Durchs wilde Kurdistan
Was gehen uns die Kurden an, fragen Kerem Schamberger und Michael Meyen am Anfang ihres Buches über die Geschichte eines Volkes, zu dem hierzulande vielen vermutlich erst einmal immer noch Karl May einfällt oder allenfalls die von Politik und Medien als terroristisch gebrandmarkte PKK. Eine Frage, die sich als eine Art Leitmotiv durch das knapp 240 Seiten starke Werk zieht, das Anfang September im Frankfurter Westend-Verlag erschienen ist. Am kommenden Samstag stellen es die Autoren in der Konstanzer Spiegelhalle vor.
Schamberger und Meyen, obwohl beide Medienwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München, stellen gleich zu Beginn klar, dass Leserinnen und Leser alles andere als eine akademisch-nüchterne Abhandlung erwartet. Sie haben vielmehr ein engagiertes Plädoyer für diese weltweit größte Ethnie verfasst, der seit Menschengedenken das Recht verwehrt wird, über die eigene gesellschaftliche Verfasstheit zu entscheiden. Kenntnisreich erzählt das Buch von der Geschichte der heute mehr als 30 Millionen Menschen, die nach westlicher Lesart als Türken, Syrer, Iraner oder Iraker gelten, und sich trotz der in ihren Siedlungsländern erduldeten Diskriminierung die Widerständigkeit nicht austreiben lassen – obwohl das nur zu oft in staatlich organisiertem Mord und Totschlag mündet.
Autorenlesung: Die Kurden – Ein Volk zwischen Unterdrückung und Rebellion
Termin: Samstag, 27. Oktober | Ort: Spiegelhalle, Konstanz | Uhrzeit: 20.00 Uhr | Eintritt: 7 Euro, Abendkasse
Veranstalter: Bodensee-Solidaritätsbündnis mit Afrin, Theater Konstanz, seemoz e.v.
Dein kurdischer Nachbar
Warum aber, um die Ausgangsfrage aufzunehmen, sollten wir in Deutschland uns mit all dem beschäftigen? Nun, um das Nächstliegende zu nennen, vielleicht, weil unter uns mehr als eine Million Kurden leben, die als Arbeitsmigranten oder Flüchtlinge vor staatlicher Verfolgung ins Land gekommen sind, und denen wir heute vielerorts als Nachbarn, Arbeitskollegen, Kommilitonen oder Schulkameraden über den Weg laufen.
Zu den besonderen Stärken des Buchs gehört, dass es die Leidensgeschichte dieses Volkes mit Menschen verknüpft, denen wir täglich begegnen können (wenn wir wollen). Wie etwa Leyla aus Kassel, die in der Türkei als Kind mit ansehen musste, wie ihr Vater erschossen wurde. Inzwischen Ende 20, engagiert sich die Kurdin in einem Lesekreis, der sich mit dem „Demokratischen Konföderalismus“ beschäftigt, dem kurdischen Modell einer basisdemokratischen Selbstverwaltung in der Region, die ohne Staat, Ausbeutung, religiöse oder ethnische Diskriminierung und Frauenunterdrückung auskommen will.
Oder Ercan, dessen Eltern vor einem halben Jahrhundert nach Rüsselsheim (Opel!) gekommen sind. Erst als Bauingenieur-Student in Wiesbaden ist er durch sein Engagement gegen einen vom türkischen Staat gewaltsam – und mit deutscher Unterstützung – gegen die kurdische Bevölkerung durchgesetzten Staudamm an seine Wurzeln erinnert worden. Das brachte ihn dazu, sich die Verhältnisse im Land seiner Eltern genauer anzusehen. Die bei den harten Auseinandersetzungen mit dem türkischen Staat gemachten Erfahrungen haben einen überzeugten Streiter für die Sache der kurdischen Autonomie aus ihm gemacht.
Zu Wort kommen aber auch „Westler“, die sich auf die Seite der Kurden geschlagen haben, weil sie das Schweigen der eigenen Regierungen zu den Verbrechen nicht mehr ertragen. Etwa Reimar Heider, der 1994 als Wahlbeobachter in der Türkei war. „Was ich dort gesehen habe, hat mich politisiert. Deutsche Panzer, deutsche Waffen überall. Morde auf offener Straße, abgebrannte Dörfer“. Heute, weiß das Buch zu berichten, übersetzt Heider die Werke des PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan ins Deutsche.
