Bericht aus Lesbos (I): Arzt im Lager

Arndt Dohmen ist Facharzt für Innere Medizin und arbeitete jüngst sieben Wochen im Flüchtlingslager Kara Tepe. Er hat einen eindringlichen Bericht über die Arbeit der Ärzte, das Leben und die Verfassung der Geflüchteten und die Verhältnisse in den Lagern geschrieben, den wir hier publizieren. Das ist nicht ohne Risiko, denn die griechische Regierung verbietet es allen Nichtregierungsorganisationen, die in diesen Lagern arbeiten, über die Zustände dort zu berichten.

Mein Entschluss zu diesem siebenwöchigen Einsatz – Beginn in diesem Januar – im Flüchtlingslager Kara Tepe, Insel Lesbos, ist aus Wut und Enttäuschung über die in meinen Augen menschenverachtende europäische Flüchtlingspolitik entstanden, die an den Außengrenzen unseres Kontinents und insbesondere im Mittelmeer ein Massengrab für Menschen in Not geschaffen hat. Den Menschen, die diese mörderische Grenze überwunden haben und nun in gefängnisähnlichen Verhältnissen auf eine neue Chance für ihr Leben warten, zumindest symbolische Solidarität zu zeigen, war der Antrieb für meine Reise.

Lina, die Koordinatorin des Ärzte-Teams, führte mich zusammen mit einem der Dolmetscher zu Beginn einmal durch das Lager. Hier leben derzeit mehr als 7.000 Menschen in Zelten direkt am Meer. Nach offiziellen Angaben des UNHCR kommen davon 72 Prozent aus Afghanistan, neun aus der Demokratischen Republik Kongo, sieben aus Syrien, vier aus Somalia und zwei Prozent aus dem Irak. 23 Prozent der Geflüchteten sind Frauen, 37 Prozent Kinder und von diesen sind 70 Prozent jünger als 12 Jahre und vier Prozent von ihnen sind unbegleitet.

Zelte unter Wasser

Bei Sturm und Regen stehen die Wege zwischen den Zelten und ein Teil der Zelte unter Wasser, sodass vor einigen Wochen in einem besonders betroffenen Areal die Zelte wieder abgebaut werden mussten, weil sich ein See gebildet hatte, in dem die Zelte keinen Halt mehr hatten. Die Zelte sind nummeriert und in Bereiche aufgeteilt: So gibt es einen Bereich für Familien, einen Bereich für allein lebende Frauen und Frauen mit Kindern, einen Bereich für unbegleitete Kinder und Jugendliche und einen Bereich für allein stehende Männer. In diesem Bereich des Camps kommt es immer wieder zu Streit und auch körperlicher Gewalt.

Auf dem Gelände des Camp befinden sich mehrere Container, in denen verschiedene Dienste ihre Büros haben: Polizei, Einwanderungsbehörde, gesundheitliche Versorgung, Sozialdienst, Behörde zur Organisation des Transfers aufs Festland. Eine Schule gab es früher in Moria. Und seit der Eröffnung des Lagers Kara Tepe gibt es eine Schule in einem auswärtigen Gebäudekomplex, in dem auch andere Freizeit- und Therapieangebote gebündelt sind. Diese Schule wurde allerdings vor einigen Monaten von Rechtsextremen niedergebrannt. Seither gibt es für die Kinder der Geflüchteten keine Möglichkeit mehr, eine Schule zu besuchen. Und auch alle anderen Kultur- und Freizeitangebote sind wegen der Corona-bedingten Lockdown-Maßnahmen seit Monaten komplett eingestellt.

Kara Tepe

Wikipedia: „Das Flüchtlingslager Kara Tepe befindet sich 2,5 km nordöstlich von Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos und besteht seit Mitte Oktober 2015. Aufgenommen werden besonders gefährdete und verletzbare Flüchtlinge, wie etwa alleinstehende Frauen, Familien sowie traumatisierte oder verletzte Menschen, die zuvor im Flüchtlingslager Moria waren. Nach dessen Brand im September 2020 diente es für einige Menschen als Ausweichlager.

In Folge der Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria wurde für die meisten der durch den Brand obdachlos gewordenen Flüchtlinge in der Nähe des bereits bestehenden Flüchtlingslagers Kara Tepe ein zweites provisorisches Zeltlager auf einem ehemaligen Schießplatz direkt an der Küste eröffnet. Der Presse sowie Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten ist der Zugang zum Gelände untersagt. In dem provisorischen Zeltlager leben rund 7500 Menschen, darunter 2500 Kinder.

Mitte Oktober 2020 gab es nach Regenfällen Überflutungen in dem provisorischen Zeltlager, wodurch sich die humanitäre Situation verschlechterte. Im Dezember 2020 bestanden weiterhin große Gesundheitsprobleme und mangelhafter Schutz vor Kälte und Nässe. Der deutsche Bundesminister für Entwicklung Gerd Müller prangerte ‚entsetzliche Zustände‘ an.“

Niedergebrannte Schule

Die Stromversorgung erfolgt über einen Generator, sie reicht für den Bedarf der vielen Menschen nicht aus. Es gibt eine Stunde Strom am Morgen, zwei Stunden am Nachmittag und teilweise auch in der Nacht. Wenn es besonders kalt ist, müssen sich die BewohnerInnen in den Zelten an elektrischen Heizgeräten wärmen, dann reicht die Stromversorgung nicht mehr für alle Zelte, sondern nur für die Hälfte. Die BewohnerInnen können die elektrischen Geräte dann nur in der Hälfte der Zeit nutzen.

