Türkei: „Überall ein Klima der Einschüchterung“

Als Wahlbeobachterin war Heike Hänsel in der Türkei. Die Politikerin aus Baden-Württem­berg ist stellvertretende Vorsitzende der Linken-Fraktion im Bundestag und verfolgte die Abstimmung zum türkischen Ver­fassungs­referendum am letzten Sonntag vor Ort. Ihre Einschätzung: „Das Ergebnis muss schnellstens annulliert werden“. Unser Telefon-Kurzinterview mit Heike Hänsel:

Sie haben in den letzten Tagen in den kurdischen Gebieten der Türkei den Wahlkampf und letztlich auch die Abstimmung beobachtet. Sind Ihnen Unregelmäßigkeiten aufgefallen, wie sie von der OSZE und anderen gemeldet wurden?
Dazu hatten wir gar keine Möglichkeit, denn die Wahllokale durften wir nicht betreten. Anders als das Militär und die Polizei, die mit starken Kräften vor Ort waren und selbst noch in den Wahllokalen vereinzelt Personalien aufnahmen – ein klarer Verstoß gegen international geltende Wahlvorschriften: Selbst zum Schutz der Wahllokale dürfen Sicherheitskräfte nicht in die Wahllokale. Einer Manipulation waren also überall und jederzeit Tor und Tür geöffnet.

Immerhin herrscht noch der staatlich verordnete Ausnahmezustand in der Türkei …
Richtig. Und das Klima der Einschüchterung war überall spürbar, Noch am Wahltag wurden Politiker der Oppositionsparteien HDP und CHP verhaftet, neben den bereits 28 kurdischen Bürgermeistern, deren Stadtverwaltungen jetzt von der AKP zwangsverwaltet werden. Folgerichtig hat die CHP, keineswegs eine linke Partei, jetzt einen Antrag auf Annullierung der Abstimmung gestellt. Einem Antrag, dem ich mich nur anschließen kann.

Die Kritik von OSZE und EU ist lautstark. Aber helfen Worte allein?
Natürlich nicht. Was jetzt nötig ist, sind konkrete Maßnahmen gerade auch aus Berlin. Es reicht nicht, die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abzubrechen – es sollten z. B. die Beitritts-Hilfen eingestellt werden. Denn immer noch erhält die Türkei jährlich 600 Millionen Euro solcher Hilfsgelder.

Sie fordern eine deutlich stärkere Reaktion der Bundesregierung?
Unbedingt. Die Bundeswehr-Einheiten müssen aus der Türkei unverzüglich abgezogen, die Rüstungsexporte in die Türkei sofort gestoppt werden. Jegliche Unterstützung für das Erdogan-Regime muss beendet werden, das gilt auch und besonders für die Hilfsleistungen im Rahmen des Flüchtlingsdeals.

Dennoch: Die Flüchtlingswelle aus der Türkei wird nicht abebben. Nur, dass es jetzt keine Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak sein werden, die über die Türkei einreisen, sondern türkische Kritiker und Oppositionelle.
Wir planen einen Solidaritätsfonds nicht nur für die, die jetzt unweigerlich kommen werden, sondern vor allem für jene, die bei uns bereits Schutz gefunden haben: Wissenschaftler, Lehrer, Gewerkschafter, die hier ohne Geld und ohne Hilfe vor dem Nichts stehen. Die müssen schnellstens unterstützt werden. Und da kann jeder helfen – auch unsere Freundinnen und Freunde aus Konstanz.

hpk

Heike Hänsel 2015 bei ihrem Besuch in der Flüchtlingsunterkunft in der Konstanzer Steinstraße.