„Bitten Sie Frau Merkel um eine kleine Spende“

seemoz-Athen-ZahnarztArmut ist anonym – wir sehen gerne weg, wenn wir Bettler an Straßenecken oder Schulkinder in der Mittagspause treffen, die sich kein Mittagessen leisten können. In Griechenland ist das anders: Dort geht man ungehemmt mit Armut um, denn die kann jeden treffen. Aber jeder kann auch jedem helfen – Solidarität ist neuerdings erste Bürgerpflicht: Eine Reportage aus einer Athener Solidarklinik, in der Ärzte und Apotheker kostenlos behandeln 

Die Graffiti im Behandlungszimmer ist nicht die einzige Besonderheit in dieser Klinik. „Gesundheit ist Menschenrecht“ hat jemand über die Behandlungsliege gesprayt – ganz diesem Motto folgen die knapp 50 Ärzte, die in einem altertümlichen Bürohaus in der Athener Innenstadt die „Athener soziale Solidaritätsklinik und Apotheke“ managen. Gratis Behandlung, genossenschaftlich organisiert.

seemoz-Athen-GynäkologeFrauenarzt Giorgos Aristopoulos hat sein gutes Deutsch in einem Dortmunder Krankenhaus gelernt; seit seiner Pensionierung arbeitet er für „Solidarity4all“, die alle 12 Athener Solidarkliniken betreibt. Einen Nachmittag pro Woche behandelt und berät er kostenlos vor allem Schwangere – Patientinnen, die wie drei Millionen anderer GriechInnen aus der staatlichen Krankenkasse ausgeschlossen wurden, weil sie die Beiträge schuldig bleiben mussten und jetzt jede Behandlung, jede Beratung bis hin zur Entbindung vorab und cash bezahlen müssen. Was sie regelmäßig nicht können.

30 Sozialkliniken mit kostenloser Behandlung

„Ohne unsere Sozialkliniken“, weiß Giorgos Chondros von der Linkspartei Syriza, der uns begleitet, „wären diese Frauen, aber auch viele chronisch Kranken, hilflos“. Ein Dutzend solcher  Kliniken finanziert „Solidarity4all“ allein in der griechischen Hauptstadt, mehr als doppelt so viele im Norden rund um Thessaloniki, der zweitgrößten Stadt des Landes.

seemoz-Athen-Apotheke‚Klinik‘ ist schamlos übertrieben. Gerade mal zwei Büros auf zwei Stockwerken mit insgesamt 140 qm sind für 700 Euro pro Monat angemietet – drei Behandlungsräume für Ärzte und Zahnärzte, eine Rezeption, in der sich schon mittags 30 Menschen auf 20 Quadratmetern und bis hinaus ins Treppenhaus drängen, eine gänzlich überfüllte Apotheke: Voll gestopft mit Medikamenten und medizinischen Geräten, gespendet aus ganz Europa.

Preise oben – Löhne unten: Mieten wie auch andere Verbraucherpreise liegen mindestens auf mitteleuropäischen Niveau, häufig auch darüber, während die Monatslöhne in Griechenland mittlerweile bei durchschnittlich 500 Euro stagnieren, ein Lehrer z. B. verdient 800 Euro pro Monat: Milch im Supermarkt kostet 1,60, Obst genau soviel wie hierzulande, ein Liter Sprit sogar 1,70, das U-Bahn-Billett in Athen 2,10. Ein Restaurantessen auch auf dem Land ist nicht unter 10 € zu haben, eine Übernachtung im Doppelzimmer selten unter 80 Euro.

Gynäkologe Aristopoulos freut sich über ein Ultraschallgerät, das eine Initiative vom Bodensee gespendet hat. „Nur Sonden zur Schwangeschafts-und Herzuntersuchung fehlen noch. Aber die  beschaffen wir mit Hilfe der deutschen Freunde auch noch“. Mittlerweile ist ein zweites Gerät vom Bodensee nach Athen auf dem Weg – Ärzte aus dem Hegau, zusammen geschlossen im „Gesundheitsnetz Hegau e.V.“ (GNH), organisieren Anschaffung und Transport, eine Bürger-Initiative sammelt Spenden.

