Katalonien: Demokratie statt Nationalismus
Auf den ersten Blick scheint der katalanische Konflikt ein weiteres Beispiel für den wieder erstarkenden Nationalismus in Europa zu sein. Das gängige Stereotyp lautet, reiche Katalanen wollten sich der Solidarität mit dem armen Süden verweigern. Doch tatsächlich liegt der Fall anders. Die Unabhängigkeitsbewegung, die in den letzten sieben Jahren in Katalonien entstanden ist, steht den europäischen Nationalismen in vielerlei Hinsicht diametral entgegen.
Das fängt damit an, dass die Bewegung nicht von Rechtspopulisten, sondern von einem Bündnis aus bürgerlichen Liberalen, Linksrepublikanern und radikalen Linken dominiert wird. Die Mehrheit der Bewegung ist – ähnlich wie die schottische – proeuropäisch, der linke Flügel verteidigt einen klassischen Internationalismus. Omnium Cultural, eine der beiden großen zivilgesellschaftlichen Organisationen der Unabhängigkeitsbefürworter, trägt die Kampagne zur Aufnahme von Flüchtlingen mit.
Und der bürgerliche Ministerpräsident Carles Puigdemont erklärte unlängst in einem „Spiegel“-Interview, man sei stolz darauf, ein Land von Einwanderern zu sein, in dem 70% der Bevölkerung Wurzeln außerhalb der Region hat. Dass die Vorurteile im katalanischen Fall unzutreffend sind, wurde aber vor allemn vergangene Woche manifest, als nach der Verhaftung von 13 katalanischen Regierungsmitgliedern die andalusische Landarbeitergewerkschaft, die linke Strömung in Podemos sowie die in Basisgewerkschaften organisierten Hafenarbeiter von Barcelona aus Solidarität auf die Straße gingen.
Erpressung der Katalanen
Doch woran liegt es, dass Nationalfahnen in Katalonien so anders besetzt sind? Das war keineswegs immer so. Bis Mitte der 2000er Jahre wurde die Region von der bürgerlichen CIU dominiert, einem Bündnis aus liberalen und christdemokratischen Regionalisten, die einen ähnlichen Kurs wie die CSU in Bayern verfolgte: Man betonte die Identität, suchte ökonomische Vorteile und bediente, wenn nötig, rassistische Ressentiments. Von Unabhängigkeit war hingegen keine Rede. Die Lage änderte sich erst, als – an der regierenden CIU vorbei – eine Basisbewegung entstand. Die Transferzahlungen nach Madrid spielten dabei durchaus eine Rolle, denn anders als im deutschen System setzt der Zentralstaat die Zahlungen der Autonomiegemeinschaften einseitig fest und entscheidet auch über deren Verteilung – meist nach recht klientelistischen Kriterien. Viele Katalanen fühlten sich, vor allem in der Krise ab 2008, ökonomisch benachteiligt. Doch weitaus wichtiger als diese finanziellen Aspekte waren die politischen Erfahrungen mit dem Zentralstaat.
Das Besondere an der Situation in Spanien ist darin begründet, dass die Politik der zentralistischen Rechten die bürgerlichen Katalanen und Basken schon seit 100 Jahren nach links treibt. So kämpften katalanische Republikaner und baskische Christdemokraten im Bürgerkrieg 1936-1939 auf der Seite von Anarchosyndikalisten und Sozialisten. Der katalanische Ministerpräsident Lluis Companys bezahlte das mit seinem Leben: Er wurde 1940 von den Franquisten hingerichtet und ist bis heute nicht rehabilitiert. Und dieser Konflikt schwelt seitdem weiter. Während der Diktatur war die katalanische Sprache verboten, der Verfassungspakt von 1978 kam unter massiven Drohungen zustande. Zwar wurde das in Madrid ausgehandelte Bündnis von Ex-Franquisten und Sozialdemokratie auch von den katalanischen Regionalisten unterstützt, aber ein großer Teil der Bevölkerung registrierte durchaus, dass die Militärs immer wieder mit Putsch drohten, falls Katalanen, Basken oder Linken im Verfassungsprozess zu viele Zugeständnisse gemacht würden.
