Der lange Arm Erdogans in Deutschland

Für einiges Aufsehen sorgte in den letzten Tagen der seemoz-Beitrag über einen Vorfall im Gebäude der Konstanzer Moschee in der Reichenaustraße. Mitte November war dort ein türkischstämmiger Mann aus Kreuzlingen nach eigener Aussage vom Betreiber eines zur Moschee gehörenden Gastronomiebetriebs und weiteren Besuchern massiv bedroht worden.

Die Vorsitzende des Moscheevereins hat die Vorwürfe in einer Stellungnahme zurückgewiesen. Das Angebot, sich in einem Interview dazu und auch zum Verhältnis der hiesigen muslimischen Gemeinschaft zum türkischen Staat zu äußern, ließ Özen unbeantwortet. Grund genug, einmal den Hintergrund des Konstanzer Vereins einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.

Gegenüber der Öffentlichkeit betonen die Verantwortlichen der Konstanzer Moschee gerne, Toleranz und Weltoffenheit werde im Verein großgeschrieben. So erklärt Peyman Özen in ihrer Stellungnahme zu dem Ereignis im November, die Gemeinde sei „vielfältig, gastfreundlich und aufgeschlossen“, auch „anders denkende Personen“ würden respektiert. Auf dem Dach der Moschee prangt das Symbol von „Konstanz 83“, einer Initiative, die sich in der größten Stadt am Bodensee um die Vermittlung von Wohnraum für Geflüchtete bemüht.

Doch das Bild einer harmonischen, um Integration bemühten Gemeinschaft erfährt Risse, wenn die Vereinsvorsitzende gleichzeitig ausführt, politische Diskussionen seien im Moscheekomplex „nicht erwünscht und erlaubt“. Ein ziemlich befremdliches Verständnis von Toleranz und Offenheit, gerade angesichts der aktuellen Geschehnisse in der Türkei, dem Land, in dem die allermeisten Gläubigen der Konstanzer Gemeinde ihre Wurzeln haben.

Stumm bleiben die Verantwortlichen in der Reichenaustraße auch seit Monaten, wenn sie nach ihrer Meinung zur autokratischen Politik des Staatspräsidenten Erdogan gefragt werden. Wer um eine Stellungnahme zu Massenentlassungen und -verhaftungen bittet, wer wissen will, wie man zur Verfolgung der demokratischen Opposition und den Militäroperationen gegen die kurdische Bevölkerung, zu Foltervorwürfen und Pressezensur steht, erntet eisernes Schweigen. Wie lässt sich dieses große Schweigen aus der Moschee erklären, wenn doch die meisten Gläubigen zumindest mittelbar von den erschreckenden Entwicklungen in der vielfach noch als Heimat empfundenen Türkei betroffen sind?

Ditib: Am Gängelband des türkischen Staates

Das Konstanzer Gebetshaus wird vom Verein „Türkisch-islamische Gemeinde DITIB Konstanz und Umgebung e.V.“ betrieben. Die hiesige Mevlana-Moschee gehört damit zum größten deutschen Islamverband, der „Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion“ – Kürzel: Ditib („Diyanet Isleri Türk Islam Birligi“). Der 1984 im Einvernehmen zwischen deutschem und türkischem Staat gegründete Verband verwaltet heute mehr als 900 Moscheegemeinden. Muslimische Vereine, die sich ihm anschließen, müssen einer Mustersatzung zustimmen, in der sie Ditib als beratender Institution ebenso zustimmen wie der Überwachung ihrer Aktivitäten sowie der Finanzen.

Seit seiner Gründung untersteht dieser einflussreiche Dachverband selbst einer noch mächtigeren Behörde des türkischen Staates. Diyanet, das „Präsidium für Religionsangelegenheiten“, übt in Ankara das Monopol auf „öffentliche Religion“ aus. Der Behörde sind die Moscheen im Land unterstellt, sie verfasst neben religiösen Pamphleten auch alle Freitagspredigten, die im muslimischen Religionsgeschehen von besonderer Bedeutung sind und in denen häufig auch politische Angelegenheiten zur Sprache kommen. Der Chef dieser inzwischen auf über 100 000 Mitarbeiter angewachsenen „Superbehörde“ redet bei Ditib nicht nur als Mitglied eines Beirats, der den Vorstand kontrolliert, ein gewichtiges Wort mit. Entscheidender noch ist, dass an allen Ditib-Moscheen ausschließlich Imame vorbeten dürfen, die von Diyanet entsendet und bezahlt werden.