Besonders Gewerkschaften sind hilfreich. Die Ärzte der Sozialklinik berichten von Betriebsgruppen aus Graz und Innsbruck, die Delegationen von Fachleuten schickten, den Bedarf vor Ort zu analysieren und um dann von Zuhause aus gezielt helfen zu können. „Solche gewerkschaftliche  Hilfe würden wir uns auch aus Deutschland oder der Schweiz wünschen“.

Patienten-Zahlen steigen von Jahr zu Jahr

seemoz-Athen-VerwaltungschefinWie dringlich solche medizinische Hilfe ist, zeigt ein Blick auf die Statistik der kleinen Klinik, die Verwaltungschefin Lena Kugea präsentiert – auch die einstige Kleinunternehmerin, deren Firma pleite ging, arbeitet jetzt ehrenamtlich in der Solidarklinik. Während 2013 genau 3 917 Patienten behandelt wurden, sind es bis jetzt in 2014 schon 5 092, darunter fast 1 200 chronisch Kranke, glücklicherweise aber nur neun Notfälle. Und auch Flüchtlinge, deren Status in Griechenland unsicherer noch als anderswo ist, werden betreut – allein fast 900 AusländerInnen aus 21 Staaten suchten in diesem Jahr schon Hilfe in den zur Klinik umgebauten Büroräumen.

Zu denen zählt auch eine Apotheke, professionell von einer einst im Staatsdienst beschäftigten Pharmakologin betreut. In dem 15 Quadratmeter großen Raum stapeln sich Tuben, Päckchen und Spritzen bis unter die Decke, darunter auch Medikamente, die hierzulande ohne Rezept nicht über den Ladentisch gingen, in Griechenland der laxeren Gesetzgebung wegen aber problemlos verteilt werden dürfen. Allesamt Spenden aus ganz Europa, die kostenlos an die Bedürftigen abgegeben werden.

Doktor Sokratis ist sauer auf Frau Merkel

Der freundliche, weißhaarige Herr betrieb früher eine lukrative Privatklinik für Kieferchirurgie. Heute, immer noch keines linken Gedankenguts verdächtig, betreut er mit 19 Zahnarzt-Kollegen über 2 000 Patienten in dem kleinen, aber modern ausgerüsteten Behandlungszimmer. Sokratis Petropoulos hält jedem Besucher eine Sammelbüchse unter die Nase: „Wenn Sie Frau Merkel treffen, bitten Sie sie um eine kleine Spende“. Doktor Sokratis, der wahrlich nicht zu den Armen im Land zählt, kann sich jedes Mal ereifern, wenn die Rede auf die Politik von EU und EZB kommt: „Wir Griechen werden versklavt, während die Vermögenden im Land und in Europa ungestraft davon kommen“.

Doch Vorbehalte gegen deutsche Besucher sind selten. Auch wenn der Kellner in der Plaka, dem Athener Altstadtviertel am Fuß der Akropolis, von einem deutschen Rentnerpaar berichtet, das die Zeche mit dem Hinweis verweigerte, der deutsche Steuerzahler habe doch schon alles bezahlt – die Griechen können unterscheiden zwischen deutschen Politikern und deutschen Besuchern, die vielleicht auch gerade jetzt der Solidarität wegen nach Griechenland reisen.

Als wir wieder auf die Straße treten, werden wir von wütenden Frauen umringt: Mehr als 1 000 Putzfrauen des Finanzministerium protestieren gegen ihre Entlassung – ihre Arbeitsplätze waren am Tag zuvor „ausgesourct“ worden. „Aber sie wehren sich. Das war nicht immer so“, ist Giorgos Chondros stolz, dessen Partei bei den Kommunalwahlen im Mai 11 von 20 Bürgermeister-Posten im Großraum Athen erobern und ihren Stimmenanteil in den zwei Jahren ihres Bestehens von vier auf 27 Prozent steigern konnte.

Text: Hans-Peter Koch, Fotos: Popi Melliou

seemoz-Athen-Wandmalererei

Weiterer Text zum Thema:

06.06.2014: Dankespost aus Griechenland

24.03.2014: Hilfe für Giorgos – Sorge um Kliniken

31.10.2013: Griechenland-Hilfe vom Bodensee braucht Hilfe