Bericht aus Lesbos (II): Vergebliches Warten

Arndt Dohmen ist Facharzt für Innere Medizin und arbeitete jüngst sieben Wochen im Flüchtlingslager Kara Tepe. Heute berichtet er über die Schwierigkeiten der ärztlichen Versorgung unter Extrembedingungen. Die medizinischen und psychologischen Angebote reichen bei Weitem nicht aus, und für viele Kranke und Traumatisierte heißt Lageralltag vor allem warten, warten, warten – auf eine ärztliche oder psychologische Betreuung irgendwann einmal in einer ohnehin schon völlig ungewissen Zukunft.

In die gesundheitliche Versorgung der Geflüchteten sind staatliche Organisationen und mehrere griechische und internationale NGOs einbezogen. Es finden regelmäßige Treffen der TeamkoordinatorInnen statt. Jede der beteiligten Organisationen ist für bestimmte Aufgaben zuständig: Eine medizinische Erstversorgung wird von Medical Volunteers International (MVI) täglich von Montag bis Freitag angeboten; die Crisis Management Association (CMA) organisiert eine Sprechstunde für chronische Erkrankungen, das ist eine griechische NGO, die zudem eine Brückenfunktion zwischen dem staatlichen griechischen Gesundheitsdienst (EODY = National Public Health Organization) und den internationalen NGOs einnimmt.

Kinder, Schwangere …

Fast täglich wird eine pädiatrische Sprechstunde angeboten, von einem Kinderarzt der staatlichen Gesundheitsorganisation EODY. Wir sind alle sehr froh, dass für die Kinder diese fachärztliche Expertise zur Verfügung steht. Deshalb ist der Anteil an Kindern unter unseren Patienten deutlich geringer, als es deren Anteil unter den Geflüchteten im Lager entspricht – denn in unserem Team haben wir nur gelegentlich eine Kinderärztin. Die griechische EODY verantwortet auch die Betreuung der Schwangeren, es gibt Hebammen im Camp und eine regelmäßige gynäkologische Ambulanz, an die wir relativ kurzfristig PatientInnen überweisen können. Boat Refugee Foundation, eine niederländische NGO, ist Anlaufstelle für Notfälle außerhalb der üblichen Öffnungszeiten der verschiedenen Ambulanzen. Auch das Rote Kreuz betreut im Camp außerhalb der Ambulanzcontainer medizinische Notfälle.

Für psychisch traumatisierte Menschen gibt es Angebote von mehreren Organisationen: MsF (Ärzte ohne Grenzen) bietet Hilfe für schwer Traumatisierte, die akuter Hilfe bedürfen und möglicherweise auch suizidal sind; auch für Kinder und Jugendliche. Brauchen Patienten eine psychiatrische, auch psychopharmakologische Behandlung, dann geht das ausschließlich über einen Psychiater des staatlichen Gesundheitsdienstes EODY, der regelmäßig Sprechstunden in einem Container im Camp anbietet.

Warten …

Was sich zunächst wie ein vielfältiges und differenziertes psychotherapeutisches Angebot anhört, ist im Alltag ein hoffnungslos überlastetes System. Es gibt für alle unvertretbar lange Wartezeiten. Ein Beispiel: Bei der Überweisung einer Patientin an MsF (Ärzte ohne Grenzen) bekam ich per E-Mail die Rückmeldung, dass auf der Warteliste noch 93 andere KlientInnen stehen. Die meisten NGO-Angebote sind auf Gruppen ausgerichtet, weil die Einsatzzeit der Freiwilligen nicht lang genug ist, um sinnvolle Einzeltherapien durchführen zu können; nur MsF sind eine Ausnahme, da sich deren MitarbeiterInnen für längere Zeiträume verpflichten. Anmeldungen für die psychiatrische Sprechstunde sind sehr bürokratisch: Eine Patientin, die ich als schwer depressiv eingeschätzt und deswegen zum Psychiater überwiesen hatte, musste drei Mal bei der zuständigen Anmeldestelle von EODY vorsprechen, um dann beim dritten Mal auf eine Warteliste gesetzt zu werden, ohne eine Information, wann sie den Behandlungstermin bekommen werde.

