Beschneidung der Kinderrechte

Jacques Tilly/giordano-bruno-stiftung.de

Erst das Urteil aus Köln, dann der Protest von Juden und Muslimen, schließlich ein Antrag im Bundestag – über das Ritual der Beschneidung von Jungen wird in diesen Tagen viel gestritten. Auch auf seemoz: Zwei Meinungen zum Thema von Dennis Riehle aus Litzelstetten, Vorsitzender der Christlichen Lebensberatung e.V, und von Michael Schmidt-Salomon, freischaffender Philosoph/Schriftsteller und Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung: Die Kontroverse ist eröffnet.

Dennis Riehle: Religiöses Bekenntnis nicht durch Brandmarkung

Selten hat ein Urteil zu derart kontroversen Reaktionen geführt – und das vor allem, weil niemand mit einer solch wegweisenden Entscheidung eines deutschen Gerichts gerechnet hatte. In der Frage nach dem religiösen Ritual der Beschneidung von Jungen haben Kölner Richter nun festgestellt: Statt dem Recht auf Religionsfreiheit liegt eine Körperverletzung vor, die gewichtiger anzusehen ist und damit das Beschneiden verbietet. Von allen Seiten kamen prompte Zustimmungen und Ablehnungen: Unter Juden und Muslimen sorgte der Gerichtsentscheid für Empörung. Eine Anmaßung sei es, dass sich deutsche Richter gegen einen Bestandteil religiöser Praxis auflehnten. Große Befürwortung des Urteils gab es hingegen von säkularen Verbänden und Menschenrechtsorganisationen, die den Entscheid als grundlegend im Sinne der Abwägung von Religionsfreiheit sehen.

Es ist als Skandal zu bewerten, dass sich auch die christlichen Kirchen kritisch zu dem Kölner Urteil geäußert haben. Die evangelische Kirche zeigte Unverständnis für den Richterspruch, da er der Einschränkung der  religiösen Freiheit Tor und Tür öffne. Außerdem hätten die Richter nach Ansicht der EKD die sachlichen Argumente, die für das religiöse Ritual gesprochen haben, nicht ausreichend berücksichtigt. Gleichzeitig sind Vergleiche und die Frage, wie Christen auf ein Verbot der Taufe reagiert hätten, nicht nur hinkend, sondern in ihrer Wertigkeit völlig inakzeptabel.

Dem Prozess der Beschneidung liegt neben einer Tradition kein fundierter Grund vor, der diesen verteidigen könnte. Viel eher hat sich ein über Jahrtausende etabliertes Vorgehen als „Realität“ verfestigt, sodass selbst FDP und „Grüne“ davon sprechen, dass das Urteil des Landgerichts Köln „wirklichkeitsfremd“ sei. Wer sich solch einer Logik hingibt, unterwirft sich einem religiösen Autoritätssinn, der bestimmt, was Recht zu sein hat. Dabei ist es weder Kirche noch Glaube, die über Gesetze in einer Demokratie zu befinden haben und die Wirklichkeit prägen: Nicht die Richter müssen sich einer durch religiösen Kult geschaffenen Realität annähern, sondern sie sind gehalten, in einem Land einen „Ist-Zustand“ zu gewährleisten, der sich einem säkularisierten Staat entsprechend anpasst. Wenn dem Landgericht Köln antireligiöses“ Verhalten vorgeworfen wird , so ist dieses Totschlagargument auch für jede Bevorzugung von Kirchen und Religionsgemeinschaften geeignet, die den verfassungsrechtlich gebotenen Trennungsweg zwischen Staat und Kirche unterdrückt. Hiermit kann auf Ewigkeiten ein Privileg für Glaubensbewegungen aufrecht erhalten werden, das dialektisch nullwertig ist.

Offenbar haben die Kirchen dort, wo es ihnen ungünstig erscheint, bis heute nicht mitbekommen, dass das Christentum den Weg der Aufklärung beschritten hat. Auch diese war es, die Grund- und Menschenrechte verankerte und diese über all das stellte, was religiöse Kultur und Tradition an Grausamkeiten mit sich brachte. In einem Land, das sich auf die körperliche und seelische Unversehrtheit jedes Einzelnen stützt, kann ausnahmslos nichts gerechtfertigt werden, was diesem Grundgedanken zuwider läuft. Schon gar kein religiöses Ritual darf sich den Weg zwischen dem Recht hindurch bahnen und darauf hoffen, durch den Artikel des Grundgesetzes auf Religionsfreiheit vor Angriffen und Verboten geschützt zu sein. Dass selbst Parteien, die die Menschenrechte als Markenzeichen ihrer Politik ansehen, ein Urteil der Freiheit weg von Entmündigung als „realitätsfern“ abweisen, kann nur einem massiven Einfluss religiöser Lobbyismusvertretungen geschuldet sein.