„Wir wollen entscheiden“
Das ist der Hintergrund, vor dem die Situation in den 2000er Jahren erneut eskalierte. Die damals neu gebildete Mitte-Links-Regierung aus PSOE, Linksrepublikanern und Linksgrünen trieb eine föderale Reform des katalanischen Autonomiestatuts voran, scheiterte mit dem Vorhaben jedoch in Madrid. Zunächst beschnitten die Parteigenossen der PSOE den Entwurf, dann kassierte der Verfassungsgerichtshof das Statut ganz. Als Reaktion darauf gingen 2010 eine Million Menschen unter dem Motto „Wir wollen entscheiden“ auf die Straße, überall in Katalonien entstanden Bürgerinitiativen, die lokale Volksbefragungen zur Unabhängigkeit organisierten.
Diese Grass-Roots-Bewegung trieb die Parteien vor sich her. Die regionalistischen Parteien schwenkten nach einigem Zögern auf den Unabhängigkeitskurs ein. Laut Umfragen befürworten heute 80 Prozent der Bevölkerung ein Referendum, was sowohl die PP als auch die oppositionelle PSOE in Madrid mit aller Macht verhindern wollen.
Republikanische Bewegung
Im Moment ist völlig unklar, wo die katalansiche Bewegung hinführen wird. Der Begriff der „Unabhängigkeit“ besitzt heute alle Eigenschaften eines „leeren Signifikanten“ – jeder projiziert die eigenen Wünsche hinein. Für die Einen geht es um die Anerkennung der katalanischen Kultur und ein Ende des zentralistischen Diktats, eine andere, häufig auch von Bürgerlichen geäußerte Interpretation lautet: „Wie wollen wie ein skandinavisches Land werden“: mehr Sozialpolitik und Teilhabe, weniger Korruption.
Sicher ist jedoch, dass die Verbindung von sozialen Kämpfen und Unabhängigkeitsbewegung die katalanische Gesellschaft ordentlich nach links verschoben hat. Die liberalkonservative CIU ist zerbrochen, der liberale Flügel hat sich als „Demokratische Partei“ neu gegründet. Im Parlament hat die katalanische Rechte linken Gesetzesvorhaben unter dem Druck der Straße zugestimmt. Katalanische Gesetze verbieten heute sowohl Zwangsräumungen als auch den Einsatz von Gummigeschossen durch die Polizei. Und die Regierung verspricht auch, dass nach einer Unabhängigkeitserklärung auf Hunderten Bürgerversammlungen über eine neue Verfassung debattiert werden wird. Das ist aus linker Perspektive enorm interessant, denn laut Umfragen liegen die drei Parteien links der spanischen Sozialdemokratie – die linksrepublikanische ERC, die linksalternativen Comunes und die antikapitalistische CUP – bei knapp 50 Prozent.
Dem „leeren Signifikanten“ sind also durchaus fortschrittliche Forderungen eingeschrieben: Die Bewegung ist republikanisch und eher antifaschistisch, sie will die katalanische Sprache stärken, aber erkennt die Mehrsprachigkeit und kulturelle Diversität der Region an, man wünscht sich mehr lokale Selbstregierung und vor allem mehr Sozialpolitik. Sicher stimmt es auch, dass Letzteres eine Illusion bleiben muss, solange sich am neoliberalen Kurs der EU nichts ändert.
Das „Europa der Regionen“, das in Katalonien auch viele linke AnhängerInnen hat, kann unter den Bedingungen heute kaum mehr sein als ein Modell zur Integration von Grenzregionen und zur Verschärfung von Konkurrenz. Man muss allerdings auch zur Kenntnis nehmen, dass viele Linke in Katalonien und dem Baskenland unter dieser „Regionalisierung“ eher so etwas wie eine Konföderation freier Republiken verstehen. Ein Modell, das durchaus in Verbindung mit der kurdischen Selbstverwaltung in Rojava diskutiert wird.
Demokratische Rebellion
Selbstverständlich ist das in Anbetracht der Kräfteverhältnisse erst recht eine Utopie. Die bürgerliche Mehrheit wird dafür sorgen, dass ein unabhängiges Katalonien – falls es wirklich dazu kommt – ein ganz normaler Staat der EU wird. Und doch darf man nicht unterschätzen, was in Katalonien gerade geschieht. Auf der einen Seite macht die spanische Rechte mobil. Franquisten demonstrieren geschützt von der Polizei, in manchen Dörfern wird die Guardia Civil verabschiedet, als sei sie auf dem Weg an die Front.
