Wie Kritiker zu Antisemiten gemacht werden

16 Tote und hunderte Verletzte an nur einem Tag: Am Grenzzaun zwischen Gaza und Israel eskaliert im April 2018 einmal mehr die Gewalt. Und das in dem Jahr, in dem Israel seine Staatsgründung vor 70 Jahren feiert, und sich zum hundersten Mal die „Balfour-Deklaration“ jährt, die das Grundübel für den Nahost-Konflikt schuf. Das neueste Buch von Rolf Verleger könnte aktueller nicht sein.

Bei „Hundert Jahre Heimatland?“ verstört zunächst das Fragezeichen. Ist denn Israel nicht das lang ersehnte Heimatland des geschundenen jüdischen Volkes? Der Untertitel „Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus“ lässt ahnen, worauf Rolf Verleger mit seiner Streitschrift abzielt: War nicht von allem Anfang an klar, dass das „Heimatland“ nur durch Vertreibung und Enteignung der arabischen Bevölkerung zu erreichen war? War nicht in der Staatsgründung der dauerhafte Krieg schon angelegt?

Angst vor „Überfremdung“

Da kommt die hundert Jahre alte „Balfour-Deklaration“ ins Spiel. 1917, so der Autor, herrschte in Großbritannien große Furcht vor einer „Überfremdung“ durch hunderttausende jüdische Flüchtlinge, die aus dem zusammen gebrochenen Zarenreich nach England strömten – wie könnten diese Flüchtlingsströme umgeleitet werden, weg von Europa?

Antisemitismus wie Imperialismus bündelte der britische Außenminister Lord Balfour vor 100 Jahren in einem Brief an den jüdischen Bankier Lord Rothschild. Die Regierung Seiner Majestät betrachte die „Einrichtung eines nationalen Heims in Palästina für das jüdische Volk mit Wohlwollen“. Antisemitismus, weil schon seit Beginn des Jahrhunderts in England die von Balfour unterstützte Losung galt:„England for the English“.

Rolf Verleger wurde vor 67 Jahren in Ravensburg geboren, studierte in Konstanz (auch seine Söhne waren Studenten am Bodensee), wurde in Tübingen promoviert und habilitierte sich 1993 für Medizinische Psychologie an der Universität Lübeck, dort erhielt er eine außerplanmäßige Professur, die er bis 2017 innehatte. Von 2005 bis 2009 war er Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland – nach Israel-kritischen Äußerungen und Veröffentlichungen entzog die Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein ihm sein Mandat als Delegierter im Zentralrats-Direktorium. Diese Auseinandersetzung nimmt breiten Raum in dem hier besprochenen Buch ein.

Imperialismus, weil sich Großbritannien bereits 1882 in Ägypten festgesetzt und nebenbei die Aktienmehrheit am Suezkanal erworben hatte, weil die arabischen Emirate von Kuwait bis Oman unter britischer Kontrolle waren und dieser koloniale Besitz durch einen weiteren Posten in Palästina gesichert werden sollte – vor allem, um den Zugang zum indischen Kolonialreich zu sichern. Außerdem hatten England und Frankreich schon im Jahr zuvor in einem Geheimabkommen nach der absehbaren Niederlage des Osmanischen Reiches dessen territoriales Erbe unter sich aufgeteilt. In diesen neuen Grenzen war Palästina der Landstrich, in dem England die aus dem Zarenreich zugewanderten Juden unterbringen wollte.

Koloniale Erbsünde

Diese koloniale Erbsünde wirkt bis heute nach, so Verleger. Nicht nur in Palästina selbst, sondern auch in Europa und den USA, wo sich militante Zionisten und friedensbewegte Juden über die aktuelle Politik und die Zukunft Israels streiten, in Deutschland, wo eben jene Friedensbewegten als Antisemiten beschimpft werden. Dazu Verleger in seinem Vorwort: „Die von der national-religiösen Ideologie Verblendeten werden dieses Buch „antisemitisch“ nennen, hoffentlich! Wenn nicht, wird es mir nicht gut gelungen sein. Getroffen fühlen sollen sich diejenigen – Juden wie Nichtjuden – , die in Wort und Tat dagegen verstoßen, dass alle Menschen gleich erschaffen sind und dass alle Menschen unveräußerliche Rechte haben.“

Dieses Buch – selten habe ich ein lehrreicheres gelesen – ist eine Abrechnung mit feigen Politikern hierzulande und in den USA, die den jeweiligen Regierungen in Jerusalem nach dem Munde reden und vor den Menschenrechtsverletzungen in Palästina die Augen verschließen. Aber auch mit Funktionären und „Berufsjuden“, die jeden Kritiker der israelischen Besatzungs- und Siedlungspolitik als Abweichler und Antisemiten beschimpfen.

Eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung mit „Hundert Jahre Heimatland?“ des „kritischen Juden vom Dienst“ (so die Jüdische Allgemeine über Rolf Verleger) könnte helfen, solche Gräben zuzuschütten. Wenn, ja wenn beide Seiten ihre Scheuklappen zur Seite legten und auf Denkverbote zukünftig verzichteten.

hpk (Fotos: Westend Verlag)

Rolf Verleger: Hundert Jahre Heimatland? Judentum und Israel zwischen Nächstenliebe und Nationalismus“. Westend Verlag 2017, 256 Seiten. 22 Euro.