Unterdrückung und Revolution
Eine Veranstaltung, die Eindruck hinterließ bei den mehr als 70 BesucherInnen, die an diesem verregneten Samstagabend den Weg in die Konstanzer Spiegelhalle gefunden hatten. Zusammen mit dem Stadttheater und seemoz hatte das Solidaritätsbündnis Rojava Kerem Schamberger (im Foto rechts) und Michael Meyen eingeladen, ihr im September erschienenes Buch über Herkunft, Geschichte und Gegenwart der Kurden vorzustellen.
Den Autoren, beide Kommunikationswissenschaftler an der Münchener Universität, gelingt es, das Publikum mit ihrer Mischung aus Lesung und Vortrag von der ersten Minute an zu fesseln. Das hat natürlich mit dem Buch selbst zu tun. Sie hätten, erklärt Kerem Schamberger, die Geschichte dieses größten staatenlosen Volkes der Erde nicht in einem „trockenen Faktenbuch“ erzählen wollen, sondern aus dem Blickwinkel von zwölf Personen, AktivistInnen, JournalistInnen, WissenschaftlerInnen, die in unterschiedlicher Weise mit der „kurdischen Frage verbandelt sind“.
Dieser Kniff, Geschichtswissen gewissermaßen über den Umweg der Reportage zu vermitteln, funktioniert, wie das Kapitel zeigt, aus dem Michael Meyen, übrigens bestallter Professor, liest. Es handelt vom türkischstämmigen Wissenschaftler Ismael Küpeli aus Duisburg – dorthin mussten die Eltern in den 80er Jahren fliehen –, der über den Umweg seines Engagements in der deutschen Antifa zuerst auf die Grauen Wölfe und sodann auf die kurdische Frage gestoßen wurde. Küpelis Erkenntnis nach jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema: Wer die Verfolgung der KurdInnen verstehen will, muss die Vergangenheit erforschen.
Die Aufteilung der Mittel-Ost-Region durch die Siegermächte des Ersten Weltkriegs etwa, die zur Errichtung der „modernen“, nationalistischen Türkei auf den Trümmern des multiethnischen Osmanischen Reichs führte. Auf der Strecke blieben dabei zahlreiche Minderheiten, denen Staatsgründer Mustafa Kemal das Türkentum aufzwingen will. Wer sich nicht assimilieren lässt, soll der Vernichtung anheim fallen. Am härtesten trifft das – neben den Armeniern – den kurdischen Bevölkerungsteil, der sich seitdem – mal mehr mal weniger – Repressionen des türkischen Staates ausgesetzt sieht, bis hin zu offenem Krieg.
Die Rechnung geht indes nicht auf, dafür gibt es einfach zu viele dieser oft als „Bergtürken“ Verunglimpften. „So viele Menschen sickern nicht einfach weg“, trägt Meyen in der Spiegelhalle vor. „Sie sind zu sehen, sie sehen sich selbst, zumal der türkische Staat sie da hinschickt, wo die Einheimischen nicht wohnen wollen, an die Ränder der Metropolen. So bleibt auch der soziale Graben, der die Kurden von den Türken trennt, so bleiben Stereotypisierung, Provokation, Einschüchterung, so bleibt das Band, das die Kurden zusammenhält, und stärkt es vielleicht sogar noch, obwohl die Kinder in der Schule Türkisch lernen und in der Lage sind, ihre Identität zu verheimlichen.“
Kerem Schamberger versieht das Vorgelesene mit neuesten Updates. Er berichtet etwa vom Streik der Arbeiter, die derzeit in Istanbul den dritten großen Flughafen bauen. Vor wenigen Wochen begannen sie, gegen die schleppende Auszahlung der Löhne und die katastrophalen Arbeitsbedingungen zu demonstrieren, die schon dutzende Beschäftigte mit dem Leben bezahlten. Statt zu vermitteln lässt der Staat ihre Unterkünfte stürmen und mehr als 400 Bauarbeiter festnehmen. Polizisten und Baustellenmanager beschimpfen sie dabei als Vaterlandsverräter und Terroristen. „Zum einen, weil sie als gewerkschaftlich aktive Menschen für ihre Rechte eingetreten sind, aber auch, weil die Mehrzahl von ihnen Kurden sind.“ Kein Zufall, sagt Schamberger, der unterste Teil arbeitenden Klassen in der Türkei werde von den Kurden gestellt.
Schlimmer noch als im Westen des Landes trifft die staatliche Unterdrückung aber die Menschen in den kurdischen Siedlungsgebieten im Südosten. Nachdem man jahrelang auf Initiative der PKK Friedensgespräche geführt hatte, reagiert die AKP-Regierung seit einiger Zeit auf das Erstarken der kurdischen Bewegung (13 Prozent bei den Parlamentswahlen) neuerlich mit einer Verschärfung. Seit 2015 führt die türkische Armee im Südosten regelrecht Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Schamberger zeigt dazu verstörende Bilder von durch Panzer- oder Luftangriffe in Trümmer gebombten Städten. Die Millionenmetropole Dyarbakir etwa, erst 2015 zum Weltkulturerbe erklärt, war kaum ein Jahr später zu einem Drittel zerstört. Mehr als einmal ist ungläubiges Entsetzen beim Publikum im überfüllten Foyer der Spiegelhalle spürbar, das an diesem Abend nicht nur aus den üblichen linken Verdächtigen und einer ganzen Reihe KurdInnen besteht, auch einige TheatergängerInnen hat das Thema offenkundig interessiert.