Auf der anderen Seite gibt es eine demokratische Rebellion, die auch von föderalistischen Linken getragen wird. Bauernorganisationen haben Tausend Traktoren in die Städte geschickt, um Wahllokale zu schützen, Universitäten sind besetzt, 720 von 950 BürgermeisterInnen droht das Gefängnis, Zehntausende haben sich der Polizei vergangene Woche spontan in den Weg gestellt. Eine europäische Linke, die nicht erkennt, dass sie diese Bewegung verteidigen muss, hat von den politischen Verhältnissen auf diesem Kontinent nichts begriffen.
Raul Zelik (www.raulzelik.net)
Hier eine aktuelle Zusammenfassung der Ereignisse in Katalonien. Auch wenn die Grünen das im Namen der marktorientierten Demokratie wegzensieren möchten(?). Es sei nochmal an Marieluise Beck erinnert!
https://www.heise.de/tp/features/Spanische-Regierung-soll-Tote-auf-Strassen-Kataloniens-angedroht-haben-3894651.html?seite=all
Nochmal an
@ Herrn Schmeding:
Sie schwadronieren vom Haus Europas.
Unter Berücksichtigung der leider voraussehbaren Entwicklung, siehe hier:
http://www.tagesschau.de/ausland/katalonien-festnahmen-101.html
– meinten Sie das Zuchthaus Europa?
Rajoy und seine faschistoide Gesinnungsbande wissen sehr wohl, welche Ziele sie verfolgen. Ein Europa der Junckers, Merkels und Macrons mit dem bereits erwähnten Neusprech. (Reformen = die abhängig Beschäftigten noch weiter runterstufen als indonesische Wanderarbeiter zugunsten der Herren Soros, Blankfein und Buffett etc.)
Verzeihen Sie bitte, nebenbei, daß ich in meiner ersten Antwort die vorzüglich-grüne Willkommenskultur Boris Palmers unerwähnt ließ. Was somit nachgeholt wäre.
Für den Fall, dass ich wieder einmal abzugleiten drohe, bitte ich um Entschuldigung, aber ein Thema, das der Konflikt in Katalonien auf dramatische Weise offenbart hat, und das nicht nur in Ausnahmesituationen wie derzeit in Spanien ein Diskussionsgrund weltweit ist, ist die oftmals verharmloste Polizeigewalt, die sich auch in Barcelona und Umgebung wieder drastisch zeigte.
Wie kann es sein, dass Polizeibeamte plötzlich enthemmt zuschlagen, keine Grenzen mehr kennen, wenn Frauen und Kinder an den Haaren gezogen und verprügelt werden, nur, weil sie ihre Meinung äußern wollen? Es bleibt ein Unterschied, ob ich von meiner Obrigkeit dazu aufgefordert werde, mit harter Hand gegen die vorzugehen, die sich angeblich gegen die Verfassung auflehnen – oder ob ich als Polizist am Ende tatsächlich den Schlagstock ziehe.
Auch in Deutschland sind wir nicht sicher vor Polizeigewalt. Nahezu täglich erscheint irgendwo in der Presse ein Bericht darüber, dass Polizisten diskriminierten, mit übermäßiger Gewalt bei Festnahmen vorgingen oder im Einsatz ausrasteten. Nein, das ist nicht die Normalität, aber für Einzelfälle sind solche Vorkommnisse zu brisant, um sie im Abseits der Nachrichtenflut untergehen zu lassen.
Ereignisse wie in Spanien zeigen auf, dass wir es zu leicht hinnehmen, wenn die „Hüter des Gesetzes“ auf Abwege geraten. Ja, Polizeibeamte sind heute häufiger Provokationen ausgesetzt wie früher. Der Respekt vor der Polizei hat abgenommen, es mag menschlich sein, wenn ein Polizist dann auch mal die Geduld verliert. Wir dürfen aber kein falsches Verständnis dort zeigen, wo wir unter anderen Umständen Härte verlangen würden. Denn eigentlich darf das nicht passieren, dass Polizisten grundlos über die Stränge schlagen. Die Vorbildfunktion muss gerade auch in Situationen gewährleistet sein, in denen sich Beamte herausgefordert fühlen. Natürlich muss sich keiner von ihnen alles gefallen lassen. Doch in unserem Rechtsstaat gilt der Grundsatz der „Verhältnismäßigkeit“, auch für Polizisten.
