Brexit – oder was?
In diesen Tagen entscheidet sich, wohin sich Britannien bewegt. Alles scheint denkbar, meint seemoz-Autor und Großbritannienexperte Pit Wuhrer: Ein Crash. Ein Regierungswechsel. Ein zweites Referendum. Viel hängt davon ab, was Labour will – und tut.
An düsteren Szenarien herrscht derzeit kein Mangel. Laut Medienberichten mobilisiert die britische Regierung Polizeikräfte, sollte es zu einem „harten“ Ausstieg des Landes aus der EU kommen und eine militärische Kontrolle der Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland nötig werden. Schon vor Weihnachten hatte London mitgeteilt, dass demnächst Teile der Armee in Alarmbereitschaft gesetzt würden. Sie hat auch für über 150 Millionen Euro Fährschiffe für den Fall reservieren lassen, dass aufgrund strikter Zollkontrollen ein Teil der 10.000 Lkws, die täglich den Hafen von Dover frequentieren, dort nicht abgefertigt werden können – und auf andere Häfen umgeleitet werden müssen. Zudem, das meldet die Logistikbranche, gibt es mittlerweile keinen Lagerraum mehr: Jeder verfügbare Quadratmeter sei von Firmen ausgebucht, die jetzt schon Vorräte anlegen. Überhaupt: Notvorräte, das empfiehlt die Regierung der Bevölkerung seit längerem, sollten alle Haushalte horten.
Da stellt sich die Frage: Sind das alles pragmatische Vorbereitungen für den denkbar schlechtesten Fall eines «harten» Brexits, der die britische Ökonomie hart treffen würde? Oder Signale an die politischen Kräfte, die den Deal zwischen der EU und Britanniens Premierministerin Theresa May ablehnen: Seht her, das sind die Konsequenzen, falls ihr dem Abkommen nicht doch noch zustimmt?
Dennoch ist eine Ablehnung des Unterhauses in dieser Woche wahrscheinlich. Zu viele Abgeordnete können sich mit der Vereinbarung nicht anfreunden, die die Konservativen mit den übrigen 27 EU-Staaten getroffen haben – aus unterschiedlichen Gründen. Viele Hardliner unter den Tories lehnen jeden Deal mit der EU rundweg ab, und sei es nur der ins Auge gefasste vorläufige Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Zollunion. Etliche Labour-Abgeordnete sind grundsätzlich gegen einen Brexit, andere halten die Übergangsfrist für zu kurz. Und für die nordirische DUP, die die konservative Regierung im Unterhaus bisher unterstützte, ist der sogenannte Backstop, die Auffanglösung für Nordirland, ohnehin Teufelszeug.
Irlands Rache
Diese Ausnahmeregelung im vorgeschlagenen Abkommen sieht vor, dass die sechs Grafschaften so lange in der Zollunion und im Binnenmarkt bleiben, bis eine Möglichkeit gefunden ist, den Waren- und Personenverkehr an der inneririschen Grenze einigermaßen geräuschlos abzufertigen. Man werde technische Maßnahmen entwickeln, versprechen die Brexiteers seit zwei Jahren – gefunden haben sie bisher jedoch keine.
Der Backstop ist vor allem nötig, weil im Friedensabkommen von Karfreitag 1998, das den Nordirlandkonflikt beilegte, von allen Vertragsparteien – auch der EU – nicht nur Waren-, sondern auch Personenfreizügigkeit auf der irischen Insel festgeschrieben wurde. Eine Aufhebung dieser Freiheit (und ein Bruch des Abkommens) hätte womöglich unabsehbare Konsequenzen und könnte den fragilen Frieden destabilisieren. Deshalb besteht der EU-Staat Irland auf einer Sonderlösung für Nordirland; eine Position, die Brüssel übernommen hat. Allerdings hätte der Backstop eine Konsequenz, die für die mehrheitlich protestantischen UnionistInnen (und viele Tories) kaum zu verkraften ist: Die Grenzsicherung (vor allem die Abschottung gegen unerwünschte Migration) müsste in die Irische See verlegt werden, also zwischen Nordirland und Britannien stattfinden. Damit aber würde Nordirland näher an die Republik gerückt, als der rechtsklerikalen DUP lieb sein kann.
