Wer schützt Brandts Ostpolitik vor der SPD? (II)

Die deutsche Sozialdemokratie muss dazu geprügelt werden, sich mit ihrer deutschlandschädlichen Russlandpolitik der letzten zwei bis drei Jahrzehnte zu beschäftigen. Und wenn sich ihre jetzigen und früheren Spitzenleute — Olaf Scholz, Frank-Walter Steinmeier, Manuela Schwesig, Sigmar Gabriel und Gerhard Schröder — heute äußern, dann vor allem, um eine durchgezogene Linie von Willy Brandt bis heute, von 1969 bis 2022, zu ziehen. Hier der zweite Teil einer dreiteiligen Serie von Wolfgang Storz.

Der Stand der deutsch-russischen Energiebeziehungen zu Beginn des russischen Vernichtungs-Krieges: 55 Prozent des Erdgases, das Deutschland importiert, kommt aus Russland; in der EU liegt der Anteil bei 40 Prozent. Und ein Drittel des von Deutschland importierten Erdöls kommt aus Russland. Und seit 2014, also nach der Annexion der Krim, wurde diese Abhängigkeit sogar noch erhöht.

Und trotz der Kriege und Wortbrüche von Putin: Ob Frank Walter Steinmeier, Olaf Scholz, Angela Merkel, Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel oder Manuela Schwesig, sie alle kämpften unbeirrt und auch im Alleingang — gegen den zunehmenden Widerstand der USA und vieler EU-Staaten — bis Tage vor der Ukraine-Invasion für die Gaspipeline Nordstream 2 als einem angeblich rein „privatwirtschaftlichen Projekt“.

Als die Regierung Schröder Energiesicherheit neu buchstabierte: GAZPROM

In einer langen Analyse kommt Martin Hellweg, renommierter Volkswirt, von 2000 bis 2004 Vorsitzender der unabhängigen Monopolkommission, in der Frankfurter Allgemeine Zeitung Ende April zu dem Schluss: Mit der Energiepolitik der Regierung Gerhard Schröder sei das Wort Versorgungssicherheit neu buchstabiert worden, nämlich „mit den Buchstaben G-A-Z-P-R-O-M“. Ab diesem Zeitpunkt schrumpfte die deutsche Ost- und Entspannungspolitik zu einem profitorientierten Gas-Geschäftsmodell für die hiesige Industrie und später für Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Ein Geschäftsmodell, das nicht nur von SPD und Union, sondern auch von der deutschen Wirtschaft gefördert und verteidigt wurde. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft organisiert Kontakte und Projekte mit Osteuropa, vor allem mit Russland; der Ausschuss besteht aus 350 Mitglieds-Unternehmen und Wirtschaftsverbänden wie BDI und DIHK. So waren es auch diese Kreise, die in den letzten Jahren, Monaten und Wochen immer bis zuletzt gegen Sanktionen plädierten und zuerst für deren Aufhebung.

Wie aus Entspannungspolitik ein Gas-Geschäft wurde

In einem langen Porträt über diesen Ostausschuss schildert die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung: „Selbst als Anfang März schon ukrainische Städte unter Beschuss standen, sagte der Ost-Ausschuss eine als Ersatz für die üblichen persönlichen Gespräche geplante Videokonferenz mit Putin offiziell nicht etwa aus Protest ab, sondern mit dem Hinweis auf Terminschwierigkeiten.“

Wenn nun Politiker der SPD auf diesbezügliche Kritik überhaupt eingehen, dann sagen sie sehr gerne: WIR ALLE haben uns getäuscht. Und fügen hinzu: WIR ALLE wurden doch von Putin getäuscht. Weder das eine noch das andere stimmt. Denn: Diese Russland-Politik, unter anderem verkörpert in dem Nord Stream 2-Projekt, wurde in den vergangenen 15 Jahren zunehmend zu einem Alleingang deutscher Regierungen — rigoros und damit bewusst und wissentlich sollte dieses Projekt gegen viele EU-Staaten und die USA durchgeboxt werden. Noch vor gut einem Jahr warb Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier für das „privatwirtschaftliche“ Projekt Nord Stream 2, sei es doch eine der letzten Brücken nach Russland. Also: Nicht WIR haben uns geirrt, vor allem regierungsverantwortliche Sozialdemokraten waren es. Und Putin täuschte nicht ALLE, haben doch viele, nicht nur baltische und osteuropäische und us-amerikanische Regierungen schon vor Jahren vor ihm gewarnt.

Fünf Unterschiede — zwischen Brandt und seinen Erben

Es waren die deutschen Regierungen Schröder, Merkel/Müntefering, Merkel/Steinmeier und Merkel/Scholz die Putin-Russland in den beiden letzten Jahrzehnten in die Rolle des Energie-Schlüssellieferanten für Deutschland und die EU hievten.

Was haben Brandt und Bahr wesentlich oder gar grundsätzlich anders gemacht?

Sie haben verhandelt, auf Kooperation und Dialog gesetzt und zugleich auf Vorsicht und Stärke, auch auf militärische: Die Bundesrepublik Deutschland verfügte in diesen 1970er Jahren über eine weitgehend einsatzfähige Bundeswehr mit etwa 500.000 Soldaten. Während der Kanzlerschaft Brandts erhöhte sich zwischen 1970 und 1972 der Anteil der deutschen Rüstungsausgaben am Bruttosozialprodukt (BIP) von 3,2 auf 3,4 Prozent. Zudem galten auch während der Entspannungspolitik in den 1970er und 1980er Jahren durchweg Wirtschaftssanktionen; vom Handel mit der Sowjetunion waren beispielsweise rüstungsrelevante Techniken immer ausgeschlossen. So war diese Entspannungspolitik immer begleitet von einer Art Eindämmungsstrategie gegenüber der Sowjetunion.

Deutsche Regierungen machten in den vergangenen Jahren genau das Gegenteil: So lag 2015, ein Jahr nach der Krim-Annexion, der Verteidigungsetat bei etwa 1,2 Prozent des BIP und anstelle von Wirtschaftssanktionen wegen der Krim-Annexion machte sich Deutschland zunehmend abhängig von russischer Energie; siehe oben.

Das ist der erste Unterschied.

Text: Wolfgang Storz (zuerst erschienen auf https://bruchstuecke.info/), Bild: Wikimedia Commons, aufgenommen am 10.4.2002, This file is licensed under the Creative Commons Attribution 3.0 Unported license.