Arbeiterkinder – organisiert Euch

Das deutsche Bildungssystem führt zur systematischen Diskriminierung von Kindern aus Arbeiterhaushalten. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Die bildungspolitische Vortragsreihe „Armut, Ausgrenzung und Leistungszwang“ an der Uni Konstanz aber will nun die Ursachen solcher Benachteiligung aufhellen. Und seemoz wird in einer Artikelserie darüber berichten

Das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, 2006 vom Bundestag verabschiedet, soll Formen der „Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität“ verhindern. Bei dieser begrüßenswerten Initiative taucht aber die Frage auf, ob die Definition von Diskriminierung tatsächlich alle relevanten Grundlagen für Benachteiligung abdeckt.

In seinem Vortrag „Gesellschaftspolitische Ursachen der Bildungsbenachteiligung“ befasste sich der Münster Soziologe Andreas Kemper jüngst genau mit diesem Thema. Auf Einladung der AStA-Referate Gleichstellung, Hochschulpolitik intern und Lehramt an der Universität Konstanz führte Kemper aus, wie das heutige deutsche Bildungssystem die systematische Diskriminierung von Kindern aus Arbeiterhaushalten herbeiführt.

Diese Menschen, deren Eltern wenig formelle Bildung und Vermögen besitzen, sind selbst in den Studierendenvertretungen unterrepräsentiert: Auf Kempers Initiative wurde im Jahr 2000 in Münster gegen viele Widerstände das bundesweit erste AStA-Referat für Arbeiterkinder gegründet. Klassismus, wie die Diskriminierung dieser Bevölkerungsschicht schon seit den 70er Jahren bezeichnet wird, findet aber auch in den deutschen und europäischen Antidiskriminierungs-Richtlinien keine Erwähnung, obwohl der Begriff gerade im deutschen Bildungsbereich auf eine lange unrühmliche Geschichte zurückblicken kann.

„Seele des proletarischen Kindes“

Die Erforschung des Phänomens begann zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Studie Otto Rühles zur „Seele des proletarischen Kindes“, in der auf die gleich mehrfache Unterdrückung hingewiesen wurde, unter der gerade Mädchen aus den unteren Schichten zu leiden hätten, und als Reaktion eine „proletarische Protestmännlichkeit“ als gegen die herrschenden Verhältnisse gerichtete, aber unorganisierte Auflehnungshaltung konstatiert wurde. In der Zeit des Nationalsozialismus litten viele Arbeiterkinder unter neu eingeführten Gesetzen zur Rassenhygiene, da Intelligenz als erbliche Eigenschaft des „arischen Herrenmenschen“ angesehen wurde und Hilfsschüler, deren Leistungen nicht den Vorstellungen der rassistischen Lehre entsprachen, zu Hunderttausenden zwangssterilisiert und für bildungsunfähig erklärt, wenn nicht sogar als geistig Behinderte ermordet wurden.

Ihr Schicksal hinderte allerdings u.a. die Uniklinik Münster nicht daran, nach dem Krieg die ideologischen Väter ihres Elends wieder in akademische Ämter und Würden aufzunehmen. So wurden vier schwerstbelastete Professoren hintereinander als Dekane an der Uniklinik beschäftigt, darunter Otto Verschuer, in der Nazizeit Chef des Amts Rassenhygiene und Doktorvater des Auschwitz-Arztes Josef Mengele.

Braune Professorenschaft verhinderte Gesamtschule

Die ehemals braune Professorenschaft übte jedoch auch noch einen anderen fatalen Einfluss auf die Bildungspolitik der Nachkriegszeit aus. Während die Alliierten die Ablösung des seit dem 19. Jahrhundert bestehenden dreigliedrigen Schulsystems mit einer frühen sozialen Selektion als direktes Abbild der klassistischen Diskriminierung durch eine Gesamtschule empfahl, lehnten westdeutsche Politiker das Vorhaben rigoros ab – und beriefen sich dabei etwa auf Karl Valentin Müller, ein bis in die 60er Jahre angesehener Philologe, der in der Zeit des Nationalsozialismus im besetzten Prag lehrte. Nach dem Krieg erstellte er ein Gutachten für die Regierung Niedersachsens, in dem er drei Begabungstypen (Handwerk, Verwaltung und Führung) identifizierte und so eine fragwürdige Begründung für die Beibehaltung des dreigliedrigen Schulsystems lieferte.