Spielball der Großmächte
Natürlich geht es auch um Geschichte in dem Buch über eine Bevölkerungsgruppe, deren Wurzeln bis zu den Medern zurückreichen. Es sei ihnen vor allem daran gelegen zu zeigen, „wie die Vergangenheit in der Gegenwart weiterlebt“ schreiben die Autoren über ihren Anspruch. Denn die heutige Gemengelage kann nur verstehen, wer weiß, wie und weshalb sich die westlichen Mächte die Gebiete des Nahen und Mittleren Ostens zurechtgeschnitten haben und warum die dabei neu entstandenen Staaten allesamt kein Interesse an einer eigenständigen kurdischen Nation hatten.
Zerrieben in den Machtkämpfen der regionalen Mächte und Clans, die häufig als verlängerter Arm von imperialistischen Großmächten agieren, werden die Kurden bis heute. Das Buch zeigt denn auch, dass sich Geschichte eben doch wiederholt. Das Beispiel Türkei legt davon vielfaches Zeugnis ab: Der aus den Trümmern des Osmanischen Reichs entstandene Staat hat von Beginn an nicht-türkische Minderheiten (50 gibt es im Land) ausgegrenzt, verfolgt, vernichtet – seien es Armenier, Jeziden oder eben Kurden. Geändert hat sich daran bis heute wenig: „Die Türkei führt seit Sommer 2015 Krieg im eigenen Land. Sie zerstört kurdische Städte und Dörfer, bringt dabei Zivilisten um, sperrt gewählte Bürgermeister ein.“
Führen kann die Türkei solche Kriege überhaupt nur, „weil die Weltöffentlichkeit wegschaut“, auch das ein Befund von Schamberger/Meyen. Gerade der Bundesrepublik stellt das Autorenduo dabei ein verheerendes Zeugnis aus. „Weil Deutschland diesen Krieg durch die Brille der Regierung in Ankara sieht“, könne das Erdogan-Regime im Südosten die eigene Bevölkerung terrorisieren. Doch nicht allein durch Wegsehen gibt die Berliner Regierung der in Ankara Rückendeckung. Deutsche Unternehmen dürfen Waffen in die Türkei liefern, die, weil wirtschaftlich ein „Paradies für Investoren“, begehrter Standort deutscher Konzerne und zugleich bedeutender Absatzmarkt für Waren made in Germany ist. Just diesen Oktober will etwa Wirtschaftsminister Altmaier mit 80 Industrievertretern in das Land reisen, um die deutschen Geschäfte voranzubringen.
Schützenhilfe erhält Erdogan selbst von der deutschen Innenpolitik und Justiz. „Die PKK bleibt verboten, weil die Türkei von Terroristen spricht. Deutsche Polizisten verfolgen Menschen, die Symbole dieser Partei zeigen oder von Organisationen, die mit der PKK verbandelt sein sollen.“ Durchsuchungen, Verbote, Verhaftungen, Verurteilungen kurdischer Oppositioneller sind an der Tagesordnung. „Die Türkei war schon immer unser Partner. Das zählt mehr als alle Menschenrechte“, resümieren die Autoren bitter.
Revolution in Rojava
Ein Buch über die Kurden muss sich mit der PKK beschäftigen und ihrem Vordenker Abdullah Öcalan, den der türkische Staat seit bald 20 Jahren in Isolationshaft hält und über dem ständig das Damoklesschwert der Hinrichtung schwebt. Es macht das nüchtern, ohne Verklärung. Es beschreibt, wie aus einer K-Gruppe, die in 60er und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch auf dem Gebiet der Türkei aus dem Boden schossen, ein politischer Hoffnungsträger nicht nur für viele Kurden in der Region wurde.
