Noch ein vergessener Krieg

In der pakistanischen Provinz Belutschistan tobt seit vielen Jahren ein unerklärter Krieg der Regierung und des Militärs gegen die Zivilbevölkerung, die für mehr Autonomie kämpft. Menschen verschwinden und werden Tage oder Monate später mit Folterspuren und einer Kugel im Kopf am Straßenrand wieder aufgefunden. Über den Krieg in einer bettel­armen Weltgegend sprach seemoz mit einem politisch engagierten Belutschen, dem nur die Flucht aus der Heimat blieb.

Wo Belutschistan liegt, weiß hierzulande kaum jemand, obwohl dort seit Langem ein Konflikt ausgetragen wird, der tausende Menschenleben gekostet hat. In der zu Pakistan gehörenden Provinz verlangt die Mehrheit der Bevölkerung mehr Selbstbestimmung oder fordert gleich einen eigenen Staat. Die Belutschen wollen stärker an den Erträgen der Provinz beteiligt werden, die trotz ihrer natürlichen Reichtümer das Armenhaus Pakistans ist. Die Regierung in Islamabad geht mit allen Mitteln gegen solche Bestrebungen vor, zumal sie dem an Afghanistan und den Iran grenzenden Gebiet strategische Bedeutung im Machtpoker der Großmächte zumisst. Bis heute wirkt außerdem das Trauma der Abspaltung Bangladeshs nach, eine Wiederholung will man mit allen Mitteln verhindern.

Willkürlich gezogene Grenzen

Die Wurzeln des Konflikts reichen weit in die Geschichte zurück. Heute leben die Belutschen in drei verschiedenen Ländern – im Westen Pakistans, im Süden Afghanistans und im Südosten des Irans. Die Grenzen, die ihr Siedlungsgebiet zerteilen, wurden dabei oft willkürlich gezogen. „Ich bin in einer absurden Situation“, sagt unser belutschischer Gesprächspartner, der aus dem pakistanischen Teil stammt. „Meine Familie besitzt viel Land, aber ich kann es nicht in Besitz nehmen, weil es in einem anderen Staat liegt, im Iran. Ich kann nicht mal alle Mitglieder meiner Familie besuchen, weil dazwischen eine Grenze liegt. Das ist eine ganz persönliche Folge dieser unnatürlichen Grenzziehung. Dabei haben wir Belutschen eine jahrtausendealte eigenständige Kultur und Geschichte und immer unabhängig gelebt.“

Tatsächlich verfügte Belutschistan zur Zeit der britischen Besetzung Indiens (wozu auch das heutige Pakistan gehörte) über eine recht selbständige Struktur mit Stammeschefs, über denen eine Art König thronte. Im 19. Jahrhundert begann dann das „Great Game“ zwischen dem Empire und dem zaristischen Russland, das seinen Einfluss nach Süden ausdehnen wollte. Ein Ergebnis dieses Machtkampfs ist die „Durand-Linie“, eine 1893 von britischen Interessen diktierte Grenze zwischen den heutigen Staaten Afghanistan und Pakistan, die Siedlungsgebiete von Paschtunen und Belutschen zerschnitt und die britischen Kolonien gegen das verfeindete Afghanistan und gegen Russland absichern sollte.

Annektion durch Pakistan

Nach dem Zweiten Weltkrieg musste Großbritannien sein Kolonialreich in die Unabhängigkeit entlassen. Die indischen Besetzungen wurde in zwei Staaten geteilt, die man über Religionszugehörigkeiten definierte: Pakistan sollte Muslime beheimaten, Indien waren Hindus und andere Glaubensrichtungen zugedacht. Konflikte waren dadurch vorprogrammiert; allein die von der am 14. August 1947 vollzogenen Teilung ausgelösten großen Wanderungsbewegungen kosteten etwa 750 000 Menschen das Leben.

Im pakistanischen Belutschistan verstand man sich zu diesem Zeitpunkt weitgehend als eigenständige Nation innerhalb des neugeschaffenen Pakistans – der Khan von Kalat rief am 15. August 1947 einen eigenen belutschischen Staat aus. Das böse Erwachen für die Belutschen kam nur neun Monate später: Im Frühjahr 1948 besetzte pakistanisches Militär das Land, es wurde zu einer Provinz des Bundesstaates.

Von Beginn an regte sich in Belutschistan Widerstand gegen die Annektion, der besonders in den fünfziger bis siebziger Jahren mehrfach in Aufständen mündete. Pakistan verstand sich bald als erste islamische Republik der Welt, was in der Provinz Belutschistan eher mit Desinteresse zur Kenntnis genommen wurde. Zwar war man mehrheitlich muslimisch, fühlte sich aber dem Familienverband und einem der rund 25 bis 30 Stämme verbundener als einer Religionsgemeinschaft.

