Eine Reise in Chiles blutige Vergangenheit (II)

Christian Hannig hat auf dem Fahrrad die trockenste Wüste der Welt durchquert – die Atacama im Norden Chiles, gelegen zwischen Pazifik und Anden. Hierzulande ist sie am ehesten als Standort der Europäischen Südsternwarte bekannt, aber sie birgt zahlreiche, teils finstere Geheimnisse: Neben jahrtausendealten Kindermumien und Geoglyphen einer erloschenen Kultur stieß der Autor dort, hinter dem Horizont aus Sand und Salz, auch auf Wüsten-KZs und Hinrichtungsstätten aus der Pinochet-Ära.

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Die nächste Stätte: Man kennt die Gräber alter Atacama-Kulturen mit ihren Beigaben für ein Leben im Jenseits oder für die ersten Schritte nach der Wiedergeburt. Hier scheint eine moderne Nachbildung eines solchen Grabes zu sein: Spielsachen, für Kinder abgestellt, ein kleines Automodell – wohl zur Erinnerung an das zu Schrott gefahrene, ja sogar ein Telefon als Beigabe. Ein Kreuz ragt aus dem Wüstensand, an dem man nicht vorbeifahren kann. Es ist über und über mit Autokennzeichen benagelt, davor im Sand ein paar Schuhe. Am Holz kein Name.

Eine Radtour in die Geschichte

Jeder Kilometer Straße trägt mich tiefer in die Geschichte der Wüste. Es häufen sich die Notizen: „Oficina José Santos Ossa“, „Oficina Pinto“, „Oficina Arturo Prat“ … Doch es sind weniger die Namen der Minen, die sprechen; die Zahlen darunter geben mehr Auskunft: „1916–26, Trabajadores 610“, „1912–1930, Trabajadores 700“. Die Zahlen steigen an: 1.180, 1.658 … Die Schilder belegen, in welchem Jahr die Produktion begann, wann in den Öfen nur noch Asche blieb und wie viele in der jeweiligen Mine arbeiteten. Etwa 60.000 sollen es allein in dieser Region gewesen sein. Dabei wäre es ehrlicher gewesen, auf dem Blech den Begriff „Trabajadores“ (Arbeiter) durch „Destinos“ (Schicksale) zu ersetzen.

Ich stoße auf die ersten Friedhöfe. Der Anblick ist schockierend. Aus der Distanz sieht es aus wie ein riesiger Pferch aus Dornengestrüpp, beim Näherkommen bilden sich Reihen, Gruppen von Grabkreuzen, Linien aus „Stangen“, die einmal Kreuze gewesen sind. Keine Namen, nur vom Wüstenwind sandgeschmirgeltes Holz, von den Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht zernagt und trotzdem von der sengenden Wüstensonne konserviert. Ich stehe tausendfachem anonymem Tod gegenüber.

Beim nächsten Friedhof das gleiche Bild. Wandeln an endlosen Grabreihen entlang, „Alleen des Todes“. Schritte des Schweigens. Eines der Gräber ist geöffnet. In der Tiefe ein aufgebrochener Sarg. Doch was heißt „Sarg“? Ein paar zusammengenagelte Bretter und Latten ergeben eine „Kiste“. So also endete in der Atacama ein Leben. Jedem Grabräuber muss bei diesem Anblick klarwerden: Da ist nichts zu holen. Tief im Wüstensand ruht nur die Armut.

Willkommen in Calama, der Stadt des „roten Goldes“. An einer Fassade ein politisches Vermächtnis. Salvador Allende, der 1973 einem Putsch zum Opfer gefallene Präsident Chiles, bekräftigt hier: Da das Volk die Regierung ist, sei es endlich möglich zu sagen, dass das Kupfer den Chilenen gehört. Allende hatte die Kupferminen, bis dahin in US-amerikanischer Hand, verstaatlicht und damit dem Volk zurückgegeben.

Spuren der Diktatur

Wenn irgendwo in Wüsten ein fremdartiges Gebilde aufragt, kann es sich um ein Funkfeuer der Luftfahrt handeln. Aber was sich mir aus großer Entfernung darbietet, ist etwas anderes. Die vermeintliche Antenne entpuppt sich als ein Kreuz; es muss die Höhe eines Hauses haben. Ich biege auf eine kurze Piste ab, die zu ihm führt. Noch bin ich ahnungslos.

Am Fuße des Kreuzes ein Säulenrund. Stufen führen hinab in einen dachlosen Raum, eine Gedenkstätte, mit Namen auf Steinen. Vermutlich bin ich in diesem Moment horizontweit der einzige Mensch. Im Osten erstreckt sich die „Pampa Llalqui“ bis zu den Anden, im Norden und Westen bis zur Erdkrümmung – ein riesiges Sandfeld der Einsamkeit und Leere. Ich bin allein.

Plötzlich Schüsse, Gewehrsalven, ich sehe zusammenbrechende Männer, wie Kugeln ihre Körper in eine letzte Drehung reißen, sie aufs Gesicht fallen, ein Rest Leben in zuckenden Bewegungen. Dann ist die Stille, die das Peitschen der Schüsse so jäh zerriss, wieder da. Sie flutet den Raum, in dem ich stehe …

Karawane des Todes

Ich bin auf einen jener Todeshügel gestoßen, auf denen General Pinochet politisch anders Denkende hinrichten ließ. Er wählte dafür die Atacama. Zu meinen Füßen eines der Massengräber, die der Diktator den Chilenen als blutiges Erbe vermachte. Die Übersetzung der Gedenktafel lautet: Karawane des Todes. An dieser Stelle, in diesem Grab unter der trockenen Erde der Atacama-Wüste, liegen die 26 Leichen jener Männer, die hier am 19. Oktober 1973 während der Militärdiktatur von einem Kommando der chilenischen Armee exekutiert wurden.

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Die Durchquerung der Atacama, sie ist auch eine Reise auf den blutigen Spuren Pinochets. Wo diese Wüste ihr Schweigen bricht, erzeugt sie Schweigen.

Es existieren keine fundierten Daten über den Preis, den Chile für den Militärputsch zahlte. Als politische Gefangene wurden 27.255 Personen registriert. Mit biographischen Daten sind 3.197 Morde belegt. In beiden Fällen ist die Dunkelziffer vermutlich hoch. Die Angaben zu den Folterungen sind diffus, die Rede ist von „mehreren zehntausend“ Fällen. Ebenso offen ist die Zahl der „Desaparecidos“, jener Personen, die als „verschwunden“ gelten; etwa 2.500 Fälle sind aktenkundig.

General Pinochet, den die Militärjunta nach dem Putsch zu ihrem Vorsitzenden ernannt hatte, entging einer Verurteilung als Massenmörder. Er starb am 10. Dezember 2006.

Dieser Text ist ein leicht bearbeiteter Auszug aus Christian Hannigs Reisebericht „Allein durch die Atacama. Eine Wüste bricht ihr Schweigen. Donat-Verlag, Bremen 2020, 160 Seiten, 34 Abb., 14,80 Euro“. Wir danken dem Verleger Helmut Donat für die freundliche Genehmigung zum Abdruck. Bilder: 1. Armut in Chile. 2. „Die Wüste der Gräber“


Teil I dieses Textes finden Sie hier.