Beharrlich wehren sich manche Innenpolitiker dagegen, Polizeibeamte zu kennzeichnen. Niemand fordert dabei eine namentliche Ausstattung der Polizisten, aber eine eindeutige Möglichkeit zur Identifizierung im Zweifelsfall, denn Prozesse nach Polizeigewalt scheitern heute in der Regel meist bereits daran, dass kein Schuldiger ermittelt werden kann – ganz abseits von den manches Mal nicht nur empfunden geringen Strafen gegen Beamte, wenn sie einmal verurteilt werden sollten.
Wer die Strafen für Taten gegen Polizeibeamte erhöhen will, der muss fragen, warum nicht auch die angehoben werden, bei denen die Gewalt von Polizisten ausgeht. Polizeibeamte stehen im Dienste des Staates, müssen ihren Kopf hinhalten. Doch sie sind durch ihre Stellung nicht ermächtigt, sich alles erlauben zu können. Die große Mehrheit der Polizisten leistet einen vorbildlichen Dienst. Es wäre gerade auch in ihrem Sinne, wenn Ermittlungen gegen „Schwarze Schafe“ aus den eigenen Reihen beschleunigt und eine „Kuscheljustiz“ gegenüber Angeklagten der Exekutive vermieden würde.
Videokameras am Körper sollen helfen, fortan bei Straftaten gegen Polizeibeamte Material in den Händen zu halten, das die Täter überführen kann. Hoffen wir, dass es auch herangezogen wird, wenn der Schuldige der Polizeibeamte ist. Die Maßnahmen gegen Polizeigewalt, sie sollten Thema werden – nicht nur dann, wenn sie uns durch ausufernde Beispiele wie in Katalonien vor Augen geführt werden. Die Tagespolitik ist auch in unseren Landen aufgefordert, mit der Frage ehrlich umzugehen, wie Gewalt aus Reihen der Polizei vermieden werden kann (Anti-Stress- und -Aggressionstrainings verstärken, psychologische Hilfen anbieten, auf gefährdete Beamte präventiv zugehen…) – und wie man sie konsequent sanktioniert, falls sie einmal eingetreten ist.
– aber irgendwie hat mich der Artikel -(und die Kommentare) daran erinnert, dass Baden endlich wieder unabhängig sein sollte von Wirtenberg!
Oder vielleicht doch Wirtenberg von Baden??
zu Tobias Gessel
danke. Das was die spanische Zentralregierung tut, ist völlig verantwortungslos, neben der moralischen Frage zudem unglaublich dumm. Leider macht das deshalb die nationalistischen Seperatisten in Katalonien nicht sympatischer. Die Menschen in ganz Spanien sind emotionalisiert. Sie werden die Zeche zahlen müssen, mich macht das alles wütend und auch traurig.
Es gab sicher Menschen, die abstimmen wollten und das nicht konnten auf Grund der Gewalt, aber dabei zu übersehen, dass ein wirklich großer Teil da nicht hinging, weil sie das Referendum aud siese Weise nicht wollten, da ist dann doch eine getönte Brille vor. Die weiß gekleideten Tausenden auf den Strassen, sind die einzige Hoffnung für Spanien, keine spanischen und auch keine katalonischen Flaggen.
Parlem! Hablamos!
Vom Schmetterling zum Stealth-Bomber
Eine Antwort an Herrn Schmeding zum Thema Katalonien.
Wie Sie eventuell wissen, prallen im Konflikt um Katalonien zwei Elemente des Völkerrechts aufeinander. Das eine ist das Recht auf territoriale Integrität, das andere das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Sie werden zugeben müssen, daß die staatliche Integrität Spaniens geschichtliche Wurzeln hat, die mit Demokratie nicht allzu viel zu tun hat. Es handelt sich um eine parlamentarische Erbmonarchie, die als Krönung den Franco-Faschismus vorzuweisen hat. Diesem Faschismus hat Katalonien die Stirn geboten. Die Autonomie-Zugeständnisse der Nachfolgeregierungen an die Regionen wurden konterkariert durch Verfassungsprozesse speziell der Regierung Rajoy. Was liegt also näher, als auf basisdemokratische Weise die Unabhängigkeit einzufordern?
Es ist nicht unbedingt neu, daß, interessengeleitet, das Völkerrecht ohne Rücksicht auf die Bevölkerung praktiziert wird. Daß Staaten der territorialen Integrität den Vorrang einräumen und dabei über Leichen gehen. Zwei Beispiele dazu: Nordirland und die Krim.