Dass der alte Kolonialkonflikt das britische Establishment auf diese Weise – durch die Hintertür – einholen würde: Wer hätte das gedacht? Über Jahrhunderte hinweg war die britische Macht fast nach Belieben mit Irland umgesprungen, hatte es ausgebeutet, unterdrückt, geteilt, gedemütigt, belächelt. Irland, was war das schon? Und jetzt das. Dass Nordirland möglicherweise eine Sonderposition eingeräumt bekommt, hat natürlich auch die schottischen NationalistInnen auf den Plan gerufen, die seit langem eine größere Autonomie von England anstreben und den Brexit rundweg ablehnen (in Schottland hatten beim Referendum 62 Prozent der Bevölkerung für einen Verbleib in der EU gestimmt). Warum sollen die NordirInnen im Binnenmarkt bleiben dürfen, sie aber nicht?
Drei Optionen
Da ihre Niederlage absehbar war, hatte May die ursprünglich für den 11. Dezember 2018 geplante Abstimmung über das 585-seitige Austrittsabkommen verschoben. Sie wolle die Zeit für Nachverhandlungen mit der EU nutzen, argumentierte sie; erreicht hat sie aus offenkundigen Gründen wenig: Die EU kann es sich nicht leisten, Zugeständnisse zu machen. Und so wird wohl an diesem Dienstag im Unterhaus erneut die Frage gestellt: Deal – or no deal? Sollte eine Mehrheit wider Erwarten für Mays Verhandlungsergebnis stimmen, kommt alles wie geplant: Der Vereinigte Königreich tritt zum 29. März aus der EU aus, begleicht Schulden in Höhe von 39 Milliarden Pfund, gehört aber für eine Umsetzungsperiode bis Ende 2020, möglicherweise bis Ende 2022 weiterhin der Zollunion an; zudem akzeptiert die Regierung, dass Nordirland für unbestimmte Zeit im Binnenmarkt bleibt.
Scheitert May, gibt es zwei Optionen: Ein Ausstieg ohne Vertrag („harter“ Brexit) mit der Folge, dass ab 29. März Mitternacht die WTO-Regeln gelten, also Zölle erhoben werden, Lastwagen sich stauen, Produktnormen und -standards nicht mehr anerkannt sind. Oder es kommt der Ausstieg vom Ausstieg – das Vereinigte Königreich widerruft die Inanspruchnahme von Artikel 50 des EU-Vertrags und bleibt Mitglied. Nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs kann diese Erklärung einseitig und bis kurz vor Schluss erfolgen. Denkbar wäre auch eine Fristverlängerung bis zur Neuwahl des EU-Parlaments am 26. Mai.
Vor einem „harten“ (oder gar keinem) Brexit stürzt das Land jedoch in Turbulenzen: Sollte May scheiterten, hat sie drei Tage Zeit, einen Plan B vorzulegen. Kommt auch dieser nicht durch, wird die Opposition einen Misstrauensantrag stellen, der möglicherweise erfolgreich ist. Das gilt freilich nur für den Fall, dass die Abgeordneten konsequent handeln (was aber nicht unbedingt zu erwarten ist) – dass also alle, die das bei weitem wichtigste Gesetz in der jüngeren Geschichte Britanniens ablehnten, auch gegen die Regierung votieren, die es eingebracht hat.
Was will Corbyn?
Wird der Misstrauensantrag von genügend Abgeordneten unterstützt, hat das Parlament zwei Wochen Zeit, eine neue Regierung zu finden. Danach wären Neuwahlen fällig. Auf dieses Ziel steuern Jeremy Corbyn und sein Schattenkabinett seit langem hin. Die Labour-Führung könnte mit ihrer Strategie Erfolg haben – vorausgesetzt, die Fraktion steht geschlossen hinter ihr. Das aber ist höchst unsicher. Zwar sind die Rufe nach einem Führungswechsel seit der letzten Unterhauswahl leiser geworden, doch es gibt noch genügend rechte Abgeordnete in ihren Reihen, die Corbyn lieber heute als morgen loswerden wollen und das Misstrauensvotum für einen Tritt gegens Schienbein nutzen könnten.
Überhaupt mehren sich die Zeichen für einen Machtkampf in der Partei. Kurz vor Weihnachten hatte Corbyn in einem Interview mit dem „Guardian“ nochmals seine Position bekräftigt. Er steuere Neuwahlen an – und werde nach seinem Sieg mit der EU dann ein „besseres“ Brexit-Abkommen aushandeln. Wie er das erreichen will und was ein besseres Brexit-Abkommen ist – das verriet er nicht. Ansonsten blieb er bei seiner bisherigen Haltung: Die Bevölkerung habe sich entschieden, und daran müsse man sich halten.