„Die Teilung Britisch-Indiens nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte auf der faschistischen Idee religiöser Reinheit. So konnte sich Pakistan als Nachfolger des untergegangenen Otomanischen Reiches präsentieren“, resümiert unser Gesprächspartner. „Die Kinder lernen in der Schule, dass Pakistan das einzige Land sei, das wirklich auf dem Islam gründe. Die Menschen in Pakistan sind nicht sehr gebildet und glauben das.“ Wer, wie die meisten Belutschen, eine kritischere Sicht auf das Land hat, wird als minderwertig abgestempelt.

Widerstand vielfältig, aber zersplittert

Heute ist Belutschistan, etwa so groß wie Deutschland, die größte Provinz Pakistans; sie nimmt 44 Prozent der Gesamtfläche ein, stellt mit ihren rund acht Millionen Einwohnern jedoch nur fünf Prozent der Bevölkerung. Es ist die ärmste Region des Landes, in der unter wüstenähnlichen Umständen bis heute vor allem prekäre landwirtschaftliche Subsistenzwirtschaft betrieben wird. Dabei ist das Gebiet reich an Bodenschätzen wie Öl, Gas, Kupfer, Kohle, Platin und Gold und verfügt zudem mit dem Hafen Gwadar über einen strategisch günstig gelegenen Umschlagplatz nahe dem Ausgang des Persischen Golfs.

Von der Ausbeutung des natürlichen Reichtums der Provinz profitiert jedoch fast nur das pakistanische „Establishment“ (wie die herrschende Kaste im Land genannt wird), für die einheimische Bevölkerung fällt kaum etwas ab. „Wir haben kaum Trinkwasser, Elektrizität und Straßen, es gibt nur wenige Schulen und gerade mal eine Universität“ beschreibt unser Gesprächspartner die Zustände in seiner Heimat. Fast ein Drittel der Bevölkerung lebe in absoluter Armut.

Ein Grund für das Wiedererstarken der militanten Opposition in den letzten 15 Jahren ist denn auch, dass der Ressourcenreichtum Belutschistans nur der Zentralregierung, nicht aber der Provinz selbst zugute kommt. Getragen wird die Bewegung vor allem von Gruppen, die angesichts der permanenten Unterdrückung friedliche und demokratische Mittel als gescheitert betrachten. Obwohl das Gebiet für die afghanischen Taliban immer ein wichtiger Agitations- und Rückzugsraum war, spielt Religion kaum eine Rolle – die Gruppen sind nationalistisch und säkular, teils auch marxistisch eingestellt. Der Widerstand bleibt aber zersplittert, ein politisches oder militärisches Gesamtkonzept fehlt ebenso wie ein einheitliches Ziel.

Der derzeitige Aufstand begann 2002“, erklärt unser Gesprächspartner. In diesem Jahr habe die Regierung die Wahlanforderungen in Belutschistan geändert. „Für eine Kandidatur war jetzt ein Hochschulabschluss oder ein Abschluss an einer religiösen Schule (Madrasa) erforderlich“. Auf kaltem Weg schloss Islamabad so wichtige Anführer der Belutschen mit zum Teil jahrzehntelanger politischer Erfahrung von der Wahl aus, islamische Kräfte, die an Autonomiebestrebungen desinteressiert sind, konnten die Macht in der Provinzregierung übernehmen. Den Belutschen wurde damit eine wichtige politische Mitsprachemöglichkeit genommen und ihr Widerstand in die Illegalität abgedrängt. Die Zahl der Angriffe auf Regierungseinrichtungen, aber auch auf ausländische Arbeitskräfte in Belutschistan erhöhte sich seitdem, es kam zu Schießereien, Bombenanschlägen und sogar einem Raketenangriff auf pakistanische Regierungsmitglieder.

Folter und Mord

Militär und Regierung reagieren auf das Aufflammen des Widerstands mit massiven Attacken und Menschenrechtsverletzungen. Armee und paramilitärische Trupps verüben Angriffe auf ganze Dörfer und ermorden Politiker und Aktivisten. So wird 2006 Nawab Akbar Bugti, Chef des Bugti-Stammes und ehemaliger Gouverneur, bei einer Militäraktion in den Bergen getötet. Menschen verschwinden am helllichten Tag und werden später gefoltert und ermordet am Straßenrand aufgefunden. Schätzungen gehen von mehr als 20 000 Todesopfern der brutalen Regierungspolitik aus. Belutschische Aktivisten sprechen gar davon, die Verhältnisse in ihrer Heimat seien schlimmer als die in Syrien oder dem Irak. Bis heute ist keiner der zahlreichen Morde aufgeklärt, denn die Täter sitzen in den Reihen von Polizei, Armee und Geheimdiensten. Die nationale und internationale Presse schweigt, auch weil Reporter daran gehindert werden, die Provinz zu bereisen, und der Beruf des Journalisten in Pakistan ohnehin zunehmend lebensgefährlich ist.