Zweimal täglich werden Mahlzeiten ausgeteilt, das Mittagessen ist warm und wird von den BewohnerInnen so eingeteilt, dass es auch noch für den Abend reicht. In den Zelten gibt es keine Möglichkeit, selbst zu kochen.

Die BewohnerInnen des Camps dürfen das Lager nur zwei Mal pro Woche verlassen, während der Corona-Lockdown-Bestimmungen jeweils nur für zwei Stunden. Diese Tage sind in einem Wochenplan festgelegt, der online zugänglich ist. Die Stadt Mytilini liegt etwa fünf Kilometer vom Camp entfernt, ist also in den zulässigen zwei Stunden Ausgang gar nicht erreichbar. Hauptziel der Menschen ist daher – außerhalb des Lagers – ein großer Lidl-Supermarkt, in dem sie einkaufen. Während des Lockdowns müssen sie erst einmal in einer langen Schlange auf Einlass warten, denn der Zugang ist begrenzt und wird mit Einlasskarten, die der Sicherheitsdienst des Marktes ausgibt, streng reglementiert. Außerhalb dieser beiden Tage pro Woche ist das Verlassen des Camps nur auf Antrag möglich, der besonders begründet werden muss. Dazu zählen vor allem die auswärtigen Untersuchungen und Behandlungen, die von den Ärzten im Camp angefordert werden. Am Ausgang steht immer die Polizei und überwacht die Einhaltung der verfügten Ausgangsbeschränkungen. Externe Besucher dürfen das Lager nur mit offizieller Genehmigung betreten. Wir, als Mitarbeiter einer der dort tätigen NGOs, müssen einen speziellen Dienstausweis vorzeigen, mit dem wir unsere Berechtigung nachweisen.

Rechtsanwälte selbst bezahlen

BewohnerInnen, deren Asylverfahren noch laufen, bekommen 75 Euro im Monat. Wer aus besonderen Gründen nicht im Camp wohnt, sondern auswärts lebt, erhält 130 Euro monatlich, denn diese Menschen werden nicht mit Essen versorgt und haben daher einen höheren Alltagsaufwand. Menschen, deren Asylantrag abgelehnt wird, erhalten keine finanzielle Unterstützung.

Wer einen positiven Asylbescheid bekommen hat, kann das Lager erst verlassen, wenn ein gültiger Pass vorliegt. Das kann mehrere Wochen dauern. Auch anerkannte Asylanten dürfen Griechenland nur für vorübergehende Reisen verlassen, einen Aufenthalts- oder gar Arbeitsanspruch in anderen europäischen Ländern haben sie nicht.

Es gibt in Kara Tepe keine organisierte Betreuung während des Asylverfahrens. Die Bewerber sind den Behörden gegenüber ganz auf sich gestellt. Wer einen griechischen Rechtsanwalt zur Prozessbegleitung einschalten möchte, muss dies selbst organisieren und bezahlen. Rechtsanwälte berechnen für eine solche Hilfe in der Regel 1.500 Euro, ein Betrag, den sich AsylbewerberInnen nicht leisten können. So gibt es nur informelle Hilfen von anderen AsylbewerberInnen, die schon mehr Erfahrung mit den Behörden haben, und die dieses Wissen in Gesprächen weitergeben.

Arndt Dohmen (Bilder: Claus Kittsteiner)

Zu Teil II geht es hier.

Zur Person und NGO

Arndt Dohmen, 1950 geboren, war unter anderem ärztlicher Direktor der Hochrheinklinik Bad Säckingen und arbeitete als Oberarzt im Interdisziplinären Gefäßzentrum der Universitätsklinik Freiburg. Er war mehrfach bei Einsätzen in Bangladesch und Indien und jüngst in Kara Tepe, Lesbos, im Auftrag von Medical Volunteers International e.V. tätig und ist Mitbegründer von Refudocs Freiburg e.V. [[https://freiburg.refudocs.de/kontakt/]]ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen haben diese Hilfsorganisation im Dezember 2015 gegründet, nachdem mehrere tausend Flüchtlinge nach Freiburg gekommen waren und sich das dortige Gesundheitssystem, Arztpraxen und Klinikambulanzen als auf deren Versorgung nicht vorbereitet erwies. Vereinszweck ist die Förderung der Hilfe für Migranten und Flüchtlinge, insbesondere von deren medizinischer und psychotherapeutischer Versorgung.

NGOs ist die Berichterstattung über die Bedingungen im Lager untersagt, bei Zuwiderhandlungen droht ihnen der Verlust der Arbeitslizenz für das Lager. Deshalb hat Arndt Dohmen seinen Bericht mit dem Initiator der NGO, für die er in Kara Tepe gearbeitet hat, vorsorglich abgestimmt. Ein Entzug der Lizenz für diese NGO würde bedeuten, dass sich die medizinische Basisversorgung in diesem Lager weiter verschlechterte. Auch deshalb ist es wichtig, dass dieser Bericht möglichst weit verbreitet wird.

Hier das Spendenkonto: Medical Volunteers International e.V., IBAN DE08430609672076077900, BIC GENODEM1GLS, GLS BANK