Mit diesem „Ein für allemal“-Ansatz versucht sich die Parteispitze schon länger aus einer Zwangslage zu stehlen, aus der es kein einfaches Entrinnen gibt. Da ist zum einen das Referendumsergebnis von 2016: In über der Hälfte aller Labour-Wahlkreise hatte die Bevölkerung mehrheitlich für den Brexit gestimmt. Würde man diese Wahlkreise (und damit Abgeordnetenmandate) bei einem Kurswechsel nicht verlieren? Und dann kursieren im Labour-Vorstand erhebliche Vorbehalte gegen die EU – großteils zu Recht: Sollten Corbyn, John McDonnell und die anderen Labour-Linken tatsächlich ihr Programm umsetzen können, würde die markradikal orientierte EU-Kommission sofort Einspruch erheben und die Wiedervergesellschaftung von Bahn, Wasserversorgung und Energiewesen, die Anhebung von Reichensteuern, die nukleare Abrüstung und so weiter verhindern wollen. Die Umsetzung ihrer Vorhaben würde außerhalb der durch ihre Lissaboner Verträge neoliberal verfassten EU gewiss leichter fallen.
Die Gespaltenheit bleibt
Andererseits sind genau jene Kräfte, die der Linken in der Partei zum Durchbruch verholfen haben, internationalistisch und damit proeuropäisch eingestellt. Momentum zum Beispiel, in dem sich vor allem junge Corbyn-UnterstützerInnen zusammengeschlossen haben, ist mehrheitlich gegen den Brexit – und so sehen das laut Umfragen auch viele andere Labour-WählerInnen. Eine überwiegende Mehrheit von ihnen wünscht sich eine zweite Volksabstimmung. Mit anderen Worten: Bleibt Corbyn in den nächsten Wochen bei seiner Position, könnte es zwar zu einer Neuwahl kommen. Aber bei der wäre die Partei ziemlich chancenlos.
Würde ein zweites Referendum einen Ausweg aus diesem Dilemma bieten? Immerhin trommeln viele dafür: etliche proeuropäisch gesinnte Tories, viele Labour-Abgeordnete (vor allem aus Regionen wie London, die 2016 für einen Verblieb stimmten), die Liberaldemokraten, die schottischen und walisischen NationalistInnen. Außerdem waren Anfang Oktober rund 700.000 Menschen mit der Forderung nach einem neuerlichen Votum durch London gezogen. Ohne Zustimmung der Labour-Spitze lässt sich das dafür nötige Gesetz kaum durch das Unterhaus bringen. Und noch immer stehen Corbyn und einer seiner wichtigsten Verbündeten, Len McCluskey von der Gewerkschaft Unite, einer neuerlichen Abstimmung äußerst skeptisch gegenüber.
Ganz einfach ist die Sache mit dem zweiten Referendum also nicht – zumal noch völlig unklar ist, wie die Frage lauten sollte. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass sich möglicherweise eine knappe Mehrheit anders entscheiden würde als 2016 – aber eben nur eine knappe Mehrheit. Die britische Gesellschaft bleibt also gespalten. Jedenfalls läuft allen die Zeit davon. Eine Neuwahl des Parlaments ist bis Ende März kaum zu schaffen, ebenso wenig eine zweite Brexit-Abstimmung. Zunehmend klarer aber kristallisiert sich heraus, dass sich die britische Bevölkerung in der EU-Frage wieder in die herkömmlichen Lager sortiert. Die Labour-Basis tendiert mit großem Mehr gegen den Brexit; dort spricht sich allmählich herum, dass es den Brexiteers um weit mehr geht als die EU-Zugehörigkeit. Die reaktionäre Rechte plant ein gesellschaftspolitisches Rollback inklusive einer Einschränkung der Menschenrechte.
Auf der anderen Seite wollen rund 85 Prozent der Tory-Mitglieder die EU auf jeden Fall verlassen; die Mehrheit der Konservativen ist sogar für einen sofortigen Ausstieg ohne Abkommen. Lediglich 15 Prozent der Befragten befürworten einen Verbleib in der EU. Er wolle die Partei wieder einen, hatte David Cameron, der damalige Premierminister, vor drei Jahren gesagt, als er den Zeitpunkt des Brexit-Referendums bekannt gab. Nun ist die Partei noch mehr gespalten als zuvor. Camerons Ansinnen war ja auch eine der dümmsten Ideen in der an gemeingefährlichem Unsinn nicht armen Geschichte der Tories gewesen.
Pit Wuhrer (Foto: Demo für ein zweites Referendum in London; Quelle: commons.wikimedia.org)