Bodo Ramelows Mut zur Demokratie

Bodo Ramelow hat Mut bewiesen: In einer unübersichtlichen Lage während der Corona-Krise entschied sich der Ministerpräsident zur „Flucht nach vorne“. Denn es war offensichtlich geworden, dass die Infektionszahlen in seinem Bundesland nicht mehr ausreichten, um die strengen Kontaktbestimmungen weiterhin zu rechtfertigen. Gerichte in ganz Deutschland haben die Politik immer wieder aufgefordert, fast tagesaktuell zu prüfen, ob die Regeln gegen das Virus noch Bestand haben können.

„Den Leuten reicht’s …“

Ein wesentliches Element unseres Rechtsstaats ist die Verhältnismäßigkeit. Auch in Thüringen muss diese ständige Abwägung getroffen werden, um die massiven Freiheitbeschränkungen gegenüber den Bürgern noch legitimieren zu können. Ramelow sah offenbar die immer größer werdende Unruhe in der Bevölkerung, die sich nicht nur auf zwiespältigen Demonstrationen Ausdruck verschaffte. Der „Lagerkoller“ der Menschen ist greifbar geworden, die Deutschen sind der Maßnahmen überdrüssig.

So erlebe es sicher nicht nur ich, sondern auch die vielen Eltern, die am Ende ihrer Kräfte sind, was die Vereinbarung von „Home-Office“ und „Home-Schooling“ angeht. Es sind die Privatpersonen, die endlich wieder uneingeschränkt den Biergarten besuchen wollen, ohne sich davor mit Kontaktdaten registrieren zu müssen. Es sind die Sportler, die ihrer Freizeit und dem Beruf auf dem Rasen nachgehen wollen, ohne die ständigen Gewissensbisse, ob sie ansteckend sein könnten. Und wir alle haben irgendwie das Gefühl, dass die Schutzmaske nicht zu uns gehört. Das Fremde in unserem Gesicht, es stört und schwächt den sozialen Kontakt, man kann kaum atmen und die Unpersönlichkeit zwischen den Menschen wächst sich zu einem chronischen „Distancing“ aus, das unserer Gesellschaft nicht guttut.

Der mündige Bürger agiert (großteils) rational

Auch Bodo Ramelow scheint mit seinem Vorpreschen nicht glücklich, aber er sieht sich wie ein Getriebener der Bevölkerung, in der momentan die Stimmung zu kippen droht. Trotz Warnungen vor einer zweiten Infektionswelle müssen wir uns verdeutlichen, dass die Demokratie auch in einer Ausnahmesituation nicht grenzenlos belastbar ist. Wir sind mittlerweile geübter im Umgang mit der Krankheit, daher halte ich es für vertretbar und notwendig, dass wir einen Großteil der Zuständigkeit vom Staat zurück auf den Einzelnen übertragen.

Es wird stets Menschen geben, die unvernünftig handeln. Doch können und sollen wir wegen ihnen unser aller Freiheit bis aufs Äußerste beschränken? Wir dürfen unser Leben nicht von denen abhängig machen, die aus Dummheit und Unwissenheit gegen die Vorgaben verstoßen. Ich wünsche mir, dass wir gerade jetzt zusammenhalten und Weitsicht im Umgang mit der Epidemie zeigen. Das bedeutet für mich, denjenigen, die umsichtig mit ihren wiedergewonnenen Rechten agieren, mit neuer Freiheit zu belohnen. Und alle die, die Solidarität vermissen lassen und respektlos gegenüber sich und den vielen Risikopatienten handeln, konsequent mit den Mitteln des Ordnungsrechts zu bestrafen.

Der Rückzug des Staates ist notwendig!

Dann ist es vertretbar, dass die Menschen in Eigenverantwortung entlassen werden, die in diesen Tagen mehr denn je von allen erwartet wird. Bodo Ramelow zeigt sich feinfühlig im Einschätzen der Situation. Er vertraut der Mehrheit seiner Bürger und will sie nicht für die Ignoranz der wenigen Ausreißer in Geiselhaft nehmen. Die harsche Kritik an seinem Vorgehen kann ich nicht verstehen, denn wir dürfen die Allmacht des Staates nicht endlos reizen. Das Volk ist der Souverän. Ihm allzu lange die Grundfeste zu nehmen, die unsere Verfassung ausmachen, ist gefährlich.

Denn wir müssen unbedingt verhindern, dass die „Wutbürger“ auf den Straßen noch mehr Nahrung für manch widersinnigen Protest erhalten. Der Vorwurf, wir seien auf dem Weg in Diktatur und Autokratie, darf nicht länger untermauert werden. Die Bewährungsprobe für eine freiheitliche Gesellschaft ist heute. Wir können sie schaffen, wenn wir Thüringens Beispiel folgen. Jeder von uns ist gefordert, auf die eigene Gesundheit zu achten – und Fürsorge mit den Nächsten zu leisten. Das Zeitalter größtmöglicher Achtsamkeit beginnt. Schaffen wir den Sprung?

Dennis Riehle