Diyanet selbst agiert politisch natürlich ebenfalls nicht im luftleeren Raum, sondern ist dem türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim unterstellt. Der aber gilt nicht nur linken Oppositionellen inzwischen nur noch als eine Marionette des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der zusammen mit seiner AKP seit dem gescheiterten Putschversuch im Sommer mit Siebenmeilenstiefel in Richtung Präsidialdiktatur unterwegs ist.

Erdogan nutzt dabei gezielt auch Diyanet, um die Religion auf seine ideologische Linie zu bringen. „Der türkische Staatsislam hat sich von einer moderaten zu einer radikalisierenden Religion verändert. Dafür ist nicht zuletzt die AKP unter Führung Erdogans verantwortlich“, ist etwa Susanne Schröter überzeugt, Professorin und Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam an der Goethe-Universität. Für sie gibt es keine Zweifel, dass Ditib inzwischen auch ideologisch von der Religionsbehörde in der Türkei abhängig ist, die Erdogan ganz auf seine Linie gebracht hat – nicht umsonst fielen der Säuberungswelle auch mindestens 500 Diaynet-Mitarbeiter zum Opfer.

Auch der türkischstämmige Grünen-Politiker Cem Özdemir ist überzeugt, dass der Ditib-Dachverband „unmittelbar von der türkischen Regierung gesteuert wird“. Und Sevim Dagdelen, LINKE-Bundestagsabgeordnete und Migrations- und Integrationsbeauftragte ihrer Fraktion, hat mehrfach darauf hingewiesen, der Islam-Verband sei „als Ableger der türkischen Religionsbehörde Diyanet … der verlängerte Arm Erdogans in Deutschland“. Sie kritisiert vor allem scharf, dass Ditib in verschiedenen Bundesländern, wie z. B. in NRW, als Kooperationspartner von Landesregierungen immer noch Einfluss auf den islamischen Religionsunterricht ausübe: „Wer die reaktionären Lautsprecher der AKP-Regierung in die NRW-Klassenzimmer einlädt, muss wissen, dass quasi Staatspräsident Erdogan mit im Klassenzimmer sitzt“.

6000 türkische Agenten in Deutschland

Zurück zum Geschehen in der Konstanzer Moschee im November. Während der Verbalattacke auf den Kreuzlinger Erdogan-Gegner rutschte einem der Beteiligten nämlich heraus, schon im Vorfeld der Konstanzer Anti-Erdogan-Demo habe sich das zuständige türkische Konsulat bei den Moscheeverantwortlichen gemeldet und diese aufgefordert, was dagegen zu unternehmen. Peyman Özen hat das auf Nachfrage zwar bestritten; auch das würde jedoch ins Gesamtbild passen. Laut einem Bericht in der ZEIT vom 3.8. gibt es aus mindestens einem Ditib-Landesverband Informationen, „dass die Imame Anweisungen von Religionsattachées aus den türkischen Koonsulaten erhalten und wöchentlich Rapport abzuliefern haben über ihre Arbeit“. Auch die Islamexpertin Schröter spricht in diesem Zusammenhang von einer „Einflusskette“ und weist auf die Rolle der türkischen Religionsattachés hin, die in allen wichtigen Ditib-Gremien vertreten seien.

Eine Einflussnahme staatlicher türkischer Stellen auf deutsche Moscheegemeinden legen auch jüngste Medienmeldungen über die Umtriebe des türkischen Geheimdienstes MIT in Deutschland nahe. So berichtete die „Welt“ Ende November darüber, der türkische Geheimdienst unterhalte in Deutschland „ein gewaltiges Heer von Agenten und Zuträgern“. Die Zeitung stützt sich dabei u. a. auf ein als Verschlusssache deklariertes Dokument der Bundesregierung vom Sommer 2015, das auch die Zielpersonen benennt: Kurden, Aleviten und Gülen-Anhänger stünden „im Mittelpunkt des Interesses des MIT“.

Danach soll der MIT in Westeuropa mit rund 800 hauptamtlichen Offizieren operieren, größtenteils in Deutschland. Zusätzlich verfüge der türkische Geheimdienst über rund 6000 Informanten – ein beispielloses Spitzelheer, 1 MIT-Zuträger auf 500 türkischstämmige EinwohnerInnen. Klar, dass dabei so ziemlich alle Vereine, Organisationen und eben auch Gemeinden ins Visier der Schlapphüte geraten.

