Bericht aus Lesbos (III): Im Notfall alleingelassen
Arndt Dohmen ist Facharzt für Innere Medizin und arbeitete jüngst sieben Wochen im Flüchtlingslager Kara Tepe. Er hat einen eindringlichen Bericht über die Arbeit der Ärzte, das Leben und die Verfassung der Geflüchteten und die Verhältnisse in den Lagern geschrieben, den wir hier publizieren. Heute geht es um die Bedeutung der Dolmetscher, die oft aus eigener Erfahrung Hintergründe erkennen können, und um ein staatliches Gesundheitssystem, das oft nicht helfen will, kann oder darf.
Gut gelöst ist die für alle Sprechstunden notwendige Dolmetscherbegleitung – kein einfaches Problem bei so vielen Sprachen, die im Camp gesprochen werden, beispielsweise Farsi, Arabisch, Lingala, Somali, Französisch. Jedem von uns ist eine Farsi-DolmetscherIn zugeteilt, weil diese Sprache am häufigsten gesprochen wird. Kommen Patienten, die eine andere Sprache sprechen, wird schon im Wartebereich von den dort zuständigen Koordinatoren sofort eine entsprechende Dolmetscherin mitgeschickt, die ständig anwesende Farsi-DolmetscherIn kann in dieser Zeit anderswo arbeiten.
Die Bedeutung der Dolmetscher
Die Dolmetscher sind teilweise selbst AsylbewerberInnen im Camp und können sich so bei verschiedenen NGOs einen kleinen Zusatzverdienst erarbeiten. Die Arbeit der ÜbersetzerInnen ist für den Verlauf der Behandlung von hoher Bedeutung. Die meisten von ihnen sind natürlich nicht speziell geschult, sie verfügen aber über ein unschätzbares Wissen über den Alltag im Camp. Sie helfen uns oft, nicht nur die Sprachbarrieren zu überwinden, sondern auch herauszufinden, was hinter den Beschwerdeschilderungen der PatientInnen das wirkliche Problem ist. Das ist eine ganz besondere unentbehrliche Expertise.
Die kleine Hausapotheke
Am Ende jeder Diagnostik sollte die geeignete Therapie stehen, das ist die berechtigte Erwartung aller PatientInnen an uns Ärzte. Hierfür steht uns eine Apotheke zur Verfügung, die von allen Ambulanzen gemeinsam genutzt wird. Finanziert wird sie zu einem erheblichen Teil von MVI. Aber: Insbesondere die psychosomatischen Ursachen können wir aufgrund sprachlicher und kultureller Barrieren – trotz aller Dolmetscher-Hilfen – meistens nicht in ihrem ganzen Ausmaß verstehen, erst recht verfügen wir nicht über ausreichend adäquate Therapieangebote. Gleichzeitig haben die Menschen, die uns ihr Leid geschildert haben, eine hohe Erwartung an uns. Wir Experten sollen das geeignete „Mittel“ gegen ihre Krankheit finden. Und so geraten wir täglich viele Male in den nicht lösbaren Konflikt: Wir decken mit Medikamenten Symptome – insbesondere Schmerzen – in dem Bewusstsein zu, damit eine wirklich schlechte Medizin zu betreiben, hilft sie doch nicht nachhaltig und kann dennoch auch noch belastende Nebenwirkungen erzeugen.
Fast täglich kommen Menschen in unsere Sprechstunde, die mit den begrenzten Ressourcen im Camp nicht adäquat versorgt werden können. Für die Diagnostik gibt es ein kleines Labor, mit dem einfache Untersuchungen wie Blutbild, Entzündungswerte, Leber- und Nierenwerte vor Ort bestimmt werden können. Und auch ein kleines Ultraschallgerät in der Größe eines Mobiltelefons steht uns dank der ganz spontanen Initiative einer amerikanischen Krankenschwester zur Verfügung. Aber alle weiterführenden Untersuchungen müssen extern organisiert werden. Dazu bedarf es immer der Genehmigung der staatlichen griechischen Gesundheitsbehörde. Während meines Einsatzes war dies aber erfreulicherweise keine große Hürde, weil die dafür zuständigen zwei jungen griechischen Ärztinnen ausgesprochen kooperativ und hilfsbereit waren und uns nie einen Stein in den Weg gelegt haben. Dennoch war es besonders mit den angeforderten Röntgenuntersuchungen nicht ohne Tücken: Fast nie wurden die Aufnahmen im üblichen Standard angefertigt. Aus mir nicht erfindlichen Gründen wurde immer nur eine Untersuchungsebene dargestellt und schriftliche Befunde gab es nie. Da unter uns Einsatzärzten kein Radiologe war, waren diese Befunde immer von begrenzter Aussagekraft.
Gut organisiert ist die Behandlung von alltäglich auftretenden Verletzungen und offenen Wunden. Regelmäßig stehen zwei Krankenpflegekräfte zur Verfügung, die an zwei Arbeitsplätzen mehrmals pro Woche die Verbandswechsel durchführen. So können wir die Heilverläufe und die eingesetzte Therapie engmaschig überwachen – ein wichtiger Standard, weil unter den gegebenen Lebensbedingungen im Camp Verbände schnell verschmutzen und so neue Infektionen auftreten können.
Wie Ärzte sich die Zähne ausbeißen
Anonym und insgesamt enttäuschend gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem griechischen Gesundheitssystem, wenn es um die stationäre Behandlung von Schwerkranken geht. Auch unsere beiden Kolleginnen von EODY, die formal die Einweisung auf unsere Empfehlung organisieren mussten, haben sich da oft die Zähne ausgebissen. Und wir alle sind in solchen Situationen nicht nur einmal verzweifelt. Notfall-Behandlungen wurden in der Zeit meines Einsatzes meistens durchgeführt. Berichte mit wesentlichen Informationen über den Behandlungsverlauf habe ich in den sieben Wochen meines Einsatzes aber nicht gesehen. Stattdessen wird den Behandelten bei Entlassung ein Rezept über Medikamente für die weitere Behandlung in die Hand gedrückt, ohne den PatientInnen die Medikamente selbst auch mitzugeben. Es war dann regelmäßig die Aufgabe unserer kleinen spendenfinanzierten Apotheke, diese Lücke des staatlichen Gesundheitswesens zu schließen. Nicht selten wurden solche Notfall-PatientInnen aber stationär gar nicht aufgenommen oder sogar abgewiesen.
So habe ich beispielsweise einen Patienten ins Krankenhaus eingewiesen, der seit vier Jahren Rückenschmerzen hatte, seit 1,5 Jahren so stark, dass er nicht mehr sitzen konnte. Er wurde immer nur mit Schmerzmitteln behandelt, bis vor drei Monaten ein MRT der Lendenwirbelsäule angefordert wurde, das dann zwei Monate später im Januar 2021 den Befund zeigte: Bandscheibenvorfall. Einen Monat nach diesem Befund kam er ambulant ins Krankenhaus, wo die begutachtende Ärzte ihm eine Operation in Aussicht stellten. Sie teilten ihm zudem mit, er solle sich deswegen nach genau zwei Monaten noch einmal ambulant dann bei einem Neurochirurgen vorstellen. Der würde dann einen Plan für die weitere Behandlung veranlassen. Am selben Tag kam er dann zu uns in die Primary-Care-Sprechstunde, weil er wegen dieser ständigen Vertröstungsstrategie verzweifelt war. Zu diesem Zeitpunkt nahm er acht Tabletten Diclofenac und acht Tabletten Paracetamol täglich, um seine Schmerzen irgendwie auszuhalten. Damit war die zulässige Höchstdosis von Diclofenac um das Dreifache überschritten. In meiner Ratlosigkeit, wie diesem Patienten zu helfen sei, habe ich dann die Kolleginnen des staatlichen Gesundheitsdienstes um Rat gefragt. Diese schüttelten zwar gemeinsam mit mir den Kopf, waren sich aber sicher, dass sie die Entscheidung der Klinikärzte vom selben Tag nicht sofort würden revidieren können. Wir vereinbarten daher, dem Patienten mit Hilfe unserer ehrenamtlichen Therapeutinnen eine Massage und Physiotherapie anzubieten. Wir waren zwar gewiss, das würde keinen Erfolg haben, wir gewannen jedoch bei erwiesener Wirkungslosigkeit ein weiteres Argument, um die stationäre Behandlung zu beschleunigen.
Griechische Bürokratie
Eine weitere 29-jährige Patientin aus dem Kongo war vor zwei Jahren in ihrem Heimatland gefoltert worden. Seit dieser Zeit hatte sie starke Schmerzen im rechten Hüftgelenk, wurde jedoch immer nur mit Schmerzmitteln behandelt, bis eine Kollegin vor wenigen Wochen eine Röntgen-Untersuchung veranlasste, die einen alten Schenkelhalsbruch mit ausgeprägter Arthrose in dem fehlgestellten Hüftgelenk ergab. Das Gelenk war schmerzbedingt fast unbeweglich. Für eine medizinisch indizierte Überführung der Patientin nach Athen zur weiteren orthopädisch-chirurgischen Behandlung fehlt aber nach den Kriterien der Behörden eine wichtige Voraussetzung: Die Erkrankung bedrohte nicht das Leben der Patientin, und so wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit auf unbestimmte Zeit weiter auf die erforderliche Behandlung warten müssen. Derzeit steht sie auf der Liste für eine ambulante Vorstellung bei einem Orthopäden.
Nicht alles, was bei der Betreuung der Schwerkranken Grund zur Verzweiflung gibt, ist dem Krankenhaus Mytilini anzulasten. Denn das kleine Provinzkrankenhaus kann spezielle Behandlungen gar nicht durchführen. Wenn die Ärzte des Krankenhauses deshalb eine Überführung aufs Festland empfehlen, damit der jeweilige Patient in einer spezialisierten Klinik in Athen weiter behandelt werden kann, werden sie mit einem bürokratischen Hindernis konfrontiert, das kein rationales Argument aus dem Weg räumen kann: Das ist die staatliche Behörde, die für die Genehmigung und Organisation dieser Überführung zuständig ist. Diese sucht vor allem nach Gründen, um die medizinisch indizierte Verlegung weg von der Insel abzulehnen.
Die (vorgeschobenen) Gründe sind vielfältig: Der Transport sei wegen der Coronabeschränkungen nicht möglich, obwohl es täglich mehrere Flüge und mindestens zwei Fähren nach Athen gibt. Man habe für den Patienten, der wegen der Schwere seiner Erkrankung eigentlich ins Krankenhaus gehört, noch keine Unterkunft in der Stadt gefunden. Die am meisten menschenverachtende Argumentation gab es im Falle eines achtjährigen Jungen mit ungeklärter massiver Nierenblutung: Da das Asylverfahren der Familie negativ beschieden worden sei, fehle die formale Voraussetzung für eine Verlegung nach Athen. Auf meine Frage an den zuständigen Beamten, den ich in meiner Empörung über diese Entscheidung selbst in seinem Büro auf dem Camp aufgesucht hatte, ob er in Kauf nehmen wolle, dass ohne Behandlung dieses Kind eventuell im Lager sterben könne, zuckte der nur mit den Schultern und gab mir zu verstehen, dass ich doch jetzt das Büro verlassen solle, weil er noch so viele andere Anträge zu bearbeiten habe.
Dies alles sind Einzelfälle, in denen ich manchmal an meiner Arbeit verzweifelt bin.
Arndt Dohmen (Bild: Claus Kittsteiner)