Bericht über selbstlose Flüchtlingshilfe in Serbien: Von hungernden Müttern und Alten ohne Schuhe
Vor zehn Tagen berichtete seemoz im Gespräch über Beate Fleischhauer. Die Konstanzerin war mit elf Freunden an der serbisch-mazedonischen Grenze, um dort Flüchtende zu bekochen. Bereits nach dem ersten Interview kündigten wir einen persönlichen Erlebnisbericht der 21jährigen an, der hier folgt: Sie erzählt von prügelnden Polizisten, von ausgeraubten Jugendlichen und hilflosen Kindern.
200 Meter vor der Grenze zu Serbien auf mazedonischem Boden kommen die Zufluchtsuchenden mit dem Zug an. Am Grenzübergang werden sie von der örtlichen Polizei nach Waffen durchsucht. Es handelt sich also – nur für die falsch Informierten – bei den Flüchtlingen nicht um Waffenimporteure. Auf serbischem Boden angekommen, müssen die Menschen einen drei Kilometer langen Pfad durch das sogenannte Niemandsland zu Fuß bewältigen. Nach dem Marsch über einen Feldpfad, umgeben von Unmengen Müll, keinerlei Licht, erreichen sie das kleine serbische Dorf Miratovac.
Staatlich organisierte Busse fahren von Miratovac täglich von acht bis 23 Uhr in die etwa sieben Kilometer entfernte Kleinstadt Presevo. Staatlich organisiert bedeutet in diesem Fall, dass die Busse FOR FREE sind. In Presevo befindet sich ein obligatorisches Camp. Obligatorisches Camp bedeutet: kein Schlafplatz, keine Waschmöglichkeiten. Lediglich ein Ort für das Sammeln von Fingerabdrücken. Nach der Registrierung muss das Camp so bald als möglich verlassen werden. Nur wenige Meter vom Ausgang entfernt gibt es die Möglichkeit, per Bus oder Zug weiter Richtung Kroatien zu reisen.
„In welchem Land sind wir?“
Wenn alles nach Plan verliefe, sähe die Situation, wie eben geschildert, relativ „unkompliziert“ aus. Da allerdings von den täglich fast 2000 ankommenden Zufluchtsuchenden nicht einmal ein Drittel eine Ahnung davon hat, in welchem Land sie sich derzeit befinden, geschweige denn, wieso sie von der Grenze eine Busfahrt von nicht einmal 15 Minuten hinter sich legen müssen, um dann in Presevo auf eine Menschenmasse zu stoßen, die ahnungsloser nicht sein könnte, sieht die Situation in Serbien ähnlich aus wie die höchste Steigerungsform von chaotisch. Die ausGERÜSTETe Polizei vereinfacht die Situation nicht gerade.
Die ersten vier Tage haben wir, eine unabhängige Gruppe von zwölf HelferInnen aus Stuttgart und Konstanz, unsere Ex-Militärfeldküche à la Gulaschkanone etwa einen Kilometer vor Miratowac, also entlang des oben beschriebenen Pfades kurz hinter dem Grenzübergang, aufgestellt. Die Menschen auf der Flucht kommen an unserem kleinen Lager vorbei, so schnell es geht verteilen wir Chai Tee und essbare Kleinigkeiten. Was aber noch viel wichtiger ist, sind Informationen. Es ist erschreckend, wie viele nicht einmal wissen, in welchem Land sie sich gerade befinden. Der komplette Pfad ist rechts und links gesäumt von etlichen Taxifahrern, die die Unwissenheit der Zufluchtsuchenden ausnutzen und Profit aus deren Not schlagen.
Alle Taxifahrer kann man allerdings nicht über einen Kamm scheren. Serbien, vor allem die kleinen Dörfer, unterliegen hoher Arbeits- und Perspektivlosigkeit. Dennoch ist ein Großteil der Taxifahrer mafiös organisiert und hat uns auch deutlich gemacht, dass unsere Informationen, vor allem die über die Shuttle Busse nach Presevo, ihr Business stören und wir dies unterlassen sollen. Zu guter Letzt kam deutsche Polizei (!) vorbei und legte uns ans Herz, den Standort zu wechseln, da wir im Niemandsland nicht sicher seien. Absurd und pervers. Was geschieht hier?
