Eine Reise in Chiles blutige Vergangenheit (I)

Christian Hannig hat auf dem Fahrrad die trockenste Wüste der Welt durchquert – die Atacama im Norden Chiles, gelegen zwischen Pazifik und Anden. Hierzulande ist sie am ehesten als Standort der Europäischen Südsternwarte bekannt, aber sie birgt zahlreiche, teils finstere Geheimnisse: Neben jahrtausendealten Kindermumien und Geoglyphen einer erloschenen Kultur stieß der Autor dort, hinter dem Horizont aus Sand und Salz, auch auf Wüsten-KZs und Hinrichtungsstätten aus der Pinochet-Ära.

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Chile! Die Anden, Patagonien, Feuerland, fernab draußen im Pazifik die Osterinseln: Lockrufe aus Bildbänden und Reiseführern. Doch von all den möglichen Zielen habe ich mich für das vielleicht ungewöhnlichste entschieden: die Atacama-Wüste. Der Grund dafür ist das Buch des chilenischen Schriftstellers Ariel Dorfman „Das Gedächtnis der Wüste“. Es soll mich leiten – auch gedanklich.

Unerwartete Anblicke

Nach endlosem Schweben über Wasser, später Urwaldgrün, gefolgt von der Weite der argentinischen Pampa, wachsen fast abrupt Berge empor. Die Schneegipfel unter der Maschine: ein kalter, weißer Gruß der Anden. Sie scheinen mit jeder Minute größer zu werden. Der Pilot hat den Sinkflug begonnen. Als die Bergflanken abflachen und sich unter uns eine Ebene öffnet, fallen mir unzählige kleine Hügel auf, dazwischen Leben, als eilten Ameisen umher. Noch ist die Boeing zu hoch, um Näheres zu deuten. Doch dann, und die Erkenntnis ist schrill: Die Hügel sind Müllberge, das quirlige Leben zwischen ihnen – Menschen! Chile begrüßt seine Gäste mit einem unerwarteten Anblick.

„Schon mal in Chile gewesen?“ Einer der Fragenden hakt nach, möchte mein Alter wissen: „Cuántos años tiene usted?“ Als ich zur Antwort auf meinen grauen Bart zeige, hat der Mann verstanden: „Weit von der Jugend entfernt, sehr weit!“

Fertig montiert, fertig gesattelt. Noch etwas Geld tauschen. Da ist der Ausgang. Vor der Tür wartet Chile!

Bis zum Pazifik sind es nur wenige Minuten. Doch bereits auf der seewärts verlaufenden „Avenida Francisco de Aguirre“ zeigt sich verräterischer Dunst. Die Ahnung wird zur Sicherheit. Der kalte Humboldtstrom schickt seinen Boten: Nebel. Je näher ich der Küste komme, desto dichter wird er. Man muss die „graue Watte“ gesehen haben, um den plötzlichen Wechsel in der Natur zu verstehen. Im Rücken die Wüste, dann unvermutet der Blick auf Grün. Hinter der „Quebrada del Indio“ habe ich bereits einen ersten Eindruck von dieser abrupten Wandlung erhalten. Es ist nur ein schmaler Streifen grünen Lebens entlang der Küste, denn weit ins Land schafft es der Nebel nicht. Vorher verzehrt ihn die Wüstensonne. Aber hier fällt die Sicht fast auf null. Ich bin am Pazifik, und er lässt sich doch nur erahnen.

Laster und Leiden

„Nothing can survive outside the scarce oasis.“ Nichts kann außerhalb der wenigen Oasen überleben. Diese Worte finden sich in den Erläuterungen zu meinem heutigen Ziel, der „Oficina Chacabuco“. Ein hoher Schornstein verrät sie bereits aus der Entfernung. Die Wüste ringsum wirkt wie mit einem überdimensionalen Pflug aufgebrochen. Ungezählte Tonnen Dynamit haben sie zu einem solchen Trümmerfeld gemacht. Schließlich erreiche ich nicht etwa eine der üblichen Salpeterminen, sondern eine ehemalige „Stadt des Nitrats“.