Sie schreiben, „dass der Konflikt um die Unabhängigkeit (nicht nur in Katalonien) für viele Menschen als eine Art Ventil angesehen wird, mit ihren persönlichen Problemen und Konflikten der Vergangenheit umzugehen.“ Sollen sich diese Menschen bei Ihnen entschuldigen dafür, daß Sie zwar die nach oben offene Betrrrroffenheitsskala für Rajoy und Spießgesellen reserviert haben, ihnen gleiche Rechte aber rigoros verweigern? Erlebnisse wie Folterung oder Hinrichtungen zeitigen – potzblitz aber auch – politische Reaktionen. Was tun, wenn, wie Sie treffend bemerken, eine Aufarbeitung in Spanien nicht stattgefunden hat? Warten darauf, daß Rajoy die Garotte oder Steuerschraube (klingt doch schon viel zivilisierter) bis zum Anschlag anzieht?
Vollends zynisch ist Ihr Hinweis auf die 40% Abstimmungsbeteiligung. Es waren Ihre offensichtlichen Sympathisanten, die eine höhere Beteiligung verhinderten durch Beschlagnahmung von Stimmzetteln, Zerstörung dazugehöriger Software, Durchsuchung von Druckereien, Schließung von Wahllokalen, Einsatz von Knüppeln und Gummigeschossen.
Sie sprechen – in neuer Manier – davon,
„dass es sehr viele Menschen in Katalonien gibt, die möchten, dass sich die Politiker endlich auf die wahren Probleme des Landes konzentrieren.… In Europa würde ein Flächenbrand entstehen, der nicht mehr zu löschen wäre (Schottland, Flandern, Korsika, Südtirol, ….). … Jetzt ist die Zeit für Besonnenheit und Vernunft. Katalonien hat seinen Platz in Spanien, im Haus Europas und an der Seite der Gemeinschaft seiner Völker.
Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ein literaturwissenschaftliches Seminar zu George Orwell ebenfalls sehr lehrreich sein kann. „1984“ beschäftigt sich u. a. mit „Neusprech“ – fragen Sie bitte nicht nach meinen Gründen für diese Erwähnung. Vor allem aber hat er zum Thema Katalonien ein zutiefst menschliches wie auch politisches Buch verfaßt.
Zum Schluß noch einige Fragen:
Wären Schottland, Flandern, Korsika, Südtirol und Katalonien in der Lage, Europa so in Brand zu setzen, wie es das Dritte Reich tat? Allein durch die Unabhängigkeit der jeweiligen Regionen? Meine Vermutung geht eher dahin, daß derartige Gebilde der Kapitalverwertung erschwerend entgegenstehen. Was mir sonstwo vorbeiginge.
Die Entwicklung der Grünen zeigt erstaunliche Anpassungsfähigkeit auf. Die Öko-Partei wird vervollkommnet durch Kretschmanns Sympathien für die Automobilindustrie. Die Friedensbewegung ist seit dem Jugoslawienkrieg (J. Fischer) ein alter Hut. Das soziale Gewissen, das bei den Grünen nie so richtig die erste Geige spielen durfte, ist seit der Mitverantwortung für Hartz IV gewissermaßen eingedampft. Auf dem Maidan hat sich Rebecca Harms als Barrikadenbraut für das Azow-Bataillon engagiert. Marieluise Beck schließlich hat einem Organ für Programmbeschwerden im Ö/R Medienbereich den Verfassungsschutz auf den Hals gewünscht.
Würde mich, egal wer, warnen, wenn die Metamorphose vom Schmetterling zum Stealth-Bomber vor dem Abschluß steht? Wenn möglich, würde ich mich vorher auf die Krim verziehen.
„Mehr als 800 Verletzte sind das Ergebnis dieser brutalen Politik der Regierung Rajoy, die das, was sie verhindern will, befördert.“
Die amerikanische Historikerin und Publizistin Barbara Tuchmann hat über diesen Mechanismus ein sehr lesenswertes Buch geschrieben: „Die Torheit der Regierenden“
Falls es tatsächlich zu einer Sezession Kataloniens kommen sollte, wäre das ein perfektes Beispiel für eben diese Torheit.
@ Christina Herbert-Fischer: zu den 42 Prozent Wahlbeteiligung
Das Unabhängigkeitsreferendum wurde bekanntermaßen massiv behindert. Bernhard von Grünberg (SPD) und Andrej Hunko (LINKE) waren als Wahlbeobachter in Barcelona und berichten u. a. folgendes: Das Wahllokal in der Innenstadt von Barcelona wurde von der Polizei gestürmt, die Türen wurden mit Äxten eingeschlagen und die Wahlurnen mitgenommen. Auch durch massive körperliche Gewalt sollten die Menschen vom Wählen abgehalten werden. Als klar war, dass Wählen dort nicht möglich war, versuchten es die Wählerinnen und Wähler in einem anderen Wahllokal, wo – wie andernorts auch – Gummigeschosse eingesetzt wurden.