Polizei mit Schlagstöcken und Elektroimpulswaffen
Der plötzliche Abbau der Feldküche war im ersten Moment enttäuschend und niederschlagend für uns deutsche HelferInnen. Zurück in Presevo, waren diese Gefühle schlagartig verflogen. Der Anblick des Chaos und der unzähligen hilflosen Menschen, eingepfercht hinter Sicherheitszäunen, und die Ungewissheit und Angst ins Gesicht geschrieben, schockierte mich. Zur Verdeutlichung der Situation, wenn die Fluchtsuchenden den Drei-Kilometer-Marsch nach Miratovac hinter sich gelegt haben und es zwischen acht und 23 Uhr geschafft haben, per Bus nach Presevo zu gelangen, wartet hier ein absolutes Tohuwabohu auf sie. Das erste, was die Refugees zu Gesicht bekommen, ist eine Menschenmenge, die nicht weiß was gerade geschieht, weshalb sie sich überhaupt anstellen muss und von der örtlichen Polizei mit Schlagstöcken und Elektroimpulswaffen in „Zaum“ gehalten wird.
Die Warteschlange ist in sechs Spalten eingeteilt. Im Schnitt rückt jede Spalte alle zwei bis drei Stunden auf. Das heißt: Zwölf Stunden warten die Fluchtsuchenden nachts bei Minusgraden und tagsüber in stechender Sonne, bis sie in das obligatorischen Camp Presevo gelangen. Obligatorisches Camp bedeutet kurz gesagt: Rein, registrieren, raus. Bei Bedarf gibt es eine Suppe und eine Decke. Wenn denn genügend da ist. Sobald die Menschen das Camp verlassen, können sie nicht wieder hinein.
Das Kommunikations- und Informationsproblem beginnt von Neuem, wenn die Refugees das Camp verlassen. Es scheint, als würden sie selbst im Camp keinerlei Informationen über die weitere Situation erhalten. Genau kann ich das allerdings nicht beurteilen, da der Zutritt in das Camp unabhängigen Helfern untersagt ist. Etliche Volontäre versuchen, die registrierten Flüchtlinge über die Möglichkeiten, mit dem Bus oder per Zug nach Sid zu kommen, zu informieren. Sid ist ein kleiner Vorort auf serbischem Boden kurz vor der kroatischen Grenze. Die Busse fahren etwa alle zehn Minuten direkt nach Sid. Die Züge etwa alle fünf Stunden, wobei hier nur zwei am Tag bis an die kroatische Grenze durchfahren.
Bargeld und Pass geklaut und dann blutig geschlagen
Es erscheint mir und ein paar anderen freiwilligen Helfern am sinnvollsten, die ankommenden Menschen darüber zu informieren, dass sie sich an dieser Schlange anstellen müssen, auch wenn es mir das Herz bricht, die Menschen in dieses Chaos zu schicken, um in das obligatorische Camp hinter den Gittern zur Registrierung zu gelangen. Die Registrierung dient einer 72-stündigen Aufenthaltsdauer in Serbien und ist beim Kauf von Bus- oder Zugticket im Bus oder am Bahnhofsschalter vorzulegen. Außerdem ist die Registrierung laut örtlichen Quellen notwendig, um Serbien legal verlassen zu dürfen.
Diese Aufgabe ist allerdings deprimierender und kraftraubender als das Versorgen schreiender Kinder und hilfloser Mütter, die bereits in der Schlange stehen. Am Anfang oder Ende der wartenden Menschenmasse tummeln sich wiederum 50 bis 80 Taxifahrer, die den Ankommenden falsche Informationen über die Wartezeit geben und Ihnen die Möglichkeit bieten, sie ohne Papiere an die kroatische Grenze zu fahren. Immer wieder unterbrechen mich die Taxifahrer, wenn ich mit den Flüchtlingen rede und sie über die Situation aufkläre. Die Cap-Driver stellen die Volontäre als Staatsgehilfen dar und behaupten, unsere Informationen seien falsch. Es ist deprimierend. Noch nie zuvor habe ich das Wort Ohnmacht so intensiv gefühlt.
Immer wieder treffe ich auf Zufluchtsuchende, die versuchten, mit dem Taxi an die kroatische Grenze zu gelangen und mir erzählen, dass sie etwa eine Stunde im Taxi saßen und mehrmals dieselbe Strecke gefahren sind und letztendlich an dem Bahnhof von Bujanovac rausgeschmissen wurden. Bujanovac ist eine knapp 30 Kilometer entfernte Stadt. Ich habe einen 18-Jährigen Syrer getroffen, der mit seiner Familie mit dem Taxi nach Kroatien fahren wollte. Seine eine Gesichtshälfte war angeschwollen und blutig. Er erzählte mir bei einem Herzschlag, der unmöglich gesund sein konnte, ein Taxifahrer habe sie nach etwa einer Stunde Autofahrt an einem Bahnhof rausgeschmissen, ihnen ihr restliches Bargeld abgeknöpft und als sich der Syrer wehren wollte, wurde er verprügelt und ihm wurde sein Pass gestohlen.