Auffällig ist, dass neben Politaktivisten immer mehr unbeteiligte Personen verschwinden. Weil der Widerstand nicht mehr nur von ländlichen Stammesangehörigen getragen werde, sondern zunehmend auch Unterstützer in einer breiteren städtischen Mittelschicht habe, versuchten nach den Angaben unseres Gesprächspartners die Machthabenden, die intellektuelle Elite der Provinz auszurotten, ob politisch aktiv oder nicht. „Auch in meiner Familie sind Menschen verschwunden“ berichtet er, „ich selbst wurde mehrfach verhaftet und gefoltert. Ich wurde immer wieder bedroht: ‚Wir wissen, wo Deine Familie lebt‘.“

Westen schaut weg

Das brutale Vorgehen gegen Belutschen kann sich das pakistanische Establishment nicht zuletzt deshalb leisten, weil die westliche „Wertegemeinschaft“ dazu schweigt. Zu wichtig scheint den USA und der EU offenkundig die Rolle Pakistans als Verbündeter in den Machtkämpfen um die Rohstoffe des Mittleren Ostens, was Islamabad weidlich ausnutzt. Westliche Energiekonzerne profitieren zudem direkt oder indirekt selbst vom Ressourcenreichtum Belutschistans, Teams aus aller Welt erkunden die Öl-, Eisenerz-, Kupfer-, Kohle-, Gold- und Platinvorkommen.

Das Auswärtige Amt konstatierte im Mai 2017 etwa, die Zahl der in Pakistan tätigen deutschen Unternehmen sei in den vergangenen Jahren stetig angewachsen. „Vor allem in den Bereichen Energie und Infrastruktur steigt das Interesse der deutschen Wirtschaft am pakistanischen Markt“. Doch auch China mischt in der Region kräftig mit. Peking hat sich zahlreiche Ausbeutungsrechte, unter anderem für Gold und Kupfer, gesichert und investiert kräftig in den Ausbau des Hafens von Gwadar. Belutschische Aktivisten sprechen mittlerweile von einer Kolonialisierung, von der nicht die bitterarme Provinz, sondern das pakistanische Establishment profitieren werde.

Nicht verwunderlich, dass angesichts der Verhältnisse im Land die Zahl der Menschen steigt, die aus Belutschistan fliehen – nicht nur in die Nachbarländer, sondern mittlerweile auch in die Emirate, nach Nordamerika und Europa. Verlässliche Zahlen, wie viele Belutschen in Deutschland Asyl suchen, gibt es nicht, da hierzulande nur die Herkunftsnationen, in diesem Fall Pakistan, statistisch erfasst werden, Schätzungen sprechen aber von ca. 150 Asylsuchenden.

Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es für Belutschistan? Unserem Gesprächspartner scheint eine rein innerpakistanische Lösung unwahrscheinlich. Wichtig sei es, den Konflikt in den Fokus der Weltöffentlichkeit zu rücken und für internationale Solidarität mit der belutschischen Bevölkerung zu sorgen. „Wenn es eine Lösung gibt, dann nur, wenn die Vereinten Nationen oder große westliche Staaten und China Druck ausüben. Bis dahin wird das Töten weitergehen.“

U. Fornaschon/J. Geiger

Kongress in Berlin

Das Baloch National Movement veranstaltet am 11. August in Berlin ein Seminar zu „China’s One Belt One Road and Balochistan“. Thema ist das wirtschaftliche Engagement Chinas in Belutschistan, das nach Ansicht der Veranstalter nur dem pakistanischen Establishment, nicht aber der Provinz Belutschistan zugute kommt. Der Hafen Gwadar etwa wurde auch mit Geld aus China ausgebaut und spielt eine wichtige Rolle in Zukunftsplänen zum Ausbau der chinesischen Verbindungen nach Europa und in den Nahen Osten, er soll Ausgangspunkt eines neuen ökonomischen Korridors nach Westchina werden, der Transportwege erheblich verkürzt („Neue Seidenstraße“).

10-18 Uhr, An der Schillingbrücke 4, 10243 Berlin. www.cpecbalochistan.com