„Sie sollten alle Chancen haben“

seemoz-Refugees-MelillaUrsel Maurer-Härle kümmert sich seit Monaten um Flüchtlinge, die im Landkreis Ravensburg gestrandet sind. Ungeschminkt berichtet sie im seemoz-Interview vom Los ihrer Schützlinge, deren Porträtfotos wir nicht zeigen und deren Namen verfremdet sind: Die Angst vor der Abschiebung ist riesengroß.

Beide sind sie aus Afrika geflohen, weil sie dort keine Lebensmöglichkeit fanden. Wie war ihr Weg nach Europa, wie lange dauerte er, welche Risiken mussten die Flüchtlinge überwinden?
Sie kamen im letzten Frühjahr nach Deutschland. Simon entschloss sich, sein Land zu verlassen, weil er trotz einer Fachschulausbildung immer nur befristete Beschäftigungsmöglichkeiten (als Transportarbeiter, als Erntehelfer und als Security-Mann) fand, die ihm lediglich ein Existieren am Rande seiner Gesellschaft (Schlafen bei Verwandten und Freunden, wenig Geld für Essen und Kleidung) erlaubten. Vor allem die schlechten Zukunftsaussichten brachten ihn nach jahrelangem Zögern dazu, sich auf den weiten Weg nach Europa zu machen, der ihn teils zu Fuß, teils als Mitfahrer von Lastwagen, teils auf Ladeflächen abenteuerlich überladener Geländefahrzeuge durch den Norden Nigerias und durch die Wüsten des Staates Niger zunächst nach Algerien führte. Dort wollte er eigentlich bleiben. Da den Schwarzen in Algerien der Zugang zum legalen Arbeitsmarkt aber verwehrt ist, bleiben nur Bettelei, schlecht bezahlte Tagelöhner-Arbeiten und die Prostitution als Verdienstmöglichkeiten. So machte er sich nach einigen Monaten in Algerien auf den Weg nach Melilla, der spanischen Enklave im Norden Marokkos.

eine berüchtigte Grenze, an der es schon oft Tote und Verletzte gab
Leider wahr. Zunächst verbrachte er einige Monate in den Wäldern des Monte Gurugu, dem berüchtigten illegalen Kamp der Schwarzafrikaner, die dort auf eine günstige Gelegenheit warten, die gefährlichen Grenzbefestigungen zu überwinden, welche Melilla gegen den Rest Afrikas abschotten (sieben Meter hohe Doppelzäune, gesichert durch messerscharfen Natodraht, siehe Bild, d. Red.) und marokkanische und spanische Wachsoldaten, die – von der EU dafür bezahlt – durchaus auch von Knüppel und Schusswaffe Gebrauch machen).

Mit viel Mut und Glück schaffte er es zusammen mit einigen dutzend Kameraden, nach Melilla zu kommen. Nach einigen Monaten Wartens in Melilla, betreut von dort tätigen Hilfsorganisationen, wurde er auf spanische Festland verfrachtet, wo er sich dann selbst überlassen wurde. (Der spanische Staat lässt offenbar die in Spanien gelandeten Migranten weitgehend in Ruhe, Zugang zum legalen Arbeitsmarkt und zu den sozialen Einrichtungen des Staates haben sie allerdings nicht. Asyl in Spanien zu beantragen scheint praktisch unmöglich zu sein) Für ein halbes Jahr konnte er bei einer Verwandten unterkommen. Die geringen Aussichten, in Spanien wirtschaftlich Fuß zu fassen, brachten ihn auf seine vorläufig letzte Etappe seines langen Wegs aus dem Herzen Afrikas.

Und der andere Kamaruner hatte mehr als nur wirtschaftliche Probleme?
Mein anderer Kameruner arbeitete als Lehrer. Nicht wirtschaftliche Gründe, sondern seine Homosexualität zwangen ihn, das Land zu verlassen. Homosexuelle Kontakte sind in Kamerun gesetzlich verboten und werden mit Gefängnisstrafe geahndet. Rodrigue verschwand deshalb für einige Monate in einer Gefängniszelle, wo er unter unmenschlichen Bedingungen hausen musste. Ein Bekannter kaufte ihn frei – Kamerun ist eines der Länder mit der höchsten Korruptionsrate – und gab ihm das Geld für ein Touristenvisum und einen Flug in die Türkei. Dort tauchte er, nachdem das Touristenvisum abgelaufen war, unter und arbeitete als illegaler Arbeiter in einer Teppichfabrik.

seemoz-Container-UnterkunftNach 13 Monaten hatte er die Summe von 3000 Euro für die Weiterreise zusammen gespart: Mit dem Schlauchboot von Izmir auf die griechische Insel Chios, von dort nach Athen, in Athen nochmals einige Wochen schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs, dann nahm er die Balkan-Route mit dem Ziel Frankreich. In Deutschland angekommen, lief er einer Polizeistreife in die Arme, die ihm nahe legte, Asyl zu beantragen, ansonsten käme er sofort ins Gefängnis. So landete er im Erstaufnahmelager in Karlsruhe und nach einigen Wochen in einer Container-Unterbringung im Landkreis Ravensburg.

