzen in der Türkei im Knast

Die Redaktion der türkischen Zeitung Cumhuriyet hat letzte Woche den Alternativen Nobelpreis erhalten. Für uns Anlass genug, auf einen Report von „Reporter ohne Grenzen (ROG)“ und eine Veranstaltung zu dem Thema nächste Woche in Konstanz hinzuweisen.

Zwei Monate nach der Verhängung des Ausnahmezustands hat die Repression gegen Journalisten in der Türkei ein nie gekanntes Ausmaß erreicht. Rund 100 Journalisten sind im Gefängnis, rund 100 Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsender wurden geschlossen. Die Reisepässe vieler Journalisten wurden annulliert. „Reporter ohne Grenzen (ROG)“ hat jetzt untersucht, welche Folgen der nach dem Putschversuch vom 15. Juli verhängte Ausnahmezustand für die Pressefreiheit hat.

„Schon vor dem Putschversuch hatten Journalisten in der Türkei massiv unter den zunehmend autoritären Zügen von Präsident Erdoğan und seiner Regierung zu leiden. Der Ausnahmezustand hat diese Entwicklung noch einmal dramatisch beschleunigt“, sagte ROG-Geschäftsführer Christian Mihr. „Der Ausnahmezustand in der Türkei hat schon jetzt schweren Schaden angerichtet und darf nicht verlängert werden.“

Türkisches Roulette

Seit seinem Putsch nach dem Militärputsch im Juli reißt die Kritik am türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan nicht ab: Meldungen über Menschenrechtsverletzungen häufen sich, die Medien sind an die kurze Leine gelegt.

Noch vor wenigen Jahren bewunderten viele in Europa den wirtschaftlichen Aufschwung und die liberale Atmosphäre am Bosporus. Und jetzt? Selbst konservative Kommentatoren fragen sich hierzulande, ob diese Türkei in der NATO bleiben darf – von einer EU-Mitgliedschaft ganz zu schweigen. Am Bosporus hingegen scheint Erdoğan unangefochtener denn je.

Wie kommt das? Ist die Marke „Türkei“ für den „Westen“ dauerhaft beschädigt? Oder kann der Westen gar nicht mehr ohne die Türkei? Außerdem: Was war da eigentlich los beim Militärputsch? Wo steht die zivilgesellschaftliche Bewegung, die bei den Gezi-Park-Protesten eine so eindrückliche Rolle spielte? Wohin entwickelt sich der Konflikt mit den Kurden? Welche regionalpolitischen Ziele verfolgt Erdoğan? Stürzt sogar die Wirtschaft ab?

Auf all diese Fragen (und noch ein paar mehr) wird Dieter Sauter eingehen. Sauter, der Anfang der achtziger Jahre beim Konstanzer Stadtmagazin „Nebelhorn“ für den Schwerpunkt Betriebe/Gewerkschaften verantwortlich zeichnete, war von 1992 bis 2005 Leiter des ARD-Studios Istanbul mit Büros in Ankara, Diyarbakir und Teheran. Seither arbeitet er als Regisseur (u.a. „Adieu Istanbul“ über die Geschichte der griechischen Minderheit in Istanbul), als Fotograf und als Korrespondent (u.a. für die Schweizer Wochenzeitung WOZ). Er publiziert auch auf seiner Webseite http://dieter-sauter.com und wohnt in Istanbul und Berlin.

Die Veranstaltung mit ihm findet statt am 4. Oktober 2016, 19.30 Uhr, im Treffpunkt Petershausen, Konstanz. Organisiert hat die Veranstaltung der Verein seemoz e.v. in Zusammenarbeit mit dem Kreisverband der Linken, der Linken Liste Konstanz, der DKP, dem Verein Demokratische ArbeiterInnen und Jugendliche Bodensee und dem ver.di-Ortsverein Medien im Landkreis Konstanz.

Fünf Tage nach dem Putschversuch hatte die türkische Regierung einen zunächst dreimonatigen Ausnahmezustand verhängt, der bis zum 20. Oktober gilt. Er erlaubt es den Behörden unter anderem, Druck und Verbreitung von Zeitungen und Zeitschriften zu verbieten, wenn diese eine „Bedrohung für die nationale Sicherheit“ darstellen. Zusätzlich sind Journalisten von den gleichen Einschränkungen betroffen wie alle anderen Bürger: So kann die Polizei Verdächtige nun für 30 statt zuvor vier Tage ohne Haftbefehl festhalten. In den ersten fünf Tagen kann Gefangenen der Zugang zu einem Anwalt verwehrt werden.

ROG fordert, dass diejenigen im Zuge des Ausnahmezustands verhängten Vorschriften sofort zurückgenommen werden, die gegen die Europäische Konvention für Menschenrechte verstoßen. Administrative Strafmaßnahmen wie die Annullierung oder Einziehung der Reisepässe und Presseausweise von Journalisten müssen rückgängig gemacht werden. Den Betroffenen müssen rechtsstaatliche Schritte gegen solche Maßnahmen ermöglicht werden. Alle Journalisten, gegen die keine Beweise für eine individuelle Beteiligung an einer Straftat vorliegen, müssen sofort und bedingungslos freigelassen werden.