Ganz aussichtslos ist die Lage von schwer Traumatisierten mit dissoziativen Störungen oder auch Suizidgefährdeten: Eine stationäre Versorgung solcher PatientInnen ist auf Lesbos gar nicht möglich, und die Verlegung in spezialisierte Kliniken auf dem Festland wird von der staatlichen Gesundheitsbehörde abgelehnt, weil man vermeiden will, Anreize zur Nachahmung zu schaffen. Denn den PatientInnen wird unterstellt, sie setzten ihre Symptome bewusst ein, um eine Verlegung weg von der Insel aufs Festland zu erzwingen. Und so sehen wir täglich in der ganz normalen Ambulanz für Primary Care Menschen, die sich wöchentlich mehrmals verletzen und dann von den Pflegekräften der Ambulanz lediglich eine Wundversorgung erhalten. Während der Behandlung stehen vor dem Behandlungsraum Polizisten Wache, um zu verhindern, dass die betroffenen PatientInnen sich im Behandlungsraum erneut Verletzungen zufügen.

Momentan ohne Zahnärzte

Ein großes Problem ist derzeit die zahnärztliche Versorgung im Camp. Die bisher vor Ort arbeitenden ZahnärztInnen gab es in der gesamten Zeit meines Einsatzes nicht mehr. Eine Lösung wurde immer wieder angekündigt, aber wohl wegen der relativ langen Quarantänezeiten vor und nach einem Einsatz nicht realisiert. So wurde von MVI vorübergehend eine sehr eingeschränkte Notfallversorgung organisiert. Wenn PatientInnen mit Zahnschmerzen mit symptomatischer Schmerzmedikation nicht geholfen werden konnte, wurden sie in zwei Gruppen eingeteilt: solche mit einem akuten Abszess wurden als Notfall ins Krankenhaus geschickt, um dort den Abszess zu öffnen. Für PatientInnen mit sehr schmerzhafter Karies wurde in der Sprechstunde einer griechischen Zahnärztin in der Stadt Mytilini kurzfristig eine Behandlung organisiert und die Betroffenen dann mit dem Auto direkt dorthin gefahren. Es gab aber so viele AnwärterInnen für diese Behandlung, dass die Zahnarzt-Warteliste immer wieder wegen Überfüllung kurzfristig geschlossen werden musste, was natürlich für die schmerzgeplagten PatientInnen viele schlaflose Nächte bedeutete.

Die Sprechstunden für die medizinische Erstversorgung (Primary Care) waren von Montag bis Freitag von 8 bis 14 Uhr geöffnet. Danach mussten wir unsere Arbeit beenden, auch wenn noch PatientInnen in der Warteschlange teilweise mehrere Stunden gewartet hatten. Aber unsere Räume wurden am Nachmittag für die von der Basisversorgung abgetrennte Sprechstunde für Patienten mit chronischen Erkrankungen benötigt. Diese Sprechstunde für Menschen mit Diabetes, Bluthochdruck, Asthma und Epilepsie sind Aufgabe der oben bereits erwähnten griechischen NGO CMA (Crisis Management Association). Anfangs haben wir auch samstags und sonntags die Notfallsprechstunde von 10 bis 17 Uhr übernommen. Diese Aufgabe hat in den folgenden Wochen dann eine andere NGO übernommen, so dass wir an den Wochenenden frei hatten.

Im Freien, vor den Containern findet die sogenannte Triage statt. Alle Patienten in der Warteschlage werden von MitarbeiterInnen unserer Organisation eingeteilt, ob sie ein Behandlungsticket für die primary care oder für die Wundversorgung bei den Pflegekräften, für den Kinderarzt, für die Hebammen und GynäkologInnen oder für die Chronikersprechstunde benötigen. Mit jeder der Ambulanzen wurde vorher vereinbart, wie viele „Tickets“ ausgegeben werden dürfen, um das Problem der letztlich erfolglosen Wartezeit so gering wie möglich zu halten; so wurde vermieden, dass Menschen Stunden warten, um dann doch nicht mehr behandelt zu werden.

Arndt Dohmen (Bilder: Claus Kittsteiner)

Zu Teil I geht es hier.