Dabei wird der bittere Blutzoll nicht ausgespart, den viele, auch Unbeteiligte, für Fehlentscheidungen und Irrwege zahlen mussten. Die Autoren schildern aber auch, wie es die PKK und ihr eingekerkerter Vorsitzender geschafft haben, in der Defensive nicht in ideologische Verkrustung zu verfallen. Stattdessen haben Apo (Onkel), wie Öcalan von seinen Anhängern genannt wird, haben die kurdischen Männer und vor allem Frauen aus Fehlern gelernt, ohne das revolutionäre Ziel aufzugeben, eine linke, emanzipatorische Perspektive zu entwickeln, die heute in Rojava praktisch umgesetzt wird.
Denn auch und vor allem über Rojava muss man schreiben, wenn man ein Buch zur kurdischen Frage macht, postuliert das Autorenduo. Erleben doch diese kurdischen Gebiete im Norden Syriens – von hiesigen Linken viel zu wenig beachtet – seit 2012 nicht weniger als eine Revolution. „Rojava: Dieser Name steht für eine Demokratie, in der tatsächlich jeder mitmacht und in der die Frauen eigene Räte haben, eigene bewaffnete Verbände und einen Platz in jeder Doppelspitze. Im Armenhaus der Welt.“ Kerem Schamberger weiß wovon er schreibt, denn er hat die rätedemokratischen Projekte besucht, die dort inmitten des syrischen Kriegsgetöses aufgebaut werden, hat mit Aktivisten und Funktionsträgern geredet, mit Bewohnern und Kriegsflüchtlingen, mit Bauern, Handwerkern, Lehrern, mit den vielen Frauen vor allem.
„Funke der Hoffnung“
Für ihn ist es keine Frage: In Rojava geht es um das große Ganze, „Für die Türkei und für den Westen, für die Linken in aller Welt und für die Kurden sowieso.“ Greift der Münchner Autor mit dieser Einschätzung nicht doch zu hoch? Schließlich handelt es sich um drei Flecken Land im Norden Syriens, auf denen gerade mal drei Millionen Menschen leben. Doch hier, davon ist nicht nur Schamberger überzeugt, könnte Wegweisendes entstehen: „Eine Gesellschaft, in die sich jeder einbringen kann und in der Frauen und Männer gleichberechtigt sind, eine Gesellschaft, die sich nicht dem Profit unterordnet und die so auch Umwelt und Ressourcen schont – in einer Region, in der man vieles erwartet, nur das nicht. Emanzipation da, wo nicht wenig Männer Zweit- und Drittfrauen haben und wo weder Tradition noch Religion diese Männer davon abzuhalten scheinen, Weib und Schwester zu schlagen, wenn sie es für nötig halten.“
Ob dieser „Funke der Hoffnung“, wie ein Journalist das Rojava-Experiment genannt hat, von den autoritären Potentaten der Region erstickt wird, oder sich zum Leuchtfeuer entwickeln kann, das in der krisen- und kriegszerütteten Region auch anderen den Weg in eine bessere Zukunft weist, steht auf Messers Schneide. Das Wüten des türkischen Militärs in Afrin zeigt, dass Erdogan & Co wissen, was die Stunde schlagen könnte, wenn das basisdemokratische Autonomiemodell der Kurden Schule macht. Und das Berliner Schweigen dazu und die deutschen Leopard-Panzer vor Ort sprechen einmal mehr Bände über die Rolle Deutschlands in diesem schmutzigen Krieg der Türkei gegen die Kurden.
Was gehen uns die Kurden an, fragen die Autoren. Viel, weiß man nach der Lektüre ihres Buches, und auch, dass dieses „vergessene Volk“ mehr Aufmerksamkeit verdient, allein schon der Verstrickungen deutscher Politik und Wirtschaft in die an ihm verübten Menschenrechtsverbrechen wegen. Ebenso sehr aber, weil sich im langen Freiheitskampf demokratische, soziale und ökologische Perspektiven herausgeschält haben, die auch progressiven Leuten hierzulande eine nähere Betrachtung wert sein sollten.
Jürgen Geiger (Fotos: veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Westend Verlag GmbH)
Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018;
ISBN 978-3-86489-207-3; 240 Seiten, 19,00 Euro.