Mitarbeit bei Gülen-Medien gleich Mittäterschaft beim Putschversuch

Nach Angaben der drei wichtigsten Journalistengewerkschaften haben seit dem Putschversuch 200 Journalisten zumindest zeitweise im Gefängnis gesessen. Davon waren laut der unabhängigen Journalistenplattform P24 am 14. September noch 101 gefangen. Unter ihnen sind mutmaßliche Gülen-Anhänger wie auch kurdische, säkulare oder linke Journalisten. Allein am 25. Juli wurden 42 Haftbefehle gegen Journalisten erlassen, zwei Tage später weitere 47. Gegen viele von ihnen wird vor allem ermittelt, weil sie für Medien gearbeitet haben, die mit der Gülen-Bewegung sympathisieren. Ihre Arbeit für solche Medien wird gleichgesetzt mit der Zugehörigkeit zur Gülen-Bewegung; diese wiederum wird als Mittäterschaft am Putschversuch ausgelegt.

Zwar hat Außenminister Mevlüt Cavusoglu behauptet, die Justizbehörden würden zwischen Putsch-Befürwortern und denen unterscheiden, die „echten Journalismus machen“. Aber in der Praxis behandeln die Behörden bestimmte Meinungen als Verbrechen. Die Haftbedingungen haben sich seit der Ausrufung des Ausnahmezustands rapide verschlechtert; die im Zuge der Annäherung an die Europäische Union im Laufe des zurückliegenden Jahrzehnts erreichten Verbesserungen sind damit schlagartig verpufft. Mehrere Journalisten berichten von Misshandlungen. So wurden Cemil Ugur und Halil Ibrahim Polat von der Tageszeitung Evrensel in Polizeigewahrsam beschimpft und angegriffen. Polizisten drohten ihnen, sie könnten das gleiche Schicksal wie der Journalist Metin Göktepe erleiden, der 1996 in Polizeigewahrsam ums Leben kam.

Rechtsstaatliche Verteidigungswege ausgeschaltet

Vielen Journalisten wurde nach ihrer Festnahme tagelang der Zugang zu einem Anwalt verwehrt. Orhan Kemal Cengiz etwa, ein bekannter Menschenrechtsanwalt und ehemaliger Kolumnist für die Tageszeitungen Radikal und Özgür Düsünce, wurde am 21. Juli zusammen mit seiner Frau, der Kolumnistin Sibel Hürtas (Al-Monitor), am Atatürk-Flughafen in Istanbul verhaftet. Seine Frau wurde am gleichen Tag entlassen, aber Cengiz wurde zu einer Anti-Terror Einheit der Nationalpolizei in Istanbul gebracht, wo er drei Tage lang keinen Zugang zu einem Anwalt hatte. Nach seiner Freilassung durfte er das Land nicht verlassen.

Am 27. Juli ordnete die Regierung per Dekret die Schließung und Enteignung von 45 Zeitungen, 16 Fernsehsendern, 23 Radiosendern, drei Nachrichtenagenturen und 15 Zeitschriften wegen des Verdachts auf „Zusammenarbeit“ mit der Gülen-Bewegung an. Darunter waren viele lokale Medien, aber auch führende überregionale Publikationen wie die Zeitung Tarafund das Nachrichtenmagazin Nokta. Der Ausnahmezustand erlaubte es der Justiz zudem, die pro-kurdische Tageszeitung Özgür Gündem auf unbestimmte Zeit zu schließen, weil sie als „Sprachrohr“ der verbotenen PKK fungiert und damit Propaganda einer „terroristischen Organisation“ veröffentlicht habe.

Reisepässe auch von Angehörigen eingezogen

Schikanen gegen Journalisten gehen nicht nur von der Justiz aus, hinzu kommen administrative Sanktionen. So sieht ein Dekret die Konfiszierung oder Annullierung der Reisepässe von Medienschaffenden vor, die unter Terrorverdacht stehen. Auch Angehörige von Journalisten sind betroffen. So wurde der Reisepass von Can Dündars Frau, Dilek Dündar, am 3. September eingezogen. Ein Beispiel für Behördenwillkür ist auch der Fall der Journalistin Tugba Tekerek. Sie wurde am 21. August vor dem Polizei-Hauptquartier im Istanbuler Viertel Gayrettepe in Gewahrsam genommen, als sie Fotos von den Familien festgenommener Richter, Polizisten und Beamten machte. Am nächsten Tag wurde sie ohne Anklage wieder freigelassen.

Auch ausländische Journalisten sind vom Ausnahmezustand betroffen. Schon nach den Gezi-Protesten im Jahr 2013 und verstärkt nach dem Wiederaufflammen der Kämpfe zwischen Armee und PKK im vergangenen Jahr haben die türkischen Behörden wiederholt ausländische Journalisten ausgewiesen oder durch Schikanen aus dem Land gedrängt. Der Ausnahmezustand hat diesen Trend noch verstärkt. Am 5. August wurde etwa die spanische Journalistin Beatriz Yubero festgenommen und von der Polizei für 36 Stunden in einer Sporthalle festgehalten. Sie wurde ausgewiesen, nachdem sie unter Zwang schriftlich erklärt hatte, sie verlasse die Türkei „freiwillig“.

ROG/pw