Ihnen sollte klar sein, dass mit der weiteren Zulassung der Beschneidung eine Paralleljustiz geschaffen würde, die momentan auch im Blick auf zunehmende Mitsprache von Religionsgesetzen in der deutschen Rechtslandschaft an Bedeutung zu gewinnen droht (vergleiche Forderungen nach „Scharia“-Richtern). Daher ist die Forderung vielerseits berechtigt, einen klaren gesetzlichen Rahmen zum Thema „Beschneidung“ zu fassen, der bisher nur vage in einem sich stets neu widersprechenden Diskurs abgegrenzt wurde.

Auf Basis der soliden Begründungsleitlinie des Kölner Gerichts anhand der Bedeutungshoheit von körperlichem Unversehrtsein gegenüber dem Recht auf freie Religionsausübung und der Erziehung (in Verbindung mit der UN-Kinderrechtskonvention von 1990, die religiöse und kulturelle Traditionen, die Kindern unnötigen Schaden zufügen, verboten hat) kann es grundgesetzlich aber nur zu einem rechtlich verankerten Untersagen der Beschneidung kommen. Und dies muss in möglichst breitem internationalen Rahmen eingefasst und den entsprechenden überregionalen Gerichten zur Entscheidung vorgelegt werden, um der berechtigten Sorge zuvor zu sein, die ein Abwandern von Familien zur Beschneidung in andere Länder – unter drastisch schlechteren Hygienebedingungen – fürchtet. Die religiöse Beschneidung von Jungen ist wie jede andere Verstümmelung an Menschen zu ächten, die Verletzung der Persönlichkeit – ob an den Genitalien der Frau oder beim Mann – stellt eine nicht erträgliche Ausformung abergläubischen Irrsinns dar.

Trotz der eindeutigen Belege des Gerichts sehen sowohl die Deutsche Bischofskonferenz als auch Teile der Union im Urteil eine Einschränkung des Rechts auf Erziehungsfreiheit, die Vereinten Nationen sprachen gar von „Unsinn“ im Hinblick auf das Urteil, ohne sich jedoch offenkundig intensiver damit zu beschäftigen. Jüdische und muslimische Verbände kritisierten, die religiöse Freiheit und Identität werde durch eine derartige Rechtsprechung gefährdet. Hiergegen muss eingewendet werden: Jegliche Freiheit endet dort, wo sie einem Menschen schadet oder ihn in den eigenen Freiräumen einengt. Nichts Anderes tut die Beschneidung: Jungen, die noch keine Möglichkeit zur freien Willensäußerung haben, werden gewaltsam einem Akt unterworfen, der lebenslange Narben hinterlässt, sowohl sichtbare als auch unsichtbare.

Die Sinnhaftigkeit der Beschneidung ist ebenso umstritten wie jedweder Zusammenhang mit einer Notwendigkeit dieses Kults, der testamentarisch zwar festgehalten und überliefert ist, durch die Gegenüberstellung mit einem Rechtsstaat aber an jeglicher Legitimation verloren hat. So gilt der hinter der Beschneidung im jüdischen Glauben stehende „abrahamitische Bund“ lediglich als Zeugnis des Mannseins, ohne dabei jedoch tatsächliche Bewandtnis wie hygienische oder gesundheitliche Vorzüge zu besitzen. Der Islam hat ohne Vorgaben des Koran, aber als Ritus der Reinheit und als Auslegung der Nachfolge das Vorgehen der Beschneidung von Jungen übernommen, ohne hierfür eine historisch nachvollziehbare Begründung anzuführen.

Identität wird nicht dort geschaffen, wo Jungen mit Schmerz und Brandmarkung dauerhaft gezeichnet werden – religiöses Bekenntnis schafft sich durch eine innerliche Überzeugung, die ohne Zwang der Tradition auskommt. Nur so kann gewährleistet sein, dass Gleichheit und Gleichberechtigung zwischen allen Religionen, aber eben auch besonders zu den Konfessionslosen und Menschen ohne Glauben erzielt wird.

