Bevormundet Kretschmann die Bevölkerung?
Darf ein Politiker eine Rede halten, in der er öffentlich eine „Orientierung an religiösen Werten“ einfordert? Überschreitet ein Ministerpräsident seine gebotene weltanschauliche Unabhängigkeit, wenn er Werte wie Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit oder Gerechtigkeit den Religionen zuschreibt, dabei aber verkennt, dass gerade sie es nicht sind, die momentan solche Tugenden vorleben?
Winfried Kretschmann hat es trotzdem getan: Bei seiner „Weltethos“-Rede in Tübingen appellierte der Grüne an die Gesellschaft, sich wieder darauf zu besinnen, was das „Parlament der Weltreligionen beschrieben hat“. Man mag sich ernsthaft fragen, wie kritisch sich der Ministerpräsident gegenüber seinem Eid, seinem Verhältnis zu Kirchen und Religionen und deren Einfluss auf die Politik gibt. Nicht zum ersten Mal stellte Kretschmann seine Verbundenheit mit den Überzeugungen der Glaubensgemeinschaften vor. Doch in einem Staat, in dem immer mehr Menschen ohne religiöses Bekenntnis sind, wäre es angebracht gewesen, die „Kernwerte“ nicht allein dem religiösen Verdienst zuzuschreiben, sondern besonders auch den Anstrengungen der Aufklärung. Der Humanismus ist es, der heute die angesprochenen Ziele verfolgt – und das ohne die Anfälligkeit zu manch einem Extremismus. Denn sind es wahrlich das Christentum, das Judentum, der Islam, die den Zusammenhalt in unserem Land prägen?
Viel eher wohl die positiven Überzeugungen all derjenigen Menschen, die sich aus weltlichen Gründen dazu entschließen, friedlich, ehrlich und auch solidarisch zu leben. Waren es die Religionen, die zuerst da waren? Oder speisen sie sich nicht viel eher aus einer Ethik, die die frühen Menschen auch ganz ohne jenseitige Impulse entwickelten? Ein Miteinander auf Grundlage der Erkenntnis, dass wir dazu verpflichtet sind, unsere Erde gemeinsam zu bewohnen, brauchte den religiösen Anstrich nicht. Die spirituelle Zugabe mag unser Seelenheil erfüllen. Das ist legitim, aber begründet keine Ehrerbietung eines Ministerpräsidenten. Ausschließlich auf Religionen zu verweisen, die die Säulen unserer Gesellschaft sind, das ist für einen Politiker doch eher ein Armutszeugnis. Denn er verkennt damit offenbar ganz bewusst die Realität, auch in seinem Bundesland.
Der Austausch von Weltanschauungen ist sicherlich sinnvoll. Doch wie reflektiert kann dies geschehen, wenn man allein im Sumpf von normativen Dogmen fischt? Kretschmanns Rede gehört zu denen, die man nach kurzer Zeit zur Seite legen möchte, weil man diesen „Einheitsbrei“ des Lobes an die Religionen nicht mehr hören und lesen kann. Es wirkt bevormundend, wenn ein Ministerpräsident von seinen Bürgern fordert, sie sollten sich an religiösen Werten orientieren. Von Religionsfreiheit hat der für seine konservative Haltung innerhalb seiner Partei bekannte Politiker scheinbar noch nicht allzu viel gehört. Und dass er in seiner Rede wohl eher die gottbezogenen Grundlagen der Landesverfassung als die Freiheiten des Grundgesetzes hochhält, ist bezeichnend in einer ganzen Reihe von Äußerungen, in denen sich Kretschmann wie ein Unterworfener der Religionen gibt.
Ohnehin wirkt der einst so beliebte Ministerpräsident seit Beginn der Amtszeit unter Grün-Schwarz wenig differenziert. Man kann kaum noch erkennen, wo „Grüne“ und CDU ihre Grenzen ziehen, sich voneinander abgrenzen. Die christliche Nähe scheint Kretschmann nicht gut zu tun, nimmt sie ihm doch die Fähigkeit, ohne Einfluss zu denken – und auch zu entscheiden. Denn offenbar leitet der Ministerpräsident aus dem Religiösen zwingend auch einen Rutsch ins immer konservativer werdende Lager der „Bürgerlichkeit“ ab, der aber nicht nötig wäre, würde Kretschmann sich nicht zum Getriebenen machen. Freiheit von den Religionen kann auch gleichzeitig Freiheit von Zwängen im Links-Rechts-Spektrum der Parteien bedeuten. Seine „Weltethos“-Rede hat den Ministerpräsidenten allerdings noch weiter zementiert – man wünscht sich die nächsten Wahlen schneller herbei, als es uns lieb gewesen wäre…
Dennis Riehle
Die CDU hat früher immer von der Kanzel runter Wahlkampf gemacht, wo der Gläubige sein Kreuzle machen soll – das hat Kretschmann eben abgeguckt. „Der Herr wird die Seinen erkennen“. Ob es hilft?
