Wer schützt Brandts Ostpolitik vor der SPD? (III)

Die deutsche Sozialdemokratie muss dazu geprügelt werden, sich mit ihrer deutschlandschädlichen Russlandpolitik der letzten zwei bis drei Jahrzehnte zu beschäftigen. Und wenn sich ihre jetzigen und früheren Spitzenleute — Olaf Scholz, Frank-Walter Steinmeier, Manuela Schwesig, Sigmar Gabriel und Gerhard Schröder — heute äußern, dann vor allem, um eine durchgezogene Linie von Willy Brandt bis heute, von 1969 bis 2022, zu ziehen. Hier der letzte Teil einer dreiteiligen Serie von Wolfgang Storz.

Teil 1 lesen Sie hier, Teil 2 hier.

Und der zweite Unterschied: Die Entspannungspolitik von Willy Brandt war immer eingebettet in den Schutzschirm der Nato. Brandt sorgte immer dafür, dass seine Entspannungspolitik speziell von den USA mitgetragen wurde; da gab es Spannungen, aber keine politischen Risse. Davon konnte in den vergangenen Jahren nicht die Rede sein. Putin konnte also immer auf eine zerstrittene EU und auf verlockende Alleingänge von Deutschland hoffen.

Der dritte Unterschied: Brandt und Bahr (und später dann Kanzler Helmut Kohl) hatten es damals mit einer Sowjetunion unter Leonid Breschnew, Juri Andropow und Michail Gorbatschow zu tun, die seit vielen Jahren „nur noch“ auf Erhalt von Terrain und Macht und nicht auf imperialistische Expansion aus war; Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger charakterisierten bezeichnenderweise Michail Gorbatschow als „Helden des Rückzugs“. Ein bedeutender Aspekt, auf den Michael Wendl aufmerksam macht.

Es liegt auf der Hand: Eine Entspannungspolitik, die unter den damaligen Bedingungen funktionierte, kann auf keinen Fall ungeprüft mit einem Putin-Russland fortgesetzt werden, das ganz andere Ziele hat als die frühere Sowjetunion.

Aus einer Position der Stärke verhandeln

Denn: Unter Wladimir Putin verfolgte Russland von Anfang an den Plan, ein großrussisches Reich wieder herzustellen, um die Schmach der Auflösung der Sowjetunion wenigstens in Teilen wieder zu heilen; von Anfang nachlesbar und von Putin öffentlich zigfach dargelegt. Zu diesem Plan gehörte schon immer, sich die Ukraine möglichst unblutig einzuverleiben, war die Ukraine nach Ansicht von Putin doch noch nie eine Nation gewesen, deshalb auch ohne Anspruch auf einen souveränen Staat; eine Bewertung, die in Deutschland zumindest der weithin verehrte Staatsmann Helmut Schmidt mit ihm teilte.

Und der vierte Unterschied: Die damalige Sowjetunion hat sich, abgesehen von dem Überfall auf Afghanistan im Jahr 1979 und dem Überfall auf die Tschechoslowakei in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968, zumindest in Europa immer an die mit dem Westen vereinbarten Regeln und Verträge gehalten; bei beiden Invasionen war klar, dass sie regional begrenzt bleiben würden. Auch das ein grundlegender Unterschied zur Politik der heutigen russischen Regierungen.

Keine Imperialisten, sondern Helden des Rückzugs

Und fünftens blieb das Konzept der Brandtschen Ost- und Entspannungspolitik immer pragmatisch begrenzt. Das heißt: Sie setzte von Anfang an auf einen Frieden, der auf dem Erhalt der Blöcke und dem machtpolitischen Status Quo beruhte. Entsprechend wurden beispielsweise Dissidenten und Bürgerrechtler in osteuropäischen Gesellschaften, auch die unabhängige polnische Gewerkschaftsbewegung Solidarność, zwangsläufig zu Störenfrieden, die tunlichst ignoriert und nie unterstützt wurden; Freiheit hatte es auch damals schwer gegenüber dem Wert des Nicht-Krieges und des Friedens. So dachte natürlich 1968 im Westen niemand daran, der Tschechoslowakei bei ihrem Freiheitskampf („Prager Frühling“) gegen die Warschauer Pakt-Invasoren zu helfen.