Andrej Hunko zu den Vorgängen wörtlich: „Ich verurteile sehr deutlich das Ausmaß der Gewalt gegen Wahlwillige in Katalonien. In Barcelona war ich Zeuge der gewaltsamen Erstürmung einer Schule durch die spanische Polizei. Kurz darauf konnte ich den Einsatz von in Katalonien verbotenen Gummigeschossen gegen Demonstranten beobachten. Auch in Girona war das Vorgehen völlig unverhältnismäßig. Unabhängig davon, wie man zu den Unabhängigkeitsbestrebungen und zum heutigen Referendum steht: Demolierte Schulen, brutal erkämpfte Wahlurnen und insbesondere blutüberströmte Wähler/innen können kein Zeugnis eines modernen Rechtsstaats sein.“
Mehr als 800 Verletzte sind das Ergebnis dieser brutalen Politik der Regierung Rajoy, die das, was sie verhindern will, befördert.
zu Max Schmeding
Danke für diesen ausführlichen Kommentar, ich hatte mich gescheut viel zu schreiben. Sie treffen es sehr genau. Die schwierige Wirtschaftslage, obwohl die Wirtschaft gerade dabei war sich zu erholen, und die nicht aufgearbeitete Geschichte der Francozeit sind entscheidende Punkte, die zu der katastrophalen Lage jetzt in Spanien beitragen. Natürlich auch die mangelende Dialogbereitschaft der Regierungen und die damit zunehmende Polarisation in der spanischen Gesellschaft. Seperatismus und Nationalismus richten sich letztlich gegen Europa. Weil Teile der Seperatismusbewegung in Katalonien links sein mögen, wird das Ganze nicht annehmbarer. Mir tun die Menschen leid, die letzlich die Folgen dieser verantwortungslosen Politik von allen Seiten ertragen werden müssen. Ich wünsche mir für Europa eine bessere Poitik, aber nicht mehr Grenzen.
Viele in Katalonien haben sich an dem Referendum nicht beteiligt, weil sie an einer Wahl, die nicht im Einklang mit der Verfassung steht, gar nicht teilnehmen wollten. 90 % von 43 %, die sich an der Wahl beteiligt haben, das ist keine wirkliche demokratische Mehrheit für eine Abspaltung. Für Spanien sind das schwarze Tage, aber es zeigt auch auf, dass viel versäumt wurde und bisher keine Einsicht eingezogen ist, auch und zwar ganz und gar nicht auf Seiten der Zentralregierung.
Es gibt in ganz Spanien Menschen deren Großeltern unter Franco gelitten hatten, das ist bis heute noch nicht aufgearbeitet. Durch die Gesellschaft geht ein Riss, die Zukunft ist ungewiss.
Katalonien ist seit über tausend Jahren mit Aragon verbunden, spätestens seit der Reconquista Mitte des 15. Jh. mit Kastilien. Die Geschichte wird von den katalonischen Nationalisten umgebastelt, damit es passt und der spanische Erbfolgekrieg 1715 wird instrumentalisiert um eine Nationalgeschichte zu erfinden, die, die nationalistischen Ambitionen untermauern soll. Das aber war lediglich ein Krieg der Bourbonen gegen die Habsburger um den spanischen Thron, bei der die Katalanen auf der Seite der Verlierer standen. Mit nationaler Idendität hatte es jedenfalls nichts zu tun. Franco war eine Zäsur, doch die hat nicht nur Katalonien betroffen, sondern die Spanier in allen Teilen des Landes. Die Enkel der Opfer leben im Baskenland, in Andalusien, in Katalonien und überall in Spanien. Ein jenseits der Emotionen vernüftiges Argument für das Brechen der Verfassung und eine Abspaltung Kataloniens heute, ist das nicht. Es trägt aber dazu bei, weil nie wirklich aufgearbeitet, dass es jetzt so ist, wie es ist. Ich hoffe für die Menschen, damit nicht am Ende alle nur leiden und nichts besser ist.
Parlem! Hablamos!
Dem Autor des Artikels ist entschieden zu widersprechen.