„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks… Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf.“
Es steht wohl außer Zweifel, daß die Religion, nackt betrachtet, harmlos erscheint. Nicht harmlos dagegen sind die daraus resultierenden Kirchen, die politisch und ökonomisch Macht anhäuften. Das aktuelle Schlagwort „Haßprediger“ ist nicht auf eine Religion bzw. Kirche zu beschränken. Die Kreuzzüge waren nicht bloß verbale Haßpredigten; was George Waterboarding Bush praktizierte, hat nicht viel mit Nächstenliebe gemein.
Spätestens bei Betrachtung dieser Auswüchse der Instrumente der Klassengesellschaft stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit opportunistischer Handlungen. Daß die Grünen ihr Herz für die abhängig Beschäftigten sehr früh dem Kapital gespendet haben, mag provokant klingen. Bei näherer Ansicht der aktuellen Zustände bleibt die Analyse, daß der Klassenkampf – von oben nach unten wohlgemerkt – fröhliche Urständ‘ feiert.
Dabei sind es nicht bloß die Grünen, die diesem Einheitsbrei den faden Geschmack der Ausbeutung beimischen. Auch die aSPD mit ihrer Agenda 2010 rührt da kräftig mit. Das Argument, der Wirtschaft Deutschlands wäre es zum fraglichen Zeitpunkt nicht so gut gegangen, ist genau so bezeichnend wie das Selbstlob Schröders in Davos mit dem Hinweis auf den Niedriglohnsektor Deutschlands. Allüberall sichtbar die Unterwerfung unter die „marktorientierte ‚Demokratie'“.
Mensch mag sich darüber streiten, welche Maskerade dreister ist, Religion, Realpolitik oder das daraus entstehende Zwiesprech-Konglomerat, das uns anscheinend unentrinnbar umgibt. Es spricht einiges dafür, diesen Zuständen den Kampf anzusagen.
Nachtrag: Auch für mich ist der Beitrag von Dennis Riehle ein „dickes“ Dankeschön wert.
@Horst Brandis: Davon, dass hier auf den am Boden liegenden Grünen rumgetrampelt wird, kann nun wirklich keine Rede sein, Herr Brandis. Und schäbig wäre dies ebenfalls nicht. Wer/Was hier allenfalls schäbig zu nennen ist, sind die Grünen selbst, die sich inzwischen ja bis fast zur Unkenntlichkeit verbogen und sich vom einstmals brüllenden Tiger in einen harmlosen Bettvorleger verwandelt haben.
Meine Frage dazu ist: Hat Herr Kretschmann mit seiner Äußerung nicht religiösen Menschen diese Werte abgesprochen? Wohl kaum. Ist ein Politiker verpflichtet sich von seinen Weltanschauungen und Werten zu distansieren? Wohl kaum. Herr Kretschmann wurde wohl als die Person, die er ist, gewählt.
Ich bin nicht der Ansicht, dass religiöse Menschen anderen ihre Religion vorschreiben dürfen. Doch dies ist hier wohl kaum geschehen. Die oben genannten Werte sind auch bei nicht religiösen Menschen von Wert, dachte ich zumindest immer.
Ich habe keine Probleme damit, wenn Menschen Religion ablehnen, es ist die Freiheit eines jedem. Ich gehe auch nicht davon aus, dass diese Menschen keine Werte haben. Ginge diese Akzeptanz vielleicht auch anders rum? Alles mit “ …mus“ am Ende ob Humanismus, Katholizismus, Sozialismus usw. birgt, entsprechend verstanden, den Keim von Verbitterung in sich und kann zum Opium werden. Was nicht heißt, dass deeshalb alles schlecht ist. Das einfach mal als Anstoß zum Nachdenken.
@Horst Brandis,
Marx war’s, der es wusste…
Ein wichtiger Beitrag von Dennis Riehle. Vielen Dank dafür.
Schon unser Lenin Selig wußte: Religion ist Opium für das Volk.
Aber daß Ihr jetzt so auf den am Boden liegenden Grünen rumtrampelt, finde ich schäbig.