Es gibt also auch keinen Grund, die weithin erfolgreiche Ostpolitik von Brandt zu glorifizieren. Brandt reagierte in den Tagen nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ mit diesen Hinweisen: Auf die Stärkung der Nato zu setzen, das könne nie ein Ersatz für eine aktive Ostpolitik sein. Man müsse jetzt eine Strategie erarbeiten, welche die Sowjetunion nicht als Drohung empfinde, aber auch nicht als Ausdruck westlicher Feigheit, und auf keinen Fall sollte es zu einem neuen Rüstungswettlauf kommen; so damals die Skizze seiner im Entstehen begriffenen Ost- und Entspannungspolitik.

Was haben dagegen Schröder, Steinmeier, Gabriel, Merkel, Schwesig, Scholz und andere gemacht? Sie haben diese Politik der Kooperation, der Entspannung und des Dialoges wie Geisterfahrer auch dann noch ohne Besinnung fortgesetzt, als das Gegenüber die Regeln bereits mehrfach demonstrativ gebrochen hatte — die Liste der geradezu provozierenden Regelbrüche war ja bereits zum Zeitpunkt der Besetzung der Krim ziemlich lang. Sie betrieben faktisch eine reine Russland-Politik — unter Vernachlässigung der oft gegenteiligen Interessen der Osteuropäer und Balten — der westlichen Vorleistungen ohne russische Gegenleistung. Ihr Name: Annäherung via Verflechtung.

Russland-Geschäft statt Ost-Politik: Hauptsache billige Energie

Diese Politik hatte unter anderem eine kulturelle und mentale Schlagseite, die jahrelang nicht einmal problematisiert wurde. So wurde das Russland von Putin mit der ehemaligen Sowjetunion gleichgesetzt. Das heißt: Der Überfall von Hitlerdeutschland wurde zum Überfall auf Russland allein, bei dem zu bedenken ist; dass er auch einer auf die Ukraine und andere heutige souveräne Staaten war, die heute jedoch Russland entgegengesetzte Sicherheitsinteressen haben, was bis vor kurzem unter den Tisch fiel. Dazu der Osteuropa-Experte Karl Schlögel: Das Bewusstsein der Schuld für die deutschen Verbrechen auf sowjetischem Boden erstreckte sich auf Russland – bis in die jüngste Zeit jedenfalls –, und ein Projekt wie Nord Stream 2 sei entsprechend vom Bundespräsidenten vor noch nicht langer Zeit sogar mit einem Verweis auf deutsche Schuld und Wiedergutmachung für deutsche Verbrechen legitimiert worden.

Der entscheidende Denkfehler: Diese Russland-Politik der letzten 20 Jahre war nach und nach aller politischen Kriterien entkleidet worden, sie wurde entpolitisiert, bis es nur noch um das Geschäft ging. In dem Projekt Nord Stream 2, das vor allem führende Sozialdemokraten bis zuletzt als rein privatwirtschaftliches Projekt charakterisierten, wurde der Charakter dieser Politik deutlich; denn auch Nordstream 2 war von Anfang vor allem ein geopolitisches Vorhaben gewesen. Wenn das Geschäftliche überwiegt, dann ergeben sich die großen Fehler alle von alleine — weil alles Politische, beispielsweise die Sorge um Sicherheit, Souveränität, Unabhängigkeit, Freiheit, um einheitliche Positionen der EU und des Westens dann keine oder nur eine zu geringe Rolle spielen.

Aus einer ebenso fairen wie rücksichtslosen Aufarbeitung könnte deshalb gelernt werden: Wie Willy Brandt und Egon Bahr ihr Konzept einer dialogischen Ost- und Entspannungspolitik klug und umsichtig und erfolgreich anwendeten. Und wie Schröder, Steinmeier, Gabriel, Scholz und Merkel mit einer Politik unter derselben Überschrift und mit demselben Anliegen eher zu einem Krieg beitrugen.

Text: Wolfgang Storz (zuerst erschienen auf https://bruchstuecke.info/), Bild: Wikimedia Commons, Demonstrantinnen protestieren gegen den Krieg in der Ukraine, Friedrichstraße, Berlin, 27.02.2022. This file is licensed under the Creative Commons Attribution 2.0 Generic license.