Einen neuen Schub erhielt die westdeutsche Bildungspolitik 1966 mit dem sogenannten Bildungsschock: Nachdem man festgestellt hatte, dass das Bildungssystem zu wenige Studierende insbesondere der Ingenieurswissenschaften hervorbrachte, begannen unter der damaligen sozialliberalen Koalition Reformbemühungen, die z.B. zur Förderung von Gesamtschulen, des Hochschulzugangs von Arbeiterkindern und zur Einführung des BAföG führten. Mitte der 70er Jahre, als ein Anteil der studierenden Arbeiterkinder von 10 % erreicht wurde, brachen jedoch diese Reformen ab und wurden ab 2000 sukzessive durch eine rückwärtsgewandte Bildungspolitik ersetzt.

Damals fand ein entscheidender Paradigmenwechsel statt, der das propagierte Ziel der prinzipiellen Chancengleichheit in der Bildung, also dem Ziel, gleiche Chancen für Kinder sowohl aus vermögenden Haushalten als auch aus sozialen Brennpunkten zu schaffen und lediglich Leistungen als Bewertungskriterium anzulegen, durch den Begriff der Chancengerechtigkeit ersetzte. Nun sollten hochbegabte Kinder im Gegenzug für das vermeintliche Aufholen der unteren Schicht die Möglichkeit erhalten, sich ihrerseits noch weiter „nach oben“ vom Mittelmaß abzusetzen.

Fatale Exzellenz-Orientierung

Diesem Ansatz folgen zunehmende Tendenzen der Elite-, Exzellenz-, und Hochbegabungs-Orientierung im Schul- und Hochschulbereich und eine zunehmende „Demografisierung“ der Bildungs- und Familienpolitik. Diese zeigt sich bei dem vor einigen Jahren durchgesetzten Wandel des Elterngeld zum Erziehungsgeld: Während zuvor viele Eltern mit geringem Einkommen in Unter- und Mittelschicht von der Leistung profitieren konnten, entschied man sich nach dem Pisa-Schock, das neue Elterngeld einkommensabhängig zu gestalten, sodass Vielverdiener von entsprechend höheren Zahlungen profitieren: Das soll Akademiker zur Familiengründung anregen, gleichzeitig aber keinen Anreiz für sozial Benachteiligte mehr bieten, deren Sockelbetrag abgeschafft wurde.

Aber nicht nur in diesem Bereich findet der Klassismus in der deutschen Bildungspolitik seinen Platz; die Diskriminierung lässt sich durch die gesamte Ausbildung eines Kindes verfolgen. Die primäre Bildungsbenachteiligung beginnt bereits bei der vorschulischen Erziehung im Elternhaus, wenn etwa in sozial benachteiligten Haushalten nur wenige Bücher vorhanden sind, die den Wissensdrang von Kindern anregen könnten. Der Kita-Besuch wäre für Kinder aus Nichtakademiker-Haushalten sehr wichtig, wird aber durch hohe Gebühren oftmals verhindert.

Die bildungspolitische Reihe „Armut, Ausgrenzung und Leistungszwang“ des AStA der Uni Konstanz findet noch bis zum 11. Dezember 2014 jeden Donnerstagabend ab 19 Uhr im Raum A 701 an der Universität Konstanz statt. Sie wird von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gefördert. Seemoz-Autor Konstantin Eisel wird diese Reihe durch eine eigene Artikelserie begleiten.

Bildungsbenachteiligung beginnt mit der Bewertung des Kindes durch die Lehrperson in der Grundschule. Schon beim Schulübergang stellen Studien eine schnellere Einschulung von nicht-„verhaltensauffälligen“ Kindern fest, die aus wohlhabenderen Haushalten stammen. Die Empfehlung für Grundschüler, auf ein Gymnasium zu gehen, erfolgt bekannter Weise sehr viel seltener, wenn dieser Kinder aus Unterschichtenfamilien kommen, da sie in den Augen der Lehrer deutlich höhere Leistungen erbringen müssen als ihre Mitschüler aus Akademikerfamilien. Ihre Eltern folgen der Empfehlung auch sehr viel schneller als Akademikereltern, die sich der Einschätzung des Lehrers eher widersetzen und ihr Kind dennoch auf das Gymnasium schicken. Es sind dieselben bürgerlichen Eltern, welche sich für eine möglichst frühe Bildungsselektion nach nicht-objektiven Kriterien (nämlich der Entscheidung der Eltern) und gegen die Einführung einer Gesamtschule einsetzen und auch in Volksentscheiden für diese Position stimmen, wie es z.B. in Hamburg 2010 der Fall war.