Schlimmer als die Bootsüberfahrt nach Griechenland
Nach und nach verlässt mich der Glaube an die Menschheit. Für eine Fahrt berechnen die Taxifahrer etwa 200 Euro pro Person. Mehrere Refugees haben mir erzählt, dass das, was sie hier in Presevo erlebt haben oder gerade erleben, neben der Bootsüberfahrt nach Griechenland mit das Schlimmste und Menschenverachtendste ist, was ihnen bisher passiert ist.
In dieser seelisch ausgeraubten Situation ist das Einzige, was mir Kraft gibt, weiter zu machen und nicht aufzugeben, die kurzen Begegnungen, Umarmungen und mehr als tausend Worte sagenden Blicke, die mir andere HelferInnen oder dankbare Kinder, Mütter oder Väter geben.
Es ist zehn Uhr morgens und ich suche diese junge Mutter, deren Baby keine Socken hat und vollgeschissene Hosen trägt und weint. Aus unserem Spendenbunker habe ich eine hoffentlich passende Hose raus gezerrt und Socken, die dem Baby wahrscheinlich viel zu groß sind. Aber besser als nichts, denke ich. In diesem Chaos finde ich die Frau nicht mehr. Ich laufe, ja renne schon fast, rechts an der Warteschlange vorbei. Meine Augen arbeiten so schnell. Ich scanne jedes einzelne der vielen hilflosen Gesichter, um die Frau zu finden. In meinem Rucksack habe ich Pampers, ein paar Bananen und Wasser. Keine Chance. Sie ist wahrscheinlich schon drin.
Resigniert bemerke ich, dass ich schon seit über 18 Stunden auf den Beinen bin. Man vergisst hier wirklich zu schlafen. Dennoch will ich so vielen Menschen wie möglich in dieser mehr als misslichen Lage helfen. Auch wenn es nur ein ‚neues‘ gebrauchtes Paar Schuhe für einen älteren Mann in Flip Flops ist, dessen Füße übersät sind mit aufgeplatzten Blasen oder eine Begleitung für ein junges Mädchen, das ihre Periode hat, zu einem der insgesamt zehn Dixi-Toiletten (für täglich 2000 Menschen) ist, einen jungen Mann dessen Arm gebrochen ist, zum Doktor bringen oder eine hochschwangere Frau aus den quetschenden Menschenmassen holen – für die Menschen tust du in diesem Moment wohl mehr, als dir selbst bewusst ist.
Weitere Freiwillige sind auf dem Weg
Am 27.11.2015 ist wieder eine Gruppe aus Süddeutschland nach Serbien gereist, um vor Ort mit der Gulaschkanone den Fluchtsuchenden zur Seite zu stehen, ihnen Informationen zu geben und mit einem Becher heißem Chai die immer kälter werdenden Nächte in Serbien zu überstehen. Ohne die Volontäre, die ohne jegliche Bezahlung vor Ort helfen und den Zufluchtsuchenden ein kleines Licht auf ihrer mehr als harten, kraftraubenden und lebensbedrohlichen Flucht sind, würde das Chaos in Höchstform eskalieren. Ich spreche aus Erfahrung.
Die Gruppe benötigt dringend noch finanzielle Unterstützung, um Lebensmittel und Wasser für die Menschen vor Ort zu kaufen. Jeder Cent zählt!
Beate Fleischhauer
Geldspenden können direkt abgegeben werden im:
Weltcafe (Charlottenplatz 17, 70173 Stuttgart, http://welthaus-stuttgart.de/weltcafe/),
Cafe Galao (Tübingerstraße 90, 70180 Stuttgart).
Oder: Vegi Voodoo King: (Steinstraße 13, 70173 Stuttgart).
Oder (Solidaritätsfahrt): https://www.betterplace.org/.
Oder: Carrara Santiago (Ansprechpartner), DE06 4306 0967 7012 5255 00, BIC: GENODEM1GLS
Für Fragen und Infos bitte melden unter: agustinscarrara@gmail.com / 015218806390
Hier einige Links:
http://bordermonitoring.eu/
http://www.soskonvoi.com/
http://www.borderline-europe.de/wir-ueber-uns
Welcome to Europe: unabhängige Webseite in verschiedenen Sprachen zur Unterstützung in Asylfragen für Betroffene:
http://www.w2eu.info/
https://www.facebook.com/Channel4News/videos/10153349086021939/
Enorm beeindruckende Leistungen ! Danke !
Bei https://www.betterplace.org/ finde ich leider unter „Solidaritätsfahrt“ nichts.