Jahrzehntelang hat das „weiße Gold“ Chile Reichtum beschert, weltweit stiegen die Erträge der Felder – dank des Salpeters, der in unermesslichen Mengen im Boden der Atacama ruhte. Doch dann kam jener Tag, als es Deutschland, das während des Ersten Weltkrieges von Handelsrouten abgeschnitten war, gelang, synthetischen Stickstoffdünger herzustellen. Sozusagen aus der Not geboren, erwuchs dem chilenischen Salpeter ein Konkurrent, dem er hilflos unterlegen war. Das Minensterben in der Wüste begann.

In dieser Phase des Niedergangs baute man, einer neuen Produktionsmethode vertrauend, Chacabuco, eine Oasenstadt für 5.000 Menschen, die einen riesigen Industriekomplex einrahmte. Acht „Chancadoras“, Gesteinsbrecher, zertrümmerten das angelieferte Material, um es für die Weiterverarbeitung vorzubereiten. In 54 „Cachuchos“, großen Becken, sorgten heißes Wasser und Dampf für den Auslaugprozess. 240 gewaltige Eisenschalen dienten der Kristallisierung des Salpetersalzes. Chacabuco stand für Größe, für Masse, für höchste Produktionszahlen. Unter den 130 Salpeterminen, im Zentrum der Atacama angelegt, gab es nichts Vergleichbares. Trotzdem erlosch nach nur 14 Jahren Betrieb das Feuer in den Öfen. Die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre – und letztlich die deutsche Erfindung – bedeuteten das Ende der Supermine.

Und nur weil man inzwischen den Verfall Chacabucos zur totalen Ruinenstadt gestoppt hat, vermag ich nun, durch seine Straßen zu gehen und Rückschau zu halten. Dass sich, als man mit dem Bau der Stadt begann, die Lebensbedingungen der Salpeter-Arbeiter bereits verbesserten, zeigen nicht nur das Gebäude des Theaters mit angeschlossener Bibliothek, die Schule, die Kirche und die Räumlichkeiten für gesellige Anlässe.

Eiserne Gerippe

Ich streife Stunden durch die riesige Anlage – und plötzlich stehe ich vor jenem Teil der Nitratstadt, der eine ganz andere Geschichte erzählt. Den Stacheldraht und die Minen hat man inzwischen entfernt. Ein verdächtiges Detail ist allerdings geblieben: das eiserne Gerippe eines Wachturmes. Nach mehr als dreißig Jahren Verfall kam auf tragische Weise noch einmal Leben nach Chacabuco zurück. General Pinochet, der sich 1973 an die Macht geputscht hatte, nutzte die Stadt als Internierungslager für politische Gefangene. Die langen Reihen der kleinen Wohnungen für die Arbeiter machten den Eindruck von Gefängniszellen – nur ohne Gitter. Eine bedrückende Stimmung schwebte über allem.

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Links der Straße dehnt sich nun die weite „Pampa del Indio Muerto“. Ein Name, der vom Tod kündet. Wer die Landschaft sieht, begreift, dass hier kein Raum für Leben ist. Nach Süden nimmt die Wüste Höhenprofil an, aber die Namen der Berge lügen: „Cerro Mariposa“ (Schmetterling), „Cerro Agua Dulce“ (Süßes Wasser). Auch dort ein Terrain des Todes – nichts als Sand und Fels. Die Natur, ein Schrei nach Leben. Gleich Spinnenbeinen greifen auf meiner Karte jetzt dünne Linien in die Wüste hinein. An ihrem Ende die Namen von Salpeterminen. Ebenfalls nichts als Täuschung: „Tesoro“ (Schatz), „Tres Amigos“ (Drei Freunde), „Flor del Desierto“ (Wüstenrose), hinter den schönen Worten verbarg sich einst das Elend, regierte die Ausbeutung.

Dieser Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus Christian Hannigs Reisebericht „Allein durch die Atacama. Eine Wüste bricht ihr Schweigen. Donat-Verlag, Bremen 2020, 160 Seiten, 34 Abb., 14,80 Euro“. Wir danken dem Verleger Helmut Donat für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. Bilder: 1. Ein Kindergrab in der Wüste, 2. Aufgelassene Wüstenstation „Las Bombas“.


Teil II dieses Textes finden Sie hier.