Psychische Folgen durch ein starres Selektionssystem können Unterforderungserfahrungen sein, die sich negativ auf die Persönlichkeitsstruktur der Betroffenen auswirken und zu psychosomatischen Beschwerden führen können.

Die Bildungsschwellen als praktische Auswirkung aller dieser Benachteiligungen lassen sich in klare Zahlen fassen: von 100 Akademiker-Kindern absolvieren durchschnittlich 81 die Sekundarstufe II und 71 erlangen den Hochschulzugang; unter nicht-Akademikerkindern sind es nur 45 bzw. 24, die diese Stufen erreichen. Nur 15% der Anfänger eines Erststudiums besitzen eine niedrige soziale Herkunft, bei einem Promotionsstudium: sind es sogar nur 9%.

Auch Stipendien werden seltener an Arbeiterkinder vergeben als an Akademikerkinder, obwohl erstere finanzielle Mittel und Förderprogramme sehr viel nötiger bräuchten. Und das, obwohl sie sich zwar genauso oft für ein Stipendium bewerben wie ihre Komilitonen, dafür aber wiederum schlechter beurteilt werden.

Arbeiterkinder sollten sich organisieren

Es sind sowohl institutionelle Strukturen als auch Vorurteile mancher Menschen, die im Bildungssystem beschäftigt sind, welche den Klassismus befördern. Grundschullehrer und Akademiker, die an der Stipendienvergabe beteiligt sind, agieren als Gatekeeper mit der Vorgabe, gewisse sozial erwünschte Personen zur Förderung zu selektieren, während andere außen vor bleiben. In diesem Prozess spielen das ökonomische, soziale und kulturelle Kapital einer Person nach Pierre Bourdieu eine Rolle: Zeigt ein angehender Schüler oder Student bereits aufgrund seiner Erfahrung im Elternhaus einen gewissen Habitus, d.h. bestimmte Manieren und verinnerlichte Verhaltensweisen, die seinem Gegenüber signalisieren, zur gleichen Gesellschaftsschicht zu gehören, wird er sehr wahrscheinlich denjenigen gegenüber bevorzugt werden, der nicht über eine solche Grundlage verfügt.

So reproduziert das Bildungssystem dieselben gesellschaftlichen Verhältnisse, ohne die sozialen Auswirkungen dieses Prozesses zu hinterfragen. Und selbst gewisse sprachliche Muster, die Kemper als „Vertikalismen“ bezeichnet, spielen hier eine Rolle: Indem immer wieder der semantische Gegensatz aus „niederer Herkunft“ einerseits und „höherer Bildung“ und „höherem Lebensstandard“ andererseits als begriffliche Alternative zwischen schlecht und gut betont wird, schlägt sich die Diskriminierung auch in der Sprache nieder.

Die anschließende Diskussion über die Vortragsthemen drehte sich vor allem um die Frage, wie man die Situation von Kindern aus sozial benachteiligten Verhältnissen verbessern könnte. Kemper selbst brachte die Idee einer speziellen Hochschulförderung ins Gespräch, die sich an dem Anteil der an einer Universität immatrikulierten Arbeiterkinder ausrichten sollte. In erster Linie jedoch sei es entscheidend, dass die Betroffenen sich in eigenen Interessengruppen organisierten. Diese müssten eine dezidiert politische Haltung einnehmen, da bisherige Ansätze wie die deutsche Webseite Arbeiterkind.de, welche explizit keine politische Position beziehen wollten, ineffektiv seien. In jedem Fall müssten sich Institutionen und auf diesem Wege auch damit verbundene Werthaltungen verändern, damit eine bessere Integration sozial deklassierter Gruppen in das Bildungssystem gelingen kann.[modal id=“19250″ style=button color=default size=default][/modal]

Autor: Konstantin Eisel