Auch der „Kongress der kurdischen demokratischen Gesellschaften in Europa“ hat darauf hingewiesen, die türkischen Botschaften und Vertretungen in Deutschland und Europa seien „geradezu zu Geheimdienstzentralen umgerüstet worden“. Dem Verband lägen konkrete Informationen über Agententeams in Deutschland und Frankreich vor, berichtet die „Junge Welt“ am 14.11: Danach sei ein als Fernsehjournalist auftretender Mehmet Fatih S., der ebenso wie sein Führungsoffizier T. C. seit zwei Jahren in Bremen lebe, „als professioneller Auftragsmörder nach Europa geschickt worden, um kurdische Politiker zu töten und kurdische Organisationen zu überwachen“.

Selbst die Bundesregierung sieht inzwischen „eine neue Qualität der Bedrohung durch den türkischen Nachrichtendienst MIT“, wie WDR und NDR Anfang Dezember unter Berufung auf Informationen aus dem Innenausschuss des Bundestags berichtet haben. Der Grünen-Abgeordnete Hans-Christian Ströbele sprach von „unglaubliche(n) geheime(n) Aktivitäten“ des MİT“ und Geheimdienstexperten zeigten sich vom Ausmaß der Aktivitäten des Dienstes, der im übrigen eng mit dem BND kooperiert, mehr als verwundert. Selbst Innenminister Thomas de Maizière gestand gegenüber der „Bild am Sonntag“ ein: „Erdoğan versucht, Einfluss auf die Menschen in Deutschland zu nehmen“

Klima der Angst und des Denunziantentums

Für Erdogan-Kritiker kamen solche Meldungen wenig überraschend: Yilmaz Karaman von der Alevitischen Gemeinde Deutschland sagte, die Zahl von 6000 sei erschreckend, er glaube aber, dass das nur die Spitze des Eisbergs sei. „Die ganze türkische Vereins- und Verbandslandschaft hat Verbindungen nach Ankara, darüber hinaus gibt es viele Menschen, die nicht unbedingt für den MIT arbeiten, sich aber trotzdem beteiligen, eben indem sie auf Kritiker und Andersdenkende Druck ausüben.“

Auch Mehmet Tanriverdi, der stellvertretende Vorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, sieht innerhalb der türkischen Gemeinschaft viele Anknüpfungspunkte für Erdogans Geheimdienstler: „In den DITIB-Moscheen arbeiten als Imame über eintausend türkische Staatsbeamte. Turkish Airlines ist ein staatliches Unternehmen, es gibt türkische Banken – der türkische Staat lässt dort nicht irgendwen arbeiten. Wir sind sicher, dass dort auch MIT-Agenten aktiv sind, auch in anderen Vereinen wie etwa Boxclubs.“ Kein Wunder, dass inzwischen nicht nur Oppositions-VertreterInnen von einem Klima der Angst und des Denunziantentums berichten, das sich unter DeutschtürkInnen verbreitet.

Die Bundes- und weitgehend auch die Landesregierungen ziehen bisher keine Konsequenzen aus diesen beunruhigenden Versuchen des Erdogan-Regimes, seinen Einfluss in der größten Migranten-Gemeinschaft in Deutschland auch mit illegalen Mitteln gezielt auszuweiten. Bundeskanzlerin Merkel steht weiter in Treue fest zum politisch, wirtschaftlich und militärisch wichtigen Premiumpartner Türkei, trotz der eklatanten Menschenrechtsverstöße des AKP-Regimes, trotz seines Wühlens auch im Inland.

Der Fraktion der Linkspartei hat das scharf kritisiert und fordert Konsequenzen von der Bundesregierung. „Das Agieren des türkischen Geheimdienstes in Deutschland ist rechtswidrig und eine Bedrohung der hier lebenden demokratischen Oppositionellen. Neben strafrechtlichen Maßnahmen sollte dies die Ausweisung der Agenten und eine Beendigung der Kooperation mit dem MIT zur Folge haben“, so die Innenpolitikerin Martina Renner. Im Bundestag erklärte am 2.12. Sevim Dagdelen: „Hören Sie auf, mit Erdogans Diensten zusammenzuarbeiten. Die Bundesregierung steht hier in der Verantwortung, die Menschen in Deutschland vor den Agenten und Schergen des türkischen Geheimdienstes zu schützen.“ Möglicherweise fiele es dann ja auch Angehörigen der Konstanzer Mevlana-Moschee leichter, über Vorfälle wie im November zu sprechen oder Worte für die Geschehnisse in der Türkei zu finden.

J. Geiger/Bild: Logo des türkischen Geheimdienstes MIT. Bild: Hamed13931394/CC-BY-SA-4.0