So etwa, wenn Schamberger über Vorfälle wie in Cizre berichtet, einer 120.000 Einwohnerstadt in Südostanatolien, wo die türkische Armee im Januar 2016 drei Häuser einkreist, in deren Keller sich Zivilisten und Aktivisten geflüchtet hatten. „Was macht sie? Sie schüttet Benzin in diese Keller und zündet sie an. Mehr als 150 Menschen verbrennen, teilweise bei lebendigem Leib.“ Nur ein Beispiel für das brutale Vorgehen der Armee, mit dem der türkische Staat auf lauter werdende kurdische Autonomierufe reagiert. Für ihr Buch haben die Autoren mit Leyla Imret gesprochen, die damalige Bürgermeisterin war Augenzeugin des Verbrechens. Nur wenige Meter entfernt erreichen sie verzweifelte Anrufe aus den Kellern, muss sie die Schreie der Verbrennenden anhören. Die Kurdin will eine Anklage gegen Armeeführung und Regierung beim Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen durchsetzen. Auch ihre erschütternde Aussage dazu kann man bei Schamberger/Meyen nachlesen.
Mehr als 300.000 Menschen sind in den Jahren 2015/2016 auf der Flucht vor diesem Inlandskrieg des Nato-Partners Türkei gewesen, Tausende hat er das Leben gekostet, resümiert der Kurdistan-Experte. Beenden wollen die Buchautoren ihre Veranstaltung indes nicht mit solchen Schreckensberichten über Krieg, Folter, Vertreibung. Denn es gibt auch Positives zu berichten aus den Gebieten der KurdInnen. Und so erzählt Kerem Schamberger von der „konkreten Utopie, die die kurdische Freiheitsbewegung versucht, im nordsyrischen Rojava zu realisieren“. Im März und April hat sich der Münchener in diesem Gebiet aufgehalten, um Material für seine Dissertation zu sammeln – Thema: Kurdisches Medienschaffen –, aber natürlich auch, um sich über die politische Entwicklung zu informieren.
Drei Säulen hat der Autor ausgemacht, auf denen dieser kühne Versuch einer fortschrittlichen gesellschaftlichen Umgestaltung aufbaut; Schamberger spricht dabei von einer Revolution, die kurdischen Urheber nennen es nüchterner „Demokratischer Konföderalismus“. Zum einen handele es sich um eine Demokratie von unten, eine Art Rätedemokratie, in der zentrale Entscheidungen auf unterster Ebene getroffen werden, „das kann ein Dorf sein, das können 30 Haushalte sein“. Zweite Säule ist die Befreiung der Frauen aus ihrer 5000 Jahre währenden Unterdrückung; das Rojava-Modell sieht eine mindestens 50prozentige gesellschaftliche Teilhabe vor – „eine Revolution innerhalb der Revolution“, (nicht nur) für diese Weltgegend. Als dritte Säule sieht er ein „ökologisches Paradigma“: Wenn es nicht gelingt, die Welt in einem Zustand zu erhalten, dass der Mensch darin leben kann, dann lohnt es erst gar nicht, für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen. „Make Rojava green again“ lautet denn auch die Parole eines der Basisprojekte, in dem sich Kurden, Araber und Angehörige anderer Nationalitäten um den Aufbau einer nachhaltigen Lebensumgebung bemühen.
Kerem Schamberger hat sich ein Bild von diesen Selbstverwaltungsprojekten gemacht, die seit 2012 aller Unwägbarkeiten in der vom Krieg gebeutelten Region zum Trotz aufgebaut werden. Was er erfahren hat und zu sehen bekam, hat ihn überzeugt von dieser Form des solidarischen Zusammenlebens aller, unabhängig von Geschlecht, Ethnie oder Religion und jenseits von Nationalismus und Zentralstaat. Den Schreiber dieser Zeilen hat von den Bilddokumenten und Berichten über die Leistungen, zu dem das Rojava-Experiment die Menschen befähigt, besonders jenes von einem neuen Häuserkomplex in Kobane beeindruckt. Als kurdische Volksbefreiungseinheiten Anfang 2015 die Stadt vom IS befreit hatten, lag sie komplett in Trümmern. Heute haben sie die städtischen Selbstverwaltungsorgane fast vollständig wieder aufgebaut, Schamberger zeigt dazu ein vor zwei Wochen aufgenommenes Bild jener Häuser, die dem Aussehen nach den Vergleich mit so manchem hiesigen Wobak-Gebäude nicht scheuen müssen.
Trotz oder besser gerade wegen ihrer Erfolge stehen die Selbstverwaltungsprojekte unter massivem Beschuss. Zum Ende seines Vortrags weist der marxistische Aktivist Schamberger darauf hin, dass wie immer bei solchen Ausbruchsversuchen aus der kapitalistischen Kriegs- und Verwertungslogik auch die Rojava-Revolution bedroht ist. Es ist nicht nur das Erdogan-Regime mit seinen djihadistischen Proxy-Söldnern, das mit einem völkerrechtswidrigen Feldzug in Nordsyrien die Projekte vernichten will. Es waren auch die USA und Russland, die etwa den Luftraum für die Bombardierung von Afrin freigegeben haben, es sind auch deutsche Rüstungslieferungen, die Erdogans Krieg möglich gemacht haben. Am Ende eines lehrreichen Abends darf das getrost als unausgesprochener Appell verstanden werden, sich auch im ruhigen Hinterland gefälligst einzumischen.
Jürgen Geiger (Fotos: Andreas Sauer)
Mehr zum Thema:
24.10.18 | Durchs wilde Kurdistan