Wer schützt Brandts Ostpolitik vor der SPD? (I)

Die deutsche Sozialdemokratie muss dazu geprügelt werden, sich mit ihrer deutschlandschädlichen Russlandpolitik der letzten zwei bis drei Jahrzehnte zu beschäftigen. Und wenn sich ihre jetzigen und früheren Spitzenleute — Olaf Scholz, Frank-Walter Steinmeier, Manuela Schwesig, Sigmar Gabriel und Gerhard Schröder — heute äußern, dann vor allem, um eine durchgezogene Linie von Willy Brandt bis heute, von 1969 bis 2022, zu ziehen. Hier der erste Teil einer dreiteiligen Serie von Wolfgang Storz.

Die Devise der Führungskräfte der SPD lautet: Was damals erfolgreich war, ist heute nicht falsch. Und: Willy wurde damals für seine Ostpolitik geprügelt, wir heute auch. Die These: Die Ost- und Entspannungspolitik von Brandt und Bahr hat mit den Russland-Geschäften der SPD der letzten 20 Jahre so gut wie nichts zu tun, Brandts Ost- und Scholz+Schwesig+Steinmeier+Gabriel+Schröders Russlandpolitik müssen also durch eine politische Firewall getrennt bleiben.

Aber Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundeskanzler a.D. Gerhard Schröder ziehen da gemeinsam an einem anderen Strang: Sie sehen keine Fehler, sehen sich als Opfer und ziehen eine sehr lange Linie der Ost-, Friedens- und Entspannungspolitik — von Willy Brandt bis heute. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) verglich jüngst in einer Sitzung der SPD-Landtagsfraktion nach Angaben von Teilnehmern und Medienberichten ihre Situation mit der des ehemaligen SPD-Bundeskanzlers Willy Brandt. Der sei seinerzeit für seine Ostpolitik auch stark kritisiert worden, habe das aber durchgestanden. Schwesig steht momentan politisch wegen ihrer Stiftung „Stiftung Klima- und Umweltschutz MV“ unter Druck, mit der sie die Gaspipeline Nord Stream 2 bis zum bitteren Ende gegen alle Sanktionen der USA verteidigen wollte; ein Vorgehen, das sie inzwischen bedauert. SPD-Kanzler Olaf Scholz jammert: Es werde heute „ein Zerrbild von sozialdemokratischer Politik“ gezeichnet. Mit diesem Zerrbild meint Scholz die mehr als berechtigte kritische Frage: Hat die kooperations- und profitorientierte Entspannungs- und Dialog-Politik westlicher, vor allem deutscher Regierungen, dem Kremlregime Vorschub geleistet, den jetzigen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine zu riskieren?

Scholz jammert, Schwesig sieht Willy neben sich

Schon die Frage scheint dem Kanzler als ungehörig. Dabei ist es wichtig, Verfehlungen und einseitige Orientierungen in der Russland-Politik aufzuarbeiten, beeinflussen sie doch möglicherweise bis heute in hohem Maße die aktuelle Kriegs- und Krisenpolitik. Ob Embargo oder Waffenlieferungen, die Regierung Olaf Scholz folgt immer einer Prämisse: Wir helfen der Ukraine möglichst wenig und möglichst spät; eben erst, wenn der Druck von EU und USA nicht mehr zu ertragen ist. Nun argumentiert der Kanzler: Er mache das so, weil er so umsichtig und überlegt sei.

Der Grund kann auch ein anderer sein: Er handelt so zögerlich und halbherzig, weil er zusammen mit führenden Sozialdemokraten unverändert in den verhängnisvollen Denkschablonen der alten SPD-Russlandpolitik steckt. Denn seine zögerliche Politik hat, ob ungewollt oder nicht, mindestens diese Wirkung: Der Ukraine wird weniger geholfen, Russland wird weniger geschadet, das Gerhard Schrödersche Energie-Geschäftsmodell für sich und für die deutsche Industrie (billige Energie egal auf welche Kosten!) kann wenigstens noch ein bisschen weiterlaufen, nach dem Motto: Jeder neue Tag ist ein Gewinn.

(K)Ein Akt von Besserwisserei!

Es ist sinnvoll zu unterscheiden: Was wollten Brandt und Bahr mit ihrer Ost- und Entspannungspolitik gegenüber der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt? Was wollten Scholz/Schröder und deren Crew mit ihrer Russlandpolitik? Ist das eins, unterscheidet es sich im Detail oder gar im Prinzip? Die hier behandelte These: Ich kann das politische Konzept der Kooperation, des Dialogs und der Entspannung umsichtig anwenden, aber auch riskant und fahrlässig. Die Behauptung: Letzteres machten die eben genannten SPD-Granden, mit markanter Unterstützung der langjährigen CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die politischen Nachfahren von Willy Brandt haben dessen ebenso kühne wie erfolgreiche Ost- und Entspannungspolitik zu einem billigen Geschäftsmodell für die deutsche Industrie verkommen lassen, unter rigider und anhaltender Vernachlässigung politischer Dimensionen wie gesellschaftlicher und nationalstaatlicher Freiheit, Sicherheit und Souveränität. Ist diese Behauptung in einem Vergleich ausreichend zu begründen?

Vorweg: Heute eine kritische Aufarbeitung der sozialdemokratischen Russland-Politik der letzten 20 bis 30 Jahre einzufordern, ist kein primitiver Akt der Besserwisserei. Vielmehr ist es nützlich zu klären und festzuhalten, wer — aus der Sicht von heute — in den vergangenen 20 bis 30 Jahren taub, dumm, ignorant, gierig und geistig begrenzt war und wer nicht. Nur so können irreführende Denkschablonen zerstört und neue Sensibilitäten und Perspektiven geschaffen werden, damit Fehler der Vergangenheit möglichst nicht wiederholt werden; eventuell gegenüber Katar, China … und nach einigen Jahren sogar erneut gegenüber Russland.

Eine Mafia-Tankstelle?

Was wird der heutigen Sozialdemokratie vorgehalten, die in den vergangenen 20 Jahren einige Jahre den Kanzler (Schröder, Scholz), viele Jahre den Bundespräsidenten (Steinmeier), sehr viele Jahre den Außenminister (Steinmeier, Gabriel), den für Energiepolitik zuständigen Wirtschaftsminister (Gabriel) und den Vizekanzler (Steinmeier, Gabriel, Scholz) stellten? Der entscheidende Vorhalt lautet: Obwohl die russischen Regierungen seit Anfang der 2000er Jahre immer wieder Kriege führten und Vereinbarungen brachen, wurde bis wenige Tage vor Einmarsch in die Ukraine die Abhängigkeit Deutschlands in der Energieversorgung ständig erhöht und auf alle Verfehlungen von Wladimir Putin nur mit folgenlosen Worten reagiert.

Dabei war die Liste von Putins Verbrechen bereits vor der Krim-Annexion im Jahr 2014 recht überzeugend: Zwei Kriege ließ er äußerst brutal in Tschetschenien (1999-2009) und in Syrien (2017-2021) führen, seit 2008 besetzt Russland 20 Prozent des Territoriums von Georgien. Trotzdem blühten die Energie-Geschäfte. Mit einem Staat, den der us-republikanische Senator John McCain, inzwischen verstorben, im Jahr 2014, nach der Annexion der Krim, so charakterisierte: Bei Russland handle es sich um „eine von der Mafia betriebene Tankstelle, die sich als Staat tarnt“.

Text: Wolfgang Storz (zuerst erschienen auf https://bruchstuecke.info/), Bild: Wikimedia Commons, This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 4.0 International license.