Es ist bezeichnend, dass sich die christlichen Kirchen wie persönliche Verteidiger vor Islam und Judentum werfen, um die Religionsfreiheit zu retten. Sie sind offenbar sogar dazu bereit, eine gerichtliche Entscheidung zu übergehen, die eine längst überfällige Selbstverständlichkeit festgestellt und Jungen ihre Würde wiedergegeben hat. Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist der Tag der Beschneidung auch in der katholischen Kirche als Gedenktag abgeschafft – und die Bibel selbst steht dem jüdischen Ritual kritisch gegenüber: So erwähnen beispielsweise die Bücher Galater, Deuteronomimum und Römer die Beschneidung explizit und zweifeln ihre Bedeutsamkeit an. Wer nicht den Bund Gottes mit dem Herzen schließe, dem nütze auch das Zeichen des Beschnittenseins nicht, ist dort eine weitläufige Interpretation. Weiter geht noch das apokryphe Thomasevangelium, das anmerkt, dass ein Junge bereits beschnitten zur Welt käme, wenn es ein Nutzen haben sollte.

Den Bund mit Gott zu schließen, diesen Weg gehen Christen über die Taufe und das Abendmahl. Im Gedächtnis an Tod und Auferstehung Jesu und in seinem Sendungsauftrag steckt das gewaltlose Bekenntnis zur Gemeinschaft und zur Aufnahme in sein Reich. Gleichwohl ist auch der Taufprozess bei Kleinkindern als höchst fragwürdig anzusehen, zwingt er doch Kindern etwas auf, über das sie nicht entscheiden – und von dem sie sich nicht mehr lösen können (nach kirchlicher Lehre ist die Taufe ein unauflösbares Bündnis, das zwar durch Konfirmation und Kommunion mehr oder weniger bewusst erneuert, aber auch durch Kirchenaustritt nicht aufgehoben werden kann). Das Christentum lebt vom Bewusstsein allein und braucht als Zeugnis der Verbundenheit keine dauerhaft verletzende und gegen den Willen zugefügte Beschneidung. Entsprechend  ist die Haltung der Kirchen zum jetzigen Urteil als völlig entglitten zu betrachten und zu kritisieren.

Michael Schmidt-Salomon: Ein Armutszeugnis für den säkularen Rechtsstaat.

Es war leider nicht anders zu erwarten: Die Bundestagsabgeordneten haben mehrheitlich einem von CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entschließungsantrag zugestimmt, mit dem die Bundesregierung beauftragt wird, gesetzliche Regelungen zu schaffen, die die religiös motivierte Vorhautbeschneidung minderjähriger Jungen in Deutschland erlaubt. Die dringenden Appelle deutscher und internationaler Kinder- und Jugendärzte, die in Bezug auf die rituelle Vorhautbeschneidung von einem „erheblichen Trauma“ sprechen, verhallten ebenso ungehört wie die glasklaren Argumentationen zahlreicher Juristen, die die rituelle Vorhautbeschneidung als illegitime Körperverletzung und Verstoß gegen die Selbstbestimmungsrechte der betroffenen Jungen auswiesen (siehe hierzu u.a. das Urteil des Kölner Landgerichts, das die Debatte auslöste, den Grundsatzartikel zur fraglichen Rechtmäßigkeit der Knabenbeschneidung von Prof. Dr. Holm Putzke sowie den Kurzkommentar von Prof. Dr. Dr. Eric Hilgendorf).

Vor allem das Eiltempo, in dem die parlamentarische Entscheidungsfindung vonstatten ging – die sich im Urlaub befindlichen Parlamentarier hatten keine Zeit, sich mit der Thematik auch nur halbwegs angemessen auseinander zu setzen -, belegt, dass es in dieser Frage zu keinem Zeitpunkt darum ging, durch eine gründliche Abwägung von Argumenten zu einer sachgerechten Lösung zu kommen. Worum es tatsächlich ging, hat Jacques Tilly in seiner Karikatur zum heutigen Bundestagsbeschluss wunderbar zum Ausdruck gebracht (s. Teaserbild): Die „Vorhautresolution“ des Deutschen Bundestags ist ein demokratieunwürdiger Kniefall vor konservativen Religionslobbyisten und ein Armutszeugnis für den säkularen Rechtsstaat, der sich offenkundig scheut, seine Rechtsnormen gegen die Propagandisten archaischer Riten durchzusetzen.

Die deutschen Parlamentarier hätten heute die Chance gehabt, die Rechte der Kinder zu stärken. Sie hätten die Artikel 19,1 und 24,3 der UN-Kinderrechtskonvention ins Feld führen können, die Kinder vor elterlicher Gewalt und brutalen rituellen Bräuchen schützen sollen. Sie hätten klarstellen können, dass säkulare Rechtsnormen für alle gelten müssen – auch für Religionsgemeinschaften. Sie hätten nicht zuletzt auch die Gelegenheit gehabt, die Forderungen progressiver Juden und Muslime zu unterstützen, die die archaischen Riten ihrer Vorväter längst überwunden haben und deren ethische Rückständigkeit in aller gebotenen Deutlichkeit kritisieren (siehe u.a. die Website der „Jews against Circumcision“).