Schließlich in der Gemeinschaftsunterkunft angekommen, gab es kaum eine Perspektive für sie. Bekamen sie Hilfe, haben sie Chancen auf einen Arbeitsplatz?
Was heißt Perspektive? Die Asylbewerber warten erst einmal auf die Durchführung des Asylverfahrens. Die Aussichten für Schwarzafrikaner, in Deutschland Asyl zu erhalten, sind nicht gut. Homosexualität kann ein Grund sein. Aber ob den Aussagen Glauben geschenkt wird, ist fraglich und oft anscheinend auch demütigend. Und wirtschaftliche Gründe, die Hoffnung auf ein besseres Leben, gelten in Deutschland nicht als Grund, Menschen aus anderen Ländern aufzunehmen.

Zudem versteckt sich Deutschland in den meisten Asyl-Verfahren hinter „Dublin zwei“. Gemäß dieser Regelung können Asylsuchende in Europa nur in dem Land, in dem sie als erstes europäischen Boden betreten haben, Asyl beantragen. Im Falle meines einen Betreuten heißt das, dass er höchstwahrscheinlich nach Spanien abgeschoben wird, wo er dann auf die Hilfe von Nicht-Regierungsorganisationen angewiesen sein wird. Im Falle des homosexuellen Lehrers wird wohl Deutschland das Asylverfahren durchführen, da nach Griechenland – trotz „Dublin zwei“ – derzeit nicht abgeschoben wird.

Aber ihr Leben hierzulande könnte lebenswerter sein?
Beide beschweren sich nicht über die Container-Unterkunft, trotz Dreifachbelegung der kleinen Zimmer. Sie sind froh, einen Platz zum Schlafen zu haben. Außerdem gibt es viele ehrenamtliche Helfer, deren Freundlichkeit und Offenheit von den Asylbewerbern gelobt und geschätzt wird. Sehr belastend ist jedoch die Unsicherheit, ob sie in Deutschland bleiben dürfen und was kommt, wenn sie unser Land verlassen müssen.

Als Lehrer und Elektriker – Mangelberufe in Deutschland – sollten Sie Beschäftigungs-Möglichkeiten zuhauf haben. Woran hapert es?
Für die Dauer des Asylverfahrens haben die Flüchtlinge Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt. Sollte das Asylverfahren positiv abgeschlossen werden, gilt dies selbstverständlich auch, so lange eine Aufenthaltserlaubnis besteht. Und auch bei negativem Abschluss des Asylverfahrens besteht rechtlich die Möglichkeit, bis zur Abschiebung zu arbeiten. Diese Rechtslage kann sich jedoch jederzeit ändern – je nachdem wie sich die politische Willensbildung weiterentwickelt. Der grundsätzliche Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt ist also zumindest temporär offen.

In ihrem Beruf können beide dennoch nicht arbeiten, weil sie erstens die deutsche Sprache noch nicht gut genug beherrschen (obwohl beide in den letzten Monaten mit Hilfe der Ehrenamtlichen und mit Eigeninitiative viel gelernt haben). Zweitens müssten die ausländischen Schulabschlüsse hier in Deutschland anerkannt werden, was offenbar nahezu unmöglich ist: Ganz praktisch hapert es daran, dass bei beiden sämtliche amtliche Papiere auf der Flucht abhanden gekommen sind. Und selbst, wenn ausländische Zeugnisse vorgelegt werden können, werden diese in Deutschland offenbar selten als gleichwertig mit deutschen Bildungsabschlüssen anerkannt. So träumen meine beiden Kameruner davon, in Deutschland eine Ausbildung machen zu dürfen, sei es als Handwerker, als Altenpfleger oder als Sozialarbeiter.

Was sind die größten Hemmnisse bei der Integration solcher Flüchtlinge? Welche Chancen, welche reellen Aussichten gibt es für Flüchtlinge wie diese?
Ich sehe eigentlich keine Integrationshemmnisse, wenn die Flüchtlinge bereit sind, die deutsche Sprache in Wort und Sprache zu lernen. Die Aussicht, als Asylbewerber anerkannt zu werden, sind bei beiden unterschiedlich groß. Lässt man sie – obwohl sie kein gesichertes Aufenthaltsrecht in Deutschland haben – trotzdem hier weiter leben, lernen sie weiterhin fleißig deutsch und schaffen sie es, eine Ausbildung zu absolvieren, dann haben sie gute Chancen, sich in Deutschland zurecht zu finden.

hpk