Alternativen zum Schlafwagen-Wahlkampf im Kreis Konstanz?

Bräuchten die forschenden Institute einen repräsentativen Wahlkreis für die Bestimmung der Atmosphäre des Wahlkampfes – sie würden in Konstanz fündig werden. Das, was auf Bundesebene in den letzten Wochen an Ringen um den Kanzlersessel in Gang gekommen ist – oder eben nicht -, wird durch die Aktivitäten der hiesigen Direktkandidaten in beeindruckender Weise bestätigt: Mit zu erleben noch diese Woche in Singen und Konstanz

Die Parteien und ihre Kandidaten im Bund ähneln in schon beängstigender Weise denen vor Ort: Die FDP ist nicht vorhanden, die CDU will nichts verändern, die SPD ist unsicher, die Grünen pflegen ihre Kernthemen und die Linke punktet mit Sachkenntnis. So sieht es zumindest in seinem Gast-Diskussionsbeitrag unser Leser Dennis Riehle. Und allen Wählerinnen und Wähler, die das nicht glauben mögen, seien die zwei großen Podiumsdiskussionen in dieser Woche empfohlen, um Riehles Thesen zu überprüfen: Am morgigen Dienstag, 10. September, ab 18:30 Uhr im Kulturzentrum GEMS in Singen sowie am kommenden Donnerstag, 12.9., ab 19 Uhr im Konstanzer Konzil.

Das rätselhafte Abtauchen der Frau Homburger

So fragt man sich nicht nur in Berlin: Was war eigentlich FDP? Selbiges Rätselraten dürfte man beim Namen Birgit Homburger erfahren, würde man die Bürger auf den Konstanzer Straßen interviewen. Genauso wie der Spitzenmann der Liberalen nach seinem Sturz lange Zeit pausieren musste, so scheint es auch die hiesige Frontfrau ihm gleichzutun. Ob es daran liegen mag, dass sie den internen Machtkampf und den herben Vertrauensverlust ihr gegenüber in der eigenen Partei noch nicht verkraftet hat? Homburger versteckt sich regelrecht vor der Öffentlichkeit, lässt bei vielen Terminen lieber einen Fraktionskollegen gen Konstanz reisen. In ihren Antworten auf die Fragen der Wähler präsentiert sie Passagen des FDP-Wahlprogramms ohne eigene Reflektion oder den Hauch von Selbstkritik. Festgefahren in neoliberalen Ideen, hat manch‘ einer den Eindruck, als hätte die einstige Fraktionsvorsitzende im Bundestag die Wahl schon abgeschrieben. Peinlich ist die Bilanz Homburgers in Sachen des Erreichten für ihren Wahlkreis. Gesehen hat sie in den letzten vier Jahren hier kaum jemand – viel eher wirkte ihre Überheblichkeit beschämend für all diejenigen, die ihr 2009 nochmals ins Parlament verhalfen.

Nichts Neues vom Abgeordneten Jung

„Weiter so!“ – das dürfte nicht nur das Motto der Kanzlerin sein. Auch ihr hiesiger Kandidat Andreas Jung vertraut darauf. Er zieht mit dem, was er geleistet hat, über Bodanrück und Hegau. Falsch machen kann er dabei zweifelsohne nicht viel. Doch Neues erwartet den Wähler auch nicht. Freundlich und aufmerksam begegnet er den Menschen, er hat durch seine bisherige Arbeit durchaus viel Ansehen gewonnen. Offenkundig zählt Beständigkeit in diesem Land mehr als Fortschritt und Veränderung. Mag sein, dass sich der hiesige Wahlkreis auch mehr als andere eine gewisse Stagnation und das Aussitzen von Problemen leisten kann. Wer den Konservativismus aber derart ernst nimmt, dass aus Tradition ein Stillstand zu werden droht, der muss langfristig auch darum fürchten, dass die Wähler mit der treusorgenden Hand allein nichts mehr anfangen können. Jung tut gut daran, dass „Mutti“-Prinzip von Angela nicht zu Andreas‘ „Vati“-Konzept verkommen zu lassen. Wenngleich Zuhören in der Politik eine Tugend ist und Sympathie einbringt, für Erfolg muss aus Bedacht auch Ansporn werden

Die Newcomer geben den Ton an

Die Lager zwischen bürgerlich-liberal und ökologisch-sozial trennen sich nicht nur durch ihre Ideologien. Die Müdigkeit aus vier Jahren Regierungsarbeit steckt SPD, Grünen und Linken nicht in den Gliedern. Und das merkt jeder an dem bemerkenswerten Engagement, mit dem die Kandidaten in Bund und vor Ort nicht nur aufholen, sondern vor allem den Wandel bringen wollen. Sie geben die Themen vor, mit denen die Vertreter der Regierungsparteien gereizt und herausgefordert werden sollen.

