Bin ich ein Versuchslabor?

Unser Artikel unter der Überschrift „Demenz – aus der Welt des Vergessens“ vom 25. November hat ein zwiespältiges Echo hervorgerufen. Hier berichtet einer, der es aus seiner eigenen Krankengeschichte, aber auch aus ehrenamtlicher Arbeit, besser weiß: Was macht Demenz mit uns? Und wie reagieren wir auf Tests an Kranken?

Es ist ein zweischneidiges Schwert in der Diskussion über mögliche Medikamententests an derzeitigen Demenzkranken. Da ich als junger Mensch aufgrund bestimmter Konstellationen hohe Risikofaktoren einer dementiellen Erkrankung mitbringe, blicke ich vielleicht anders auf die Debatte als manch ein Altersgenosse und frage mich, wie ich mich entscheiden würde. Ähnlich wie bei meinem Ringen über das persönliche Ausfüllen des Organspendeausweises, so sehe ich die Notwendigkeit, dass Menschen geholfen werden kann – auch wenn ich keinen Nutzen mehr habe.

Neues Wissen über die Demenz, das mag dem Betroffenen nicht mehr zugutekommen, aber es ist im Augenblick die einzige Chance, valide Informationen für die wissenschaftliche Weiterentwicklung der Ursachenforschung und Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen zu gewinnen. Und doch bin ich kein Versuchslabor – das unterscheidet die aktuelle Fragestellung auch von der der Organspende. Die Testung an lebenden Menschen, es kommen schwierige Erinnerungen in die Köpfe. Gerade auch, wenn es die Psychiatrie betrifft, werden Gedanken an die unerträglichen Misshandlungen von Patienten wach, die manches Bild von der Behandlung seelisch Kranker noch bis heute prägen.

Ich kann den früheren Behindertenbeauftragten der Bundesregierung, Hüppe, bestens verstehen, wenn er von einem „Dammbruch“ spricht. Wie wird das mit anderen Erkrankungen sein, bei denen die Menschen ebenso zum Zeitpunkt des medizinischen Versuchs vielleicht nicht mehr in der Lage sind, einzuwilligen? Kann es wirklich ausreichen, hypothetisch für solch einen Test bereit zu sein und dies Jahre oder Jahrzehnte zuvor schriftlich zu erklären? Auch hier liegt die große Herausforderung des neuen Gesetzestextes: Wie kann gewährleistet werden, dass der Patient letztlich nur den Versuchen unterzogen wird, denen er einst zustimmte? Wie wenig haltbar die Formulierungen in solchen Vereinbarungen sind, zeigt das momentane Urteil des Bundesgerichtshofes über hunderttausende Patientenverfügungen, die plötzlich ungültig geworden sind. Wie kann hier Rechtssicherheit gewährt werden? Wie wird garantiert, dass eine fachkundige Aufklärung und ein entsprechend medizinischer und psychologischer Beistand bei der Erklärung über solch eine Teilnahme an Tests gewahrt bleibt? Und wie sicher ist es, dass unter solchen Versuchen nicht auch menschenunwürdige Bedingungen, Nebenwirkungen oder sonstige Reaktionen eintreten, die wir nicht mehr für ethisch vertretbar ansehen?

Artikel 1 gilt für alle

Es sind noch viele Details ungeklärt. Die Abwägung der menschlichen Integrität eines Einzelnen und eines Gewinns für Viele mag auf den ersten Blick leicht fallen. Kürzlich erst diskutierte Deutschland, wie es urteilen würde, wenn ein Pilot ein Flugzeug abschießen würde, das Entführer in die Richtung eines voll besetzten Stadions lenkte. Angeblich würde sich die Nation hier für das Leben der Mehrheit einsetzen und die der Minderheit einfach aufgeben. Doch so kann unsere Moral, unsere Justiz und auch unser Gewissen nicht argumentieren.

Artikel 1 des Grundgesetzes sieht die Menschenwürde für jedes Individuum als unantastbar an. Wahrscheinlich auch, wenn dadurch viele Andere einen Nachteil haben. Ein Fundament in unserem Rechtsstaat ist auch das von Verhältnismäßigkeit. Natürlich winkt die Aussicht auf Heilung für die Nachwelt. Doch ist dieser Mehrnutzen tatsächlich schwerwiegender als die Unversehrtheit des Demenzkranken von heute, der eben auch einen Anspruch darauf hat, dass ihm nicht zusätzliches Leid zugefügt wird? Das Bestreben nach Linderung von Alterserkrankungen, ich bin mir nicht immer sicher, ob hinter dem Engagement allein auch dieser Zweck steht.

Ist es tatsächlich ausschließlich ein eventueller Nutzen für die Betroffenen der nächsten Generation – oder nicht auch für manches Pharmaunternehmen, für den Gewinn der Forschungsanstalten und das Selbstbewusstsein hierfür ausgewählter Wissenschaftler? Steckt hinter diesem Drang, unseren Körper, unseren Geist, die Existenz im Gesamten, immer weiter zu „transformieren“, zum perfekten Menschen, denn wirklich Selbstlosigkeit – oder nicht auch der Profit für Wenige?