Geht es im Konflikt darum, ob eine europäische linke Bewegung die Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens unterstützen sollte? Ist es richtig, von der Izquierda, der Derecha und den Fachistas zu sprechen? Der Autor schwellt in linkmelanchonischen Fantasien, die uns bei diesem Thema nicht weiterbringen.
Ich verstehe das, habe ich doch auch mal so gedacht. Ich wurde zum ersten Mal mit diesem Thema konfrontiert, als ich vor 25 Jahren an der Universität ein literaturwissenschaftliches Seminar über den Roman von Magnus Enzenberger „Der kurze Sommer der Anarchie“ besuchte. Der leonische Sydikalist, Anarchist und Revolutionär Buenaventura Durruti (über den der Roman handelt) war für viele Republicanos Catalanes ein großes Vorbild, lange über den Spanischen Bürgerkrieg hinaus. Noch heute wird Durruti bei vielen Katalanen verehrt (sah ich doch vor einigen Jahren ein Bild Durrutis in der Wohnung eines Freundes in Barcelona).
Die Franco-Diktatur hat den Konflikt verfestigt, vertieft und in vielen Punkten sogar verstärkt. Auch seit dem Übergang zur Demokratie ab 1975 ist es nicht gelungen, das Thema des Regionalismo in Spanien wirklich in den Griff zu bekommen. Dafür seien zwei Probleme an dieser Stelle etwas genauer betrachtet:
(1) Das Problem der nicht verarbeiteten Vergangenheit
Ich bin in Spanien abseits der Tourismushochburgen viel gereist, auch in Katalonien. Meine Eindrücke sagen mir, dass der Konflikt um die Unabhängigkeit (nicht nur in Katalonien) für viele Menschen als eine Art Ventil angesehen wird, mit ihren persönlichen Problemen und Konflikten der Vergangenheit umzugehen. Als ich das letzte Mal vor einem Jahr in Barcelona war, fragte ich einen Taxifahrer (von außen war klar ersichtlich, dass der Fahrer für die Unabhänigkeit ist), warum er denn für die Unahängigkeit sei und er antwortete mir: „Ich bin für die Unabhängigkeit, weil Franco meinen Großvater gefoltert hat.“
Aus dieser weit verbreiteten und häufig zu hörenden Meinung lässt sich schließen, dass in vielen Teilen Kataloniens alte Konflikte nicht verheilt sind. Für ganz Spanien gilt, dass die Regierungen nach der Francozeit (seien es Regierungen der PSOE oder der Partido Popular) es versäumt haben, für eine konsequente Aufarbeitung der Verbrechen des Franco-Regimes gesorgt zu haben. Franco ließ nach dem Krieg Zehntausende Republicanos erschießen und anonym verscharren. In Lagern oder Gefängnissen gebärende Mütter nahm man ihre Kinder weg und gab sie zur Adoption frei. Noch heute haben Tausende (vorwiegend ältere Menschen) keine Kenntnis über ihre wahre Herkunft.
Der in zahlreichen Ländern Lateinamerikas eingeschlagene Weg, über die Einrichtung von Regierungskomissionen für eine konsequente Aufarbeitung von Verbrechen und – soweit möglich – für eine Bestrafung der Schuldigen zu sorgen, hat in vielen Ländern Lateinamerikas für ein Klima der Wahrheit und der Versöhnung gesorgt. Erinnert sei an dieser Stelle an die Arbeit der Rettich- und der Valech-Komissionen in Chile nach der Pinochet-Diktatur oder die Wahrheitskomission in Guatemala. Diesen Weg hat die spanischen Gesellschaft nach der Franco-Zeit nicht beschritten und sehr viele Familien haben bis heute keinen Abschluss gefunden.
(2) Das Problem des Zentralstaates
Den regionalen Unabhängigkeitsbestrebungen in zahlreichen Regionen Spaniens leistete auch der seit Jahrhunderten sehr ausgeprägte Zentralstaat Spaniens Vorschub. Es ist nach der Francozeit nicht gelungen, durch beispielsweise föderalistische Strukturen Regionalregierungen in einen klar umrissenen Staatsaufbau mit klar zugewiesenen Kompetenzen einzubinden. Dafür hat es in den vergangenen Jahren zahlreiche Versuche gegeben, die aber vor allem an den großen Parteien scheiterten.