Unklarheiten bei Tobias Volz

Während SPD-Kandidat Tobias Volz noch Unsicherheiten in der Kenntnis über politische Fragen der Region aufweist und sich länger als seine Konkurrenten in die Rolle des Bundestagskandidaten einfinden muss, gelang dies der Grünen-Kandidatin Nese Erikli und Marco Radojevic von der LINKEN um Längen besser. Volz muss gleichzeitig einen Spitzenkandidaten Steinbrück verteidigen, der wohl auch auf den Konstanzer Straßen nicht immer als die optimale Alternative zu Kanzlerin Merkel gesehen wird. Mit großem Bemühen um Bürgernähe und Verständnis für die Menschen, die er in Firmen, Vereinen und Organisationen im Landkreis besucht hat, versucht Volz offenbar, ein Stück weit Gegenpol zu dem kühlen Peer zu bilden. Die Bedingungen für einen sozialdemokratischen Wahlkämpfer sind jedoch auch denkbar schlecht, ist doch in kaum einer Partei das eigene Wahlprogramm derart umstritten und interpretierbar wie bei der SPD. Hier kommt es umso mehr auf die persönlichen Standpunkte an, über die sich Volz aber im Detail oftmals selbst noch nicht vollkommen im Klaren scheint.

Mehr als „Veggie-Day“ von Nese Erikli

Die Grüne Nese Erikli setzt auf die Kernthemen der Mutterpartei und beweist dort die Fähigkeit, ihre Forderungen authentisch zu vermitteln, ohne sich verbiegen zu lassen. Gleichsam scheint sie jedoch die Ideen auch mit eigener Lebendigkeit zu füllen und auf anstehende Herausforderungen im hiesigen Wahlkreis herab brechen zu können. Ob es Fragen zur Infrastruktur oder im Umweltbereich sind, hier beweist sie große Kompetenz und Sachverstand. Dabei lässt sie sich auch nicht auf die Schlagworte reduzieren, mit denen die Spitzenkandidaten im Bund Schlagzeilen machten. Erikli kann offenbar mehr als „Veggie-Day“ – wobei sie auch keinen Hehl daraus macht, mit der Grundausrichtung des grünen Wahlprogramms konform zu gehen. Diese Glaubwürdigkeit verleiht ihr ähnliche Sympathiewerte wie sie auch Jürgen Trittin zufliegen – und lässt sie gleichsam ruhig, aber entschlossen wirken wie Katrin Göring-Eckardt. Der Rückenwind aus Berlin hat Erikli spürbar gut getan und verschafft ihr wie Marco Radojevic Vorteile gegenüber den Mitkonkurrenten.

Kämpferische Rhetorik von Marco Radojevic

Dieser hätte zwar den Auftritt des Gesichts der Linkspartei, Gysi, der nicht nur in Konstanz für einen vollen Zuhörersaal sorgte, gar nicht gebraucht, um seine Präsenz im hiesigen Wahlkampf zu bekräftigen. Geschadet hat die Verbundenheit, die die beiden in einer kurzweiligen und von pragmatischer Deutlichkeit geprägten Veranstaltung gelebt haben, aber keinesfalls. So, wie auch Gregor in TV-Duellen gerade bei jungen Wählern viel Zuspruch erhält, so hat Radojevic mit erstaunlichem Sachverstand über Fakten und Entwicklungen hervorgestochen, als er schon frühzeitig aufmerksam und mit großem Tatendrang in den hiesigen Schlagabtausch vor der Bundestagswahl einstieg. Mit seiner persönlichen Offenheit und Zugänglichkeit punktete er bisher genauso wie mit der ebenso kämpferischen Rhetorik für die Forderungen seiner Partei, die kaum missverstanden werden können. Radojevic zeigt die wohl deutlichste Gewissenhaftigkeit dabei, wenn es darum geht, unbestritten für das Wahlprogramm einzustehen, das die LINKE vorgelegt hat. Wer ihm als jüngstem der hiesigen Kandidaten Unerfahrenheit zugetraut hatte, wurde eines deutlich Besseren belehrt: Im Vergleich wies Radojevic bisher die solidesten Kenntnisse über kommunale Schwerpunktthemen auf.

Beruhigungspillen helfen aus keiner Krise heraus

Die derzeitige Opposition im Bund ist die treibende Kraft, die die Bundesrepublik vor dem vielleicht schleppendsten Wahlkampf aller Zeiten bewahrt. Und auch im Wahlkreis Konstanz sind es die Kandidaten von Rot-Grün-Rot, die den momentanen Abgeordneten die Show zu stehlen in der Lage sind. Ein Stück weit Verantwortung liegt aber auch bei den Wählern: Beruhigungspillen allein helfen aus keiner Krise heraus. Wer nicht die Probleme anpackt, der mag zwar lange Zeit tagträumerisch alle Anforderungen verdrängen können. Doch eines Tages rächt sich dieses blinde Vertrauen, durch das Durchwinken von Bewährtem Konflikten aus dem Weg gehen zu können. Mehrere Direktkandidaten hier vor Ort bieten die Chance zur Dynamik. Und es ist Aufgabe aller, den Pulsschlag der Demokratie nicht verkommen zu lassen. Bei allem Verdruss über „Wir haben das im Griff“ – jeder Wähler ist mündig genug, sich mit dem Angebot an Alternativen auseinander zu setzen. Die Kandidaten warten – in den Fußgängerzonen, bei den Diskussionen und auch im Netz. Wir alle gestalten Wahlkampf mit.

Autor: Dennis Riehle