Vielleicht kranken wir gar nicht an dieser Demenz, sondern daran, dass wir es nicht akzeptieren können, als Lebewesen auch vergänglich zu sein. Für niemanden ist es eine schöne Erfahrung, die Symptome dieser unheilbaren Störung durchleben zu müssen. Gehört aber nicht genau das zu unserem Leben, die Herausforderung der verschiedensten Tiefen in unserer persönlichen Biografie? Die Perspektive auf die möglichen Erfolge im Kampf gegen die Demenz, können sie tatsächlich rechtfertigen, dass wir uns am lebenden Objekt mit Arzneimitteln ausprobieren?

Ich erinnere mich, wie groß der Aufschrei war, als bekannt wurde, dass in Tübingen an Affen weiterhin Versuche unternommen würden, Tierschützer klagten die Verantwortlichen öffentlich an. Ist es nicht nachvollziehbar, dass nun die Lebensschützer gleichfalls protestieren? Man könnte entgegenhalten, ob meine Meinung dieselbe wäre, wenn es um Krebs ginge. Ich weiß es nicht. Und ich bin froh, dass sich die Frage derzeitig nicht stellt. Aber ich weiß im Moment, dass ich das Menschsein vielleicht ganz anders verstehe als die scheinbare Mehrheitsbevölkerung. Nicht als Zufallsprodukt einer Evolution, das sich nun selbst helfen muss, um einen Idealzustand in völliger Vollkommenheit zu erreichen, um die Fehler der Natur in ihrem Prozess der vergangenen Millionen Jahre wettzumachen. Annahme ist für mich keinesfalls eine Unterwerfung, im Gegenteil. Aus vielen Erfahrungen mit schwerer Krankheit und Behinderung weiß ich: Nehme ich mein Leben auch mit den Hindernissen an, die mir gelegt sind, dann habe ich tatsächlich die Chance, mich zu beweisen. Und vor allem wachse ich dabei. Ich spüre Ecken und Kanten – und im Zweifel eben auch eine dementielle Erkrankung.

Vielleicht ist es auch von Bedeutung, welchen Eindruck wir von diesem Krankheitsbild haben, das offenbar noch immer große Angst auslöst. Wer Menschen mit Demenzen begleitet hat, der wird eines Besseren belehrt. Ja, es ist nicht nur tragisch, sondern oftmals auch kaum zu ertragen, was aus fitten Personen wird, die plötzlich um Worte ringen, ihre Motorik verändern und in ihrem Wesen völlig gegensätzlich zu ihrer ursprünglichen Art gereizt werden oder sich einfach nur gehen lassen. Doch wie wunderbar ist das Lachen mit ihnen, über alte Zeiten, die oftmals noch lange im Gedächtnis sind. Oder auch die Selbstironie über die eigenen Defizite.

Freude am Alltäglichen

Da gibt es Freude an diesen kleinen Dingen des Alltäglichen, die die Meisten bei all den „Smartphones“ nicht erst entdecken würden. Und da gibt es auch Traurigkeit, weil die Depression als ein Symptom die Stimmung drückt – nicht selten im Unterbewusstsein das Wissen um den eigenen Verfall. Doch wie stark wird in diesen Augenblicken das Miteinander, ob mit einer Pflegeperson, mit den Angehörigen und Freunden, mit Fremden. Da wachsen neue Emotionen, eine ganz andere Seite des Menschen, die man noch nie kannte – und auch tiefe Bindungen, die dabei helfen, mit der Zeit Abschied zu nehmen.

Nicht wenige Menschen berichten mir in meiner ehrenamtlichen Arbeit dann aber, dass es vor allem diese Jahre waren, die das eigentliche Leben ausgemacht haben. Denn es waren Jahre, die zwischenmenschlich intensiv gewesen sind. Buntes und eben auch Blasses, aber genau so, wie man sich unser irdisches Dasein vorstellt. Demenz ist eine wirklich große Anstrengung für alle Seiten – aber sie ist nicht allein das, was uns oftmals medial und in der Öffentlichkeit vermittelt wird.

Jedem von uns stellt sich entsprechend die verantwortungsvolle Fähigkeit anheim, selbst zu beurteilen: Überschreite ich gegebenenfalls doch eher die Grenzen der Ethik, um nach einer potenziellen Behandlung für Demenzpatienten suchen zu dürfen? Oder respektiere ich die Würde derjenigen, die dafür im Zweifel hinhalten müssten – mit der Folge, dass ich vielleicht auch in Zukunft nicht derart helfen kann, wie ich mir das erträume? Möglicherweise vertraue ich aber auch darauf, dass sich irgendwann die Gelegenheit ergibt, ohne den Test am lebenden Menschen die Erkenntnisse zu gewinnen, die ich letztlich brauchen würde.

Hoffnung bedarf es auch jetzt, nachdem der Bundestag entschieden hat, dass Klarheiten geschaffen werden, dass verbindliche Erklärungen für diejenigen ermöglicht werden, die sich im gesunden Zustand darauf einlassen möchten, bei einer Demenz für die Forschung einzutreten. Aufklärung und Begleitung sind wesentlich, um diesen heiklen Prozess so rechtssicher wie nur denkbar zu gestalten – und Verlässlichkeit in Zeiten, in denen es schwieriger wird, auf Verfügungen überzeugt zu bauen …

Dennis Riehle