Leider hat der Deutsche Bundestag diese einmalige Chance verspielt. Er hat dafür votiert, Kinderrechte zugunsten archaischer Riten zu beschneiden, hat die modernen Werte des säkularen Rechtsstaats überholten religiösen Bräuchen untergeordnet, hat die so wichtigen Initiativen liberaler Juden und Muslime geschwächt und sich zum Büttel all derer gemacht, die ihre Glaubensdogmen partout nicht überdenken wollen, selbst wenn Kinder die Leidtragenden sind.

Doch noch ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit nicht gesprochen. Denn der Erschließungsantrag des Deutschen Bundestags hat im Grunde nur symbolischen Charakter, entscheidend ist, wie nun das Bundesjustizministerium mit der Resolution des Deutschen Bundestags verfährt. Und dies ist beileibe keine leichte Aufgabe. Denn wie soll es dem Ministerium gelingen, „unter Berücksichtigung der grundgesetzlich geschützten Rechtsgüter des Kindeswohls, der körperlichen Unversehrtheit, der Religionsfreiheit und des Rechts der Eltern auf Erziehung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der sicherstellt, dass eine medizinisch fachgerechte Beschneidung von Jungen ohne unnötige Schmerzen grundsätzlich zulässig ist“?

Bei genauerer Betrachtung ist diese Forderung der Bundestagsresolution ein Widerspruch in sich. Denn nachweislich dient die rituelle Vorhautbeschneidung eben nicht dem Kindeswohl, sie garantiert eben nicht die körperliche Unversehrtheit des Kindes. Und sie ist notwendigerweise mit Schmerzen verbunden, die zum einen gravierend (wer die Vorhautbeschneidung mit einer Impfung oder mit dem Stechen eines Ohrrings vergleicht, hat keine Ahnung oder lügt!) und zum anderen aus der Perspektive der säkularen Rechtsordnung bei Fehlen einer medizinischen Indikation völlig unnötig sind.

Zur Religionsfreiheit der Eltern wiederum ist zu sagen, dass sie durch ein Verbot der Vorhautbeschneidung überhaupt nicht tangiert würde, erstreckt sich deren Religionsfreiheit doch bloß auf sie selber, nicht aber auf ihre Kinder. Und bei der Abwägung des Erziehungsrechts der Eltern gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Kinder hat die von Deutschland unterzeichnete UN-Kinderrechtskonvention nun einmal klare Prioritäten gesetzt: Sie schützt die Rechte der Schwächeren! Wer meint, dass Kinder unter der totalen Verfügungsgewalt ihrer Erzeuger oder Betreuer stehen, hat nicht einmal im Ansatz begriffen, was Kinderrechte bedeuten. Es sollte klar sein: Die körperliche Unversehrtheit des Kindes ist ein Rechtsgut, das deutlich über der Erziehungsgewalt (sic!) der Eltern steht.

Halten wir fest: Zwar hat der Deutsche Bundestag mit seinem heutigen Votum hinlänglich gezeigt, wo er sich selbst in Sachen „Kinderrechte“ verortet, doch noch ist nichts entschieden. Dass die Bundestagsfraktion der Grünen im letzten Moment davon absah, den Entschließungsantrag zur „Rechtlichen Regelung der Beschneidung minderjähriger Jungen“ mit den anderen Fraktionen in den Bundestag einzubringen, mag als kleiner Hoffnungsschimmer gelten, dass die öffentliche Debatte etwas bewirken kann. Zudem sollte nicht vergessen werden, dass Justizministerin Leutheuser-Schnarrenberger, die vor der schwierigen Aufgabe steht, eine gesetzliche Regelung für die in sich widersprüchliche Forderung des Parlaments zu finden, gegenüber bürgerrechtlich-humanistischen Forderungen aufgeschlossener ist als die meisten anderen Vertreter der politischen Klasse. Ihr politischer Handlungsspielraum ist zweifellos begrenzt, aber wenn sich die Verteidiger der Kinderrechte in den nächsten Wochen deutlicher artikulieren würden, könnte sie sich vielleicht davon überzeugen lassen, dass es für einen modernen Rechtsstaat zwingend erforderlich ist, jene Position zu vertreten, die im Bundestag sträflich unterging, nämlich: dass Religionsfreiheit niemals bedeuten kann, Kindern ungestraft Schmerzen zufügen zu dürfen.