Frust über die nicht bestraften Taten des Franco-Regimes, Frust über den ungleichen Umgang mit allen Regionen Spaniens seitens der Zentralregierung und letztlich auch der Frust vieler junger Menschen, dass drängende Lebensprobleme nicht gelöst werden, haben zu einen gefährlichen Cocktail aus politischen Stimmungen geführt, die nun in Katalonien zu eskalieren drohen.
Bei allem Verständnis für diese Themen, sagt der gesunde Menschenverstand, dass eine Zentralregierung in Madrid (egal, welcher Colour sie angehört) keiner Region Spaniens erlauben darf, aus dem spanischen Staat auszuscheren. Nach einer möglichen Unabhänigkeit Kataloniens kommen die Basken, die Galizier, die Mallorquiner, …. In Europa würde ein Flächenbrand entstehen, der nicht mehr zu löschen wäre (Schottland, Flandern, Korsika, Südtirol, ….).
Der Autor des Artikels spricht in alter Manier von den Linken und den Rechten. In diesen Tagen wird man in Barcelona als Fachista bezeichnet, wenn man gegen die Unabhängigkeit ist. Spanien muss diesen Konflikt endlich überwinden und zu einer Kultur des Kompromisses finden. Glaubt auch nur irgend jemand, dass es gut ist, eine Volksabstimmung anzuerkennen, an der nur 40% der Bevölkerung teilgenommen hat? Wo es Wahllokale gab mit mehr Ja-Stimmen als registrierte Wähler?
Die Demonstrationen der „schweigenden Mehrheit“ in den letzten Tagen haben gezeigt, dass es sehr viele Menschen in Katalonien gibt, die möchten, dass sich die Politiker endlich auf die wahren Probleme des Landes konzentrieren. Darauf, dass 50% der Jugendlichen nach dem Schulabschluss keinen Job finden, darauf, dass Ingenieure, Architekten und Mathematiker nach 5 Jahren Studium nicht mal einen Job als Kellner finden, darauf, dass eine ekzessive Landwirtschaft in den Küstenregionen (vor allem der massive Wasserverbrauch) die natürlichen Lebensgrundlagen zerstören, darauf, dass der (deutsche & englische) Tourismus in Katalonien Menschen aus den Städten verdrängt u.v.m ……
Mit einer Unabhänigkeit Kataloniens wird kein einziges dieser Probleme gelöst. Ganz im Gegenteil: Der bereits angekündigte Wegzug von drei großen Firmen aus Katalonien, ein wahrscheinliches Downgrading der Ratingnoten, dem Ausschluss aus der Eurozone ….. werden die ökonomischen Probleme des Landes verschlimmern.
Jetzt ist die Zeit für Besonnenheit und Vernunft. Katalonien hat seinen Platz in Spanien, im Haus Europas und an der Seite der Gemeinschaft seiner Völker
Es ist ein Trauerspiel, das Verhalten der spanischen Regierung und der Seperatisten. Mir tut Katalonien leid und mir tut Spanien leid, nicht die Regierungen, aber sehr wohl die Menschen.
Wir brauchen ein geeintes starkes Europa und Frieden für diese verrückte Welt. Ich hoffe nur, dass sich alle Seiten besinnen.
Ergänzend
‚“Wir brauchen eure Hilfe“
Einen Hilferuf an die internationale Gemeinschaft hat auch die Bürgermeisterin von Barcelona gerichtet, die keine Unabhängigkeitsbefürworterin ist. Sie forderte alle Menschen außerhalb Kataloniens auf, „den Konflikt ohne Vorurteile zu analysieren“. Der spanischen Regierung warf sie vor, „perverse Fiktionen“ zu pflegen, wenn ein friedlicher Generalstreik als „Nazi-Streik“ bezeichnet, von „Totalitarismus“, einem „zerstörten Zusammenleben“ und einer „eingeschüchterten Bevölkerung“ durch „gewalttätige Separatisten“ fabuliert werde. Es handle sich um eine „falsche und verzerrte Darstellung“, die von der spanischen Rechten geschaffen werde. Man dürfe nicht erlauben, dass die „Menschen unten“ gespalten werden. „Das dürfen wir nicht zulassen. Die haben uns geschlagen. Die haben uns verletzt.“ Es werde nicht leicht sein, das zu vergessen. „Wir brauchen eure Hilfe“, richtet sie sie einen Aufruf an alle Demokraten. ‚
https://www.heise.de/tp/features/Expertenteams-Gut-geplante-militaeraehnliche-Operation-in-Katalonien-3851076.html