Bericht aus Lesbos (IV): Eine Bilanz
Arndt Dohmen ist Facharzt für Innere Medizin und arbeitete jüngst sieben Wochen im Flüchtlingslager Kara Tepe. Im letzten Teil seines eindringlichen Berichtes über die Lebensverhältnisse im Lager zieht er eine teils bittere Bilanz seiner Erfahrungen: Europa behandelt Flüchtlinge menschenunwürdig, hält sie wie Gefangene, gefährdet an den Außengrenzen bewusst deren Leben, um sie zurückzutreiben, und tritt auf seinen eigenen angeblich ach so humanen Grundüberzeugungen längst rücksichtslos herum.
Was aber bleibt als Bilanz der vielen anderen Behandlungen, die weniger spektakulär verliefen und den Alltag der vielen Menschen ausmachen, die zu uns kamen und oft mehrere Stunden Wartezeit in Kauf genommen haben, um von uns behandelt zu werden? Das Wichtigste, was wir anbieten konnten: Wir haben uns immer die nötige Zeit genommen, um zuzuhören, was die PatientInnen uns sagen wollten. Viel zu selten sind wir dabei an den Kern ihrer Symptome herangekommen.
Zuhören und schlechte Gewissen
Wir haben oft etwas an der Oberfläche gekratzt und dabei auch nicht den Anspruch erhoben, alle Hintergründe aufzudecken. Wir hätten auch für die wirklichen Gründe, die all die vielen Rückenschmerzen, all die Schlaflosigkeit und all die Bauchschmerzen verursachen, ja gar keine nachhaltige Hilfe anbieten können. Am Ende haben wir den sehr vordergründigen Wünschen unserer PatientInnen entsprochen und Schmerzmittel aller Art verschrieben. Wir hatten dabei immer alle ein schlechtes Gewissen, das kam in den wöchentlichen Teambesprechungen deutlich zum Ausdruck. Auch viele unserer PatientInnen waren und sind sich offenbar bewusst, dass ihnen diese vielen Tabletten nicht wirklich helfen. Wir waren sehr glücklich, weil – seit kurzem – in unserem Projekt eine Physiotherapeutin und eine Masseurin mitarbeiten können. Von deren Kompetenzen haben wir lebhaft Gebrauch gemacht. Denn so gab es doch noch eine andere Art der zuwendungsbasierten Behandlung, eine Alternative zu den immer gleichen Schmerzmitteln, die alles nur zudecken.
Und dennoch: die Kombination aus Zuhören, etwas Seltenes im Alltag dieses Camps, und der noch so oberflächlichen symptomatischen Therapie hilft vielen der Geflüchteten, ihren Alltag für eine begrenzte Zeit etwas leichter zu ertragen.
Insofern ist die Arbeit in der Erstversorgung (Primary Care) in Kara Tepe sinnvoll und nützlich. Und einigen PatientInnen haben wir sogar richtig helfen können. Sie waren so akut und schwer erkrankt, dass wir mit unseren medizinischen Argumenten sogar die Hürden des griechischen Gesundheitssystems und der dortigen Bürokratie überwinden konnten, und die PatientInnen ausreichend behandelt wurden. Aber das waren Einzelfälle. An der Hoffnungslosigkeit der Lebensumstände und Perspektiven dieser Menschen haben wir nichts, aber auch gar nichts geändert.
Das Lager Kara Tepe
Wikipedia: „Das Flüchtlingslager Kara Tepe befindet sich 2,5 km nordöstlich von Mytilini auf der griechischen Insel Lesbos und besteht seit Mitte Oktober 2015. Aufgenommen werden besonders gefährdete und verletzbare Flüchtlinge, wie etwa alleinstehende Frauen, Familien sowie traumatisierte oder verletzte Menschen, die zuvor im Flüchtlingslager Moria waren. Nach dessen Brand im September 2020 diente es für einige Menschen als Ausweichlager.
In Folge der Zerstörung des Flüchtlingslagers Moria wurde für die meisten der durch den Brand obdachlos gewordenen Flüchtlinge in der Nähe des bereits bestehenden Flüchtlingslagers Kara Tepe ein zweites provisorisches Zeltlager auf einem ehemaligen Schießplatz direkt an der Küste eröffnet. Der Presse sowie Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten ist der Zugang zum Gelände untersagt. In dem provisorischen Zeltlager leben rund 7500 Menschen, darunter 2500 Kinder.
Mitte Oktober 2020 gab es nach Regenfällen Überflutungen in dem provisorischen Zeltlager, wodurch sich die humanitäre Situation verschlechterte. Im Dezember 2020 bestanden weiterhin große Gesundheitsprobleme und mangelhafter Schutz vor Kälte und Nässe. Der deutsche Bundesminister für Entwicklung Gerd Müller prangerte ‚entsetzliche Zustände‘ an.“
Hilfe endlich zulassen
Das ist die wirklich erschütternde Erkenntnis, die ich am Ende dieses Einsatzes mit nach Hause nehme: Jede und jeder, die ihr Leben riskiert haben, um hierher nach Europa zu kommen, hat dies auf sich genommen, um der Gewalt, Folter und Vergewaltigung, die sie in ihren Heimatländern und auf der Flucht erlebt haben, zu entkommen. Sie sind nicht nur nach Europa gekommen, um hier ein besseres Leben zu finden, sondern um die furchtbaren Erlebnisse ein für allemal hinter sich lassen zu können. Und weil sie auf das hofften, für was Europa eigentlich stehen will: Menschenrechte, Freiheit des Denkens und des Glaubens, Chancengleichheit. Wir aber heißen sie entgegen all dieser Werteversprechungen nicht willkommen, sondern dulden eine menschenunwürdige gefängnisähnliche Unterbringung über Monate und Jahre, treiben sie zurück aufs Meer, um alle abzuschrecken, die eventuell folgen könnten. Nach Angaben des Aegean Boat Report, einer norwegischen NGO, welche die Flüchtlingsbewegungen auf dem Mittelmeer systematisch beobachtet und dokumentiert, wurden allein im Monat Januar 2021 von 32 Flüchtlingsbooten mit 803 Menschen an Bord 23 Boote mit 615 Menschen an Bord von der griechischen Küstenwache zurückgetrieben. Das entspricht einem Push-back-Anteil von 77 Prozent der Menschen, die nach Europa fliehen, allein in einem Monat.
Wir Europäer treten inzwischen so viele Menschenrechte mit Füßen, dass wir den Kern unseres Selbstverständnisses schon längst verloren haben. Wir sind gerade dabei, an einer der wichtigsten unserer historischen Aufgabe zu scheitern, indem wir die Menschenrechte, deren Schutz so unersetzlich wichtig ist, um eine humane Gesellschaft für die Zukunft zu erhalten, auf eine sehr schäbige Weise verraten. Weil wir Angst vor denen haben, die Stimmung gegen alles machen, was anders ist als wir. In den Wochen in Kara Tepe habe ich gelernt, dass wir auf diesem dunklen Weg schon viel weiter sind als ich befürchtet hatte. Wenn wir nicht bei jeder Gelegenheit für die Menschenrechte in unserem Europa und besonders auch an unseren Außengrenzen offen eintreten, dann haben wir sie bereits verloren. Kein Land darf sich hinter dem Vorwand verstecken, dass leider die anderen an einer menschenwürdigen Lösung nicht mitwirken wollen. Es gibt 234 Städte allein in Deutschland, die sich als sichere Häfen bereiterklärt haben, sofort zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Es ist erbärmlich, dass die Bundesregierung nicht den Mut aufbringt, diese Hilfsbereitschaft endlich zuzulassen.
Arndt Dohmen (Bilder: Claus Kittsteiner)
Zur Person und NGO
Arndt Dohmen, 1950 geboren, war unter anderem ärztlicher Direktor der Hochrheinklinik Bad Säckingen und arbeitete als Oberarzt im Interdisziplinären Gefäßzentrum der Universitätsklinik Freiburg. Er war mehrfach bei Einsätzen in Bangladesch und Indien und jüngst in Kara Tepe, Lesbos, im Auftrag von Medical Volunteers International e.V. tätig und ist Mitbegründer von Refudocs Freiburg e.V. ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen haben diese Hilfsorganisation im Dezember 2015 gegründet, nachdem mehrere tausend Flüchtlinge nach Freiburg gekommen waren und sich das dortige Gesundheitssystem, Arztpraxen und Klinikambulanzen als auf deren Versorgung nicht vorbereitet erwies. Vereinszweck ist die Förderung der Hilfe für Migranten und Flüchtlinge, insbesondere von deren medizinischer und psychotherapeutischer Versorgung.
NGOs ist die Berichterstattung über die Bedingungen im Lager untersagt, bei Zuwiderhandlungen droht ihnen der Verlust der Arbeitslizenz für das Lager. Deshalb hat Arndt Dohmen seinen Bericht mit dem Initiator der NGO, für die er in Kara Tepe gearbeitet hat, vorsorglich abgestimmt. Ein Entzug der Lizenz für diese NGO würde bedeuten, dass sich die medizinische Basisversorgung in diesem Lager weiter verschlechterte. Auch deshalb ist es wichtig, dass dieser Bericht möglichst weit verbreitet wird.
Hier das Spendenkonto: Medical Volunteers International e.V., IBAN DE08430609672076077900, BIC